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Panelbericht: Nicht nur Pulver, Rauch und Tod, sondern auch Hunger, Schnee und Krankheit: Zur Umweltgeschichte des Ersten Weltkrieges 1914-1919

Autor / Autorin des Berichts: 
Nathalie Grunder
nathalie.grunder@unibe.ch
Universität Bern

Zitierweise: Grunder, Nathalie: Panelbericht: Nicht nur Pulver, Rauch und Tod, sondern auch Hunger, Schnee und Krankheit: Zur Umweltgeschichte des Ersten Weltkrieges 1914-1919, infoclio.ch-Tagungsberichte, 15.07.2022. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0253>, Stand: 07.11.2024.

Verantwortung: Daniel Marc Segesser
Referierende: Sandra Feuz / Clotilde Faas / Wolfgang Weber
Kommentar: Daniel Marc Segesser

PDF-Version des Berichts

Das Panel habe eine besondere Entstehungsgeschichte, meinte DANIEL MARC SEGESSER (Bern) zu Beginn der Präsentationen. Die Idee dazu sei im Zuge eines Seminars im Frühjahrssemester 2021 am Historischen Institut der Universität Bern unter seiner Leitung aufgekommen, bei dem es um die Sozial-, Kultur- und Umweltgeschichte des Ersten Weltkrieges gegangen sei und aus dem viele spannende Projekte entstanden seien. Der Erste Weltkrieg war insbesondere zwischen 2014 und 2018 ein in der Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema. Die Frage, was es dazu denn noch zu erforschen gäbe, sei deshalb eine oft gestellte. Dabei stellten gerade die umweltgeschichtlichen Aspekte des Ersten Weltkrieges ein bislang kaum beachtetes Forschungsfeld dar und böten viele interessante Anknüpfungspunkte und Erweiterungen an bestehende Erkenntnisse. Im folgenden Panel referierten die Panelistinnen und Panelisten über die Gemeinde Grindelwald, die Auswirkungen von Klimakrisen auf das Alltagsleben von Frauen und über die Spanische Grippe links und rechts des Rheins (Schweiz/Österreich). Gemeinsam war ihnen dabei die Verbindung von Mikro- und Makrogeschichte in ihren jeweiligen Forschungsprojekten.

SANDRA FEUZ (Bern) untersucht für ihr Masterarbeitsprojekt die Gemeinde Grindelwald und die Auswirkungen der Nahrungsmittelknappheit auf die Bergregion während des Ersten Weltkrieges. Grindelwald sei um 1900 eine Gemeinde mit kleinräumiger Struktur gewesen, die aber auch sehr touristisch geprägt gewesen sei. Feuz beleuchtete während ihres Referates insbesondere drei Aspekte ihres Themas: den Pflanzenanbau, die Viehwirtschaft und als Exkurs die Einführung der Käsekarte (Rationierung). In Grindelwald habe die Viehwirtschaft im Vordergrund gestanden. Milch- und Käseproduktion bildeten dabei neben dem Tourismus die ertragsreichsten Wirtschaftszweige der Bergregion. Die Produktion sei jedoch dadurch auch stark abhängig von ausländischen Importen bei Getreide und Futtermittel gewesen, die während des Ersten Weltkrieges zunehmend wegfielen. Erst ab 1917 hätten staatlich angeordnete Rationierungsmassnahmen und die zunehmenden Anstrengungen der Behörden dazu geführt, dass die Bevölkerung zu vermehrtem Getreideanbau animiert wurde. Die naturräumlichen Gegebenheiten seien jedoch für eine Steigerung des Ackerbaus nicht geeignet gewesen. Zudem habe die Einführung der sogenannten Käsekarte im Sommer 1918 einen Konflikt zwischen Stadt und Land ausgelöst. Die Produktion von Käse sei für die Gemeinde Grindelwald von grosser Bedeutung gewesen, weshalb eine Rationierung ihres eigenen Käses keine gangbare Option für die Bevölkerung dargestellt habe.

Mit ihrem Referat konnte Sandra Feuz aufzeigen, wie auch eine kleinräumige und vermeintlich abgeschnittene Gemeinde trans- und international verflochten war. Der Erste Weltkrieg stellte auch für Grindelwald eine grosse Zäsur dar und zeige die Abhängigkeiten vom Ausland in aller Deutlichkeit auf.

CLOTILDE FAAS (Neuchâtel) beleuchtete den Aspekt der Klima- und Frauengeschichte, indem sie die Auswirkungen von Klimakrisen auf das Alltagsleben von Frauen und ihre politische Mobilisierung während des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918/19 in Deutschland darstellte. Das Forschungsvorhaben geht von der Annahme aus, dass vor allem Frauen von Lebensmittelkrisen betroffen seien. In Krisenzeiten mit grossen Nahrungsmittelknappheiten, in denen zudem grosse soziale Umwälzungen stattfänden, entstehe für die revolutionären Frauen eine Dreifachbelastung: Sie müssten sich um die Arbeit in der Fabrik, den Haushalt und um ihre aktive Beteiligung an Revolutionen kümmern. Bei ihrer Untersuchung grenzt sich Clotilde Faas von den historiographischen Ansätzen ab, die Frauen oft als unpolitische Akteurinnen ansehen würden. Während der «endlosen Blockade» (8 Monate), die von den Alliierten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aufrechterhalten wurde, verschlechterte sich die Ernährungssituation in Deutschland in einem Ausmass, welches auch die vorangehenden Kriegsjahre überschritt. In die Unruhen und Aufstände vom November 1918 mischten sich laut Clotilde Faas so auch Frauen ein, weil sie durch die grosse Hungersnot politisiert worden seien.

Das Projekt nimmt sich einem bisher marginalisierten Themenbereich an und thematisiert mögliche Gründe für eine politische Mobilisierung von Frauen und wie sich Umweltereignisse auf ihr Alltagsleben auswirkten. Die schwierige Quellenlage zu Frauengeschichten ist dabei eine der grössten Herausforderungen.

WOLFGANG WEBER (Innsbruck) stellte in seinem Referat die Auswirkungen auf die Grenzwahrnehmung während der Spanischen Grippe 1918/19 in der Schweiz und Vorarlberg vor. Anhand verschiedener Unterkategorien führte er seine Überlegungen aus. Zunächst anhand der «Grenzziehungen», indem er darlegte, dass der Rhein für beide Regionen sowohl links als auch rechts des Flusses weder eine mentale noch eine reale Grenze darstellte, sondern dass beide Regionen vielmehr eng zusammenarbeiteten – auch um die Naturgewalt Rhein zu bändigen. Mit einem Abschnitt «Grenzüberschreitungen» zeigte Weber auf, welch fluide Bedeutung die Landesgrenzen für die Ortsbevölkerung hatten. Staatliche Barrieren gab es erst unter dem NS-Regime, doch selbst während dieser Zeit wurden die Grenzen gerade für die tägliche Arbeit ohne Einschränkungen überschritten. Unter der Bezeichnung «Grenzenlose Grippepandemie» legte er dar, wie ländliche Gebiete von der Grippepandemie der Jahre 1918/1919 betroffen waren und wie wenig Grenzschliessungen tatsächlich brachten. Insbesondere während der zweiten Welle im Herbst/Winter 1918 hätten republikanisch regierte Staaten (Schweiz) und Militärdiktaturen (Österreich) mit dem gleichen Massnahmenkatalog reagiert. Zuoberst stand insbesondere das Verbot von Massenveranstaltungen und die Schliessung öffentlich zugänglicher Orte. Mit seinem Referat vermochte Weber die staatspolitischen Grenzen regionalen Handelns aufzuzeigen.

Daniel Marc Segesser schloss die Referatsrunde mit einem kurzen Kommentar und Resümee. Er hob noch einmal die Chancen hervor, die sich durch eine umweltgeschichtliche Betrachtung des Ersten Weltkrieges und insbesondere durch die Verbindung von Mikro- und Makroebene böten. Bei allen Referentinnen und Referenten des Panels sei diese Verbindung klar ersichtlich gewesen.

In der anschliessenden Diskussion wurde unter anderem die Frage nach dem Quellenkorpus aufgeworfen, der zwar bei allen Referaten ein Thema war, sich jedoch insbesondere bei Clotilde Faas als herausfordernd darstellte, da Quellen von Frauen schwer zu finden sind. Faas berief sich dabei insbesondere auf Dokumente, die sie in einem Archiv der ehemaligen DDR gefunden habe, das Schriften über Revolutionen und kommunistischen Aktivismus gesammelt habe. Weitere Diskussionspunkte waren die politische Instrumentalisierung der Dreifachbelastung von Frauen gesprochen, sowie das Frauenbild, das in revolutionären Kreisen Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Sandra Feuz wurde gefragt, wie viele Menschen in Grindelwald tatsächlich im landwirtschaftlichen Sektor beschäftigt waren und welche Rolle die Kälbermast spielte. Sie antwortete, dass die Landwirtschaft in Grindelwald nicht für eine Selbstversorgung ausreichte und dass die Kälbermast zu keiner Zeit die hauptwirtschaftliche Betätigung der Grindelwalder Bevölkerung gewesen sei, da die Milch- und Käsewirtschaft eine viel wichtigere Rolle spielte.

Aus allen drei Referaten ging hervor, welche massgebende Rolle die transnationale Verflechtung auch für vermeintlich kleinräumige und abgegrenzte Gebiete spielte und inwiefern Mikro- und Makroebene miteinander verbunden werden müssen, um ein ganzheitliches Bild der Umweltgeschichte während des Ersten Weltkrieges zu erhalten. Das Potential, welches sich durch eine Verbindung von umweltgeschichtlichen Fragestellungen mit der Sozial- und Kulturgeschichte ergibt, ist bisher noch nicht ausgeschöpft worden und bietet somit viele neue interessante Forschungsimpulse.



Panelübersicht:

Sandra Feuz: «Glücklich kann sich gegenwärtig derjenige schätzen, der einen Stall voll Vieh besitzt!». Die Gemeinde Grindelwald und die Auswirkungen der Nahrungsmittelknappheit im Berggebiet der Schweiz während des Ersten Weltkrieges

Clotilde Faas: Klima- und Frauengeschichte: Die Auswirkungen von Klimakrisen auf das Alltagsleben von Frauen und ihre politische Mobilisierung während des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918/19

Wolfgang Weber: Links und Rechts des Rheins – mitten in der Pandemie: Die Spanische Grippe, die Schweiz und der Kanton Übrig 1918/19


Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.

Veranstaltung: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Veranstaltungsdatum: 
29.06.2022
Ort: 
Genf
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference