Am 18. und 19. November tagte in Bern die internationale Konferenz „The Role of Experts in Dealing with the Past“. Experten und Expertinnen wird in Konflikten oft eine deeskalierende, neutrale Rolle zugeschrieben, die sie besonders geeignet zur Ausführung und Konzeptualisierung von transitional justice und Vergangenheitsbewältigung macht. Dabei wird oft ausgeblendet, dass diese eine hidden agenda haben können, die die epistemologischen Voraussetzungen ihres Expertenwissens beeinflusst. Zudem ist umstritten, ob es einen einheitlichen Diskurs über die Ziele von transitional justice gebe1 und da es sich oft um transnationale Bemühungen handelt, stellt sich auch die Frage nach der Rolle von kulturellen Differenzen. Schliesslich fragt sich, welche Rolle Historiker und Historikerinnen in diesen Prozessen haben, ob sie sich eignen, um vor Gericht auszusagen und welches Gewicht ihre Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung haben sollen und können.
Nach einer Begrüssung durch THOMAS SPÄTH vom Center for Global Studies und einer Einführung in die Thematik von REGULA LUDI, in der das Ziel der Verknüpfung von Wissenschaft und ausseruniversitärer Erfahrungen unterstrichen wurde, widmete sich das erste Panel der Konstitution von Experten. Unter der Leitung von Regula Ludi beleuchtete zunächst CASPAR HIRSCHI die allgemeine Konstitution von Experten im 18. Jahrhundert in Frankreich, wo der Begriff „expert“ vorwiegend im Zusammenhang mit Zeugenaussagen vor Gericht verwendet wurde und ein guter Experte Unvoreingenommenheit und Kompetenz verbinden musste. Von seiner eigenen Tätigkeit als historischer Experte sprach LUTZ NIETHAMMER, wobei er ein Mandat als Experte bei der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit des Konzentrationslagers Buchenwald, ein Mandat bei der historischen Untersuchung der Verantwortung von Jenapharm für das Doping von DDR-Spitzensportler und –sportlerinnen und das Mandat in der Vergangenheitsbewältigung der Zwangsarbeit von Fremdarbeitern und Fremdarbeiterinnen in der Industrie von Nazideutschland verglich. Als Experte war er gefragt, weil er keine spezifischen Forschungen zu diesen Themen gemacht und noch nichts dazu publiziert hatte und deshalb das zu erwartende Resultat als offen und er selbst als unvoreingenommen gelten konnte. Gleichzeitig waren eine ethische Haltung, Erfahrungen mit Medien und Politik sowie kulturelle Übersetzungsarbeit wichtige Voraussetzungen um die Mandate erfolgreich zu bestreiten. Die Präsentation des dritten Papers von DEBORAH POSEL konnte nicht stattfinden.
Das zweite Panel war unter der Leitung von Frank Haldemann der Bedeutung und der Wirkung des Expertenwissens im Prozess der Vergangenheitsbewältigung gewidmet. JOSE ZALAQUETT ging auf die Rolle der Juristen innerhalb dieses Prozesses ein. Die Bedeutung der Juristen bezüglich der Normsetzung auf der innerstaatlichen Ebene konkretisierte Zalaquett mit Fallbeispielen aus Chile, Ungarn und Südafrika und führte aus, inwiefern dieser Prozess mit internationaler Rechtsprechung verbunden ist. Hier spielt besonders die transitional justice eine Rolle, bei der sozial- und geisteswissenschaftliche Experten und verschiedene NGOs aktiv beteiligt sind.
Der Beitrag von CAROLE SACHSE handelte von der Bedeutung des Expertenwissens bezüglich der öffentlichen Entschuldigung bei der Vergangenheitsbewältigung von nationalsozialistischen medizinischen Verbrechen im Umfeld der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem Vorläufer des Max-Planck-Instituts. Sachse ging auf die Forschungsprojekte ein, die das Verhältnis der Max-Planck-Gesellschaft mit ihrer NS-Vergangenheit historisch aufgearbeitet haben. Die personelle Verbindung zur NS-Vergangenheit und die Ereignisse seien aus verschiedenen Perspektiven analysiert worden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hat dazu geführt, dass gesetzliche Grundlagen für den Umgang mit der Wissenschaft bezüglich der Experimente an Menschen erarbeitet wurden. Die Rekonstruktionsarbeit der Historiker und Historikerinnen hat innerhalb der biomedizinischen Wissenschaft zu einer kritischen Haltung gegenüber der „Eugenik“ geführt.
STEPHAN SCHEUZGER bewertete die Funktion der Wahrheitskommissionen am Beispiel von Südafrika als ein wichtiges Instrument der Vergangenheitsbewältigung. Die Wahrheitskommission in Südafrika wurde zur Aufarbeitung des Apartheid-Regimes eingerichtet und war in einem transnationalen Netzwerk von NGOs etabliert. An der Arbeit der Wahrheitskommission lässt sich der Transfer von Wissen, der durch die Globalisierung möglich wurde, verfolgen. Der Gründung einer Wahrheitskommission in Südafrika sind solche in Lateinamerika vorausgegangen. Das Expertenwissen hat dazu beigetragen, dass transitional justice professionalisiert wurde. Dabei ist der international ausgerichtete Charakter der Wahrheitskommissionen ein wichtiger Motor bei der Kanonisierung von Wissen über Vergangenheit. So gesehen sind die Wahrheitskommissionen wichtige Instrumente für die Vergangenheitsbewältigung.
Das dritte Panel diskutierte unter der Leitung von Regula Ludi Modalitäten der Wissensproduktion und der Einfluss von Experten und Expertinnen auf die historische Interpretation. MICHAEL MARRUS untersuchte in einem ersten Paper die Frage, was doing justice to the past sei und mit welchem juristischen Konzept man der Vergangenheit gerecht wird. Diesen Fragen ging er unter dem juristischen Aspekt nach. Im Eichmannprozess sowie in den Nürnberger- und den Schadenersatzprozessen der 1990er Jahre sah er drei Paradigmen bei der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Während bei den Nürnbergprozessen historische Dokumente wichtige Mittel der Untersuchung waren, hatten beim Eichmannprozess die Zeugenaussagen der Opfer eine zentrale Rolle gespielt. Erst in den Schadenersatzprozessen kam das Expertenwissen in Frage, um aufzuklären, wie Industrien, Grossbanken und internationale Institutionen in den Holocaust involviert waren. Bei diesen Paradigmen handelt es sich um verschiedene juristische Mechanismen, Geschichte zu produzieren und mit „Repräsentanten“ der Vergangenheit zu handeln. Dieser juristische Approach der Geschichte zielt jedoch nicht darauf, reale Vergangenheit zu rekonstruieren, was das Hauptanliegen der Opfer war.
RICHARD A. WILSON stellte seine Forschungsergebnisse zur Beteiligung von Historikern und Historikerinnen als Zeugen vor Internationalen Gerichtshöfen vor. Historikerinnen und Historiker sind wichtig bei der Rechtsprechung, um zu verstehen, in welchen historischen Zusammenhang Aussagen vor Gericht gestellt werden können und damit das Verbrechen in einem Narrativ zu situieren. Besonders wichtig war der historische Hintergrund, um im Internationalen Strafgerichtshof zum Jugoslawienkrieg bei den Tätern eine spezielle Absicht (special intent) auszumachen und ihnen somit den Tatbestand des Völkermords nachweisen zu können. Die Spannung zwischen der Funktionsweise von Justiz und derjenigen von Geschichtswissenschaft, macht den Auftritt von Historikern und Historikerinnen vor Gericht jedoch problematisch.
Der dritte Beitrag zu diesem Panel kam von ELAZAR BARKAN und beschäftigte sich mit der Frage, welche Funktion die Aufarbeitung der Geschichte bei der Bewältigung von Konflikten haben kann. Dabei stellte er fest, dass das gemeinsame Erarbeiten und Aushandeln von Geschichte zu einem individuell besseren Verständnis der gegnerischen Position führen kann und sich insbesondere für die Aufarbeitung von Lokalgeschichte eignet. Gleichzeitig produziert eine solche Geschichtsschreibung bessere Narrative von allen Konfliktseiten und kann damit den nationalistischen Diskurs ändern. Am Beispiel der Aufarbeitung des armenisch-türkischen Konflikts zeigte er, wie ein solcher nationalistischer Diskurs trotz heftiger Kontroversen herausgefordert wird und wie seitens der Bevölkerung eine passive Entschuldigung geleistet wird. An diesem Fall wird ersichtlich, dass Geschichtswissenschaft notwendig ist, um Konflikte zu lösen.
Das vierte und letzte Panel beschäftigte sich unter der Leitung von Stephan Scheuzger mit Expertenwissen, Wissenstransfer und dem Auftauchen von globalen Epistemen. Zum Stand der Diskussion in der transitional justice sprach PABLO DE GREIFF. Er versteht transitional justice als konsolidiertes Feld, das zwar insbesondere dank der internationalen Geldgeber und Geldgeberinnen globale Dimensionen annimmt, aber vor verschiedenen Herausforderungen steht, insbesondere der Aufgabe seine Wirksamkeit zu zeigen und der zunehmenden Bedeutung der Ökonomie gegenüber der Justiz sowie der zunehmenden Fragmentierung des Felds durch die immer zahlreicheren Aufgaben. Grundlegende gemeinsame Ziele sind die Anerkennung der Opfer und die Wiederherstellung von Vertrauen in Justiz und Staat.
FRANK HALDEMANN unterzieht die aktuellen Tendenzen in den Debatten über transitional justice einem kritischen Blick, insbesondere maximalistische Anforderungen, die Idealisierung, die Normalisierung und der universalistische Anspruch, der den lokalen kulturellen Kontext vernachlässigt. Dagegen schlägt er eine philosophia minor vor, die sich aus den Elementen moralischer Kompromiss, negative Moral im Sinne der Frage, was nicht so sein soll und eine minimale Bescheidenheit mit der Forderung nach Vermeidung von untolerierbarem Leiden zusammensetzt. Die Perspektive der transitional justice würde sich damit auf das Leiden der Opfer wenden und wäre kritisch gegenüber Utopien.
Zum Abschluss des vierten Panels und der Tagung präsentierte BRIONY JONES ihre Untersuchung des Brčko-Distrikts in Bosnien-Herzegowina, das in der internationalen Gemeinschaft als Beispiel für eine gelungene Aussöhnung gilt, insbesondere weil viele ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner zurückgekehrt sind und die Koexistenz verschiedener Ethnien möglich ist. Allerdings sind die Einwohnerinnen und Einwohner des Brčko-Distrikt nur bedingt dieser Meinung und hinterfragen die verschiedenen Ausgleichsysteme zwischen den Ethnien, wenn etwa das multiethnische Schulsystem verlangt, dass schlechtere dreisprachige Schulbücher benutzt werden müssen, obwohl es bessere einsprachige Lehrmittel gäbe.
1 Christine Bell: Transitional Justice, Interdisciplinarity and the State of the ‘Field’ or ‘Non-Field’, in: The International Journal of Transitional Justice 3, 1 (2009), 5-27.
Konferenzübersicht:
Begrüssung durch Thomas Späth (Bern)
Einführung durch Regula Ludi (Bern und Zürich)
Panel 1: The Constitution of Experts
Chair: Regula Ludi (Bern und Zürich)
Caspar Hirschi (Zürich): How to combine Competence and Impartiality? ON the Early Organization of Officail Expertise
Lutz Niethammer (Jena): Three Ways of Becoming an Historical Expert: Experiences and Observations
Deborah Posel (Cape Town): Expertise and Authority in the South African Truth and Reconciliation Commission
Panel 2: The Significance and Impact of Expertise in Processes of Dealing with the Past
Chair: Frank Haldemann (Genf)
José Zalaquett (Santiago de Chile): The Role of the Legal Profession in Dealing with the Past
Stephan Scheuzger (Zürich): From Transfer to Canonization of Knowledge? Expertise and Truth Commissions
Carola Sachse (Wien): The Meaning of Apology: the Survivors of Nazi Medical Crimes and the Max Planck Society
Panel 3: Modalities of Knowledge Production and the Impact of Experts on Historical Interpretation
Chair: Regula Ludi (Bern und Zürich)
Michael Marrus (Torronto): Doing Justice to the Nazi Past: Three Paradigms for Contending with Historic Wrongs
Richard A. Wilson (Connecticut): Historians as Expert Witnesses in the International Criminal Courtroom
Elazar Barkan (New York): History and Conflict Resolution: Experts as Civil Society Advocates
Panel 4: Expertise, Knowledge Transfer and the Emergence of Global Epistemes
Chair: Stephan Scheuzger
Pablo de Greiff (New York): Theorizing Transitional Justice – and Why It Matters, Practically
Frank Haldemann (Genf): The Expterism Trap: Critical Reflections on the Normalization of Transitional Justice Discourse
Briony Jones (Bern): Brčko District, Bosnia-Herzegovina as a Model of ‚Success’: Iterrogating Expertise, Agency and Resistance