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Panel: Zwischen Individuen und Staat. Zur Konstruktion von Herrschaftsbeziehungen in der Sowjetunion / Entre individus et État. Construction des rapports de pouvoir en Union soviétique

Autor / Autorin des Berichts: 
Bettina Blatter, Universität Fribourg
bettina.blatter@unifr.ch


Zitierweise: Blatter, Bettina: Panel: Zwischen Individuen und Staat. Zur Konstruktion von Herrschaftsbeziehungen in der Sowjetunion / Entre individus et État. Construction des rapports de pouvoir en Union soviétique, infoclio.ch Tagungsberichte, 2016. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0111>, Stand:


Verantwortung: Magali Delaloye / Monica Rüthers
Referentinnen: Sandra Dahlke / Magali Delaloye / Monica Rüthers

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Brüche wie Terror, Krieg oder persönliche Schicksalsschläge in Zusammenhang mit der Sowjetunion sind typisch für viele Biografien der russischen Bevölkerung im 20. Jahrhundert. Die drei Vorträge des Panels gingen der Frage nach, inwiefern ein Individuum in der Sowjetunion existieren konnte und inwieweit Bezüge zur politischen Macht notwendig und unbewusst vorhanden waren. Wie wurde der Druck, dem man sich in einem System kaum entziehen kann, erlebt und verarbeitet? Inwiefern diente die Ästhetik als Fluchtraum und Ventil?

SANDRA DAHLKE zeigte am Beispiel des Bolschewisten Emeljan Jaroslavskij eindrücklich auf, welch extremem Druck sich Individuen in den 1930er Jahren unter Stalins Terror ausgesetzt sahen. Als Quellen für ihre Forschung verwendete Dahlke nicht nur Auszüge seines Tagebuchs und die Korrespondenz mit seiner Frau, sondern auch seine Reden innerhalb der Partei. Durch ständige, vehemente Selbstkontrolle versuchte Jaroslavskij, seine persönliche Parteitreue zu hinterfragen und sich durch genaues Analysieren seiner eigenen Tagebucheinträge ein Bild von sich selber und seiner Loyalität gegenüber der Partei zu machen. Er beobachtete seine eigene Stimmung eingehend und versuchte, eine allfällige Entfremdung von der Partei zu erkennen. Jaroslavskij war sich sehr wohl bewusst, dass er und seine Gesinnung beobachtet wurden, schliesslich hatte sich der Terror in den Jahren 1936 und 1937 auch gegen loyale Stalinanhänger gerichtet. Diese Geschehnisse forderten umso stärker radikale Methoden der Selbstüberprüfung und der Unterwerfung des Systems. Durch die ständige Selbstbeobachtung entstand mitunter das Gefühl extremer Vorsicht, der Selbstkontrolle und der Beklemmung, während die Parteimitglieder untereinander mit Argusaugen auf die unbedingte Loyalität des anderen achteten. Während Stalin das Zentrum eines ganzen Beziehungsgefüges war, beobachteten sich alle anderen gegenseitig.

Jaroslavskijs Karriere war eng mit dem Aufstieg Stalins verbunden: Er war einer der Chefideologen der Partei und mit seiner Arbeit im disziplinarischen Apparat eine wichtige Figur für die Festigung von Stalins Machtposition. Er bezichtigte (ehemalige) Parteigenossen verschiedener Verbrechen, verfasste Anklageschriften und veranlasste ihre Verfolgungen. Jaroslavskij wurde in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre selber Opfer dieser Verfolgungen: 1937 erfolgte, nach vorangegangenen öffentlichen Demütigungen von Seiten Stalins, der Ausschluss aus der Partei und seine Verhaftung. Da der Versuch, die Anklagepunkte gegen die eigene Person zu widerlegen, Beschuldigte jeweils noch verdächtiger machte, sah Jaroslavskij davon ab, sich öffentlich selbst zu verteidigen.

Dahlkes Hauptargument bezog sich auf die Disziplinierung und Selbstdisziplinierung, die funktionierten, weil der sowjetische Machtapparat das Selbst als Ressource zu mobilisieren vermochte. Disziplinierung und Unterwerfung bedingten sich dabei gegenseitig. Dahlke hob an dieser Stelle vor allem den russischen Begriff obida (Kränkung / Demütigung) hervor, ein Mittel, mit dem festgestellt werden sollte, ob jemand auch in einer herrschaftsgefährdenden Situation loyal blieb. Dahlke sieht den Terror als extreme Form der Loyalitätsprüfung, zumal in den frühen 1930er Jahren die stalinistische Herrschaft mehrmals auf der Kippe stand. Schlechte Ernten und Hungersnöte liessen die Angst aufkommen, dass eine allfällige Opposition schnell Aufwind bekommen würde. Zum einen ging es also durchaus um Emotionen, zum anderen aber um eine konkrete Realität und physische Gefährdung: den eigenen Tod, falls eine Opposition an die Macht käme.

Durch die Flucht in den sozialistischen Realismus erfuhr Jaroslavskij einen diffusen Raum. Dahlke betonte, dass der Individualisierungsprozess eng mit dem Regime verbunden war und sich der Einzelne davon nicht zu befreien vermochte. Entsprechend sieht sie ein Wechselspiel zwischen der Sowjetunion und dem Individuum, das im ästhetischen Ausdruck ein Ventil findet. Der sozialistische Realismus wurde so gewissermassen zu einer Wunschrealität, in die eigene Wünsche projiziert werden konnten und Raum erhielten, was dem Einzelnen grosse Erleichterung verschafft haben musste.

MAGALI DELALOYE beschäftigt sich mit der Geschlechterfrage in Stalins Machtkonstruktion von 1928 bis 1953. In ihrem Referat hob sie insbesondere die Unterscheidung, die innerhalb der bolschewistischen Partei gemacht wurde, hervor: Es wurde unterschieden zwischen den Revolutionären der ersten Stunde, die von Anfang an dabei gewesen waren, und den «Nachzüglern», den sogenannten Karrieristen. Die älteren Bolschewisten hatten als gemeinsamen Erfahrungshintergrund die Arbeit in der Heimlichkeit und im Untergrund, während die neueren Bolschewisten von deren Errungenschaften profitieren konnten. Der Zeitpunkt des Eintritts in die Partei war fundamental für die Generationenzugehörigkeit. Die Erfahrungen, die in Bezug auf die Konstruktion des Sozialismus gemacht wurden, waren von grosser Wichtigkeit.

Delaloye argumentierte, dass die Sphäre der Intimität häufig als Quelle vergessen geht. Dabei spielten auch die Ehefrauen der Parteifunktionäre eine wichtige Rolle. Delaloye beschrieb das Geschlecht als Mittel, um gewisse Teile der Partei kontrollieren zu können, wie es etwa Stalin tat. Stalin hatte eine kleine Gruppe intimer Freunde um sich, die sozusagen das „mondäne“ Leben pflegten. In der Zeit des Grossen Terrors verschwanden einige dieser engen Freunde Stalins, was die Frage nach dem „Emotionsmanagement“ in den Raum stellt: Wieviel konnte man von sich selber in Stalins Nähe preisgeben, ohne einer Gefahr ausgesetzt zu sein? Inwiefern musste man Stalin nur immer einen Spiegel vorhalten?
Während in den 1920er Jahren Frauen noch eine wichtige Rolle in der bolschewistischen Bewegung inne hatten, änderte sich dies in den 1930er Jahren. Sie wurden aussen vor gelassen, wenn es um staatliche Angelegenheiten ging: Die Ehefrauen der neueren Generation waren nicht mehr in die Angelegenheiten des Kremls involviert. Häufig wurden Ehepartner zusammen verhaftet, d.h. bei einer Festnahme der Frau wurde auch der Mann verhaftet und umgekehrt. Als Beispiele nannte Delaloye Ekaterina und Mikhail Kalinin oder auch Viatcheslav und Polina Molotov.

MONICA RÜTHERS betrachtete in ihrem Vortrag Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerkingenieurs. In ihnen sieht Rüthers typische Beispiele für die Vermischung von persönlicher Intimität und staatlichem Einfluss. Dies wurde deutlich gemacht durch die Alben, die Fotografien von Reisen, Ferienaufenthalten, der Familie, aber auch von der Arbeit enthielten. Dabei hob Rüthers hervor, dass dem unbekannten Hobbyfotografen als Ingenieur eine wichtige, staatstragende Rolle zugekommen war, da er das Land zu industrialisieren und zu modernisieren hatte. Als Kind der Revolution – Rüthers macht sein Geburtsjahr zwischen 1916 und 1929 aus – ist seine Geschichte im Aufstieg Stalins einzuordnen. Dies zeigt sich sehr agitatorisch zu Beginn des Albums, als technische Errungenschaften und Ideen dokumentiert wurden. Die vielen Bilder von der Arbeit und mit seinen Arbeitskollegen sollten gewissermassen den Überfluss an «kompetentem Material» aufzeigen. Der Ingenieur wurde als Pionier und Eroberer in der sowjetischen Peripherie dargestellt, was untermalt wurde mit Fotos von der lokalen Bevölkerung, von Kamelen, Schnee und Bergen; sodass dem ganzen etwas Imperialistisches anhaftet.
Es existieren auch viele Bilder der eigenen Tochter, die der Fotograf gekonnt in landwirtschaftlicher Umgebung inszenierte: Man sieht das Mädchen in der üppigen Landschaft Russlands, ein Topos, der laut Rüthers im sozialistischen Realismus typischerweise die Fruchtbarkeit und das Leben im Überfluss zelebrierte. Auch das Familienleben mit der Tochter ordnet Rüthers in die sozialistische Propaganda ein, so stellten etwa die Bilder der Reise zum Kreml die Familie in Verbindung mit dem Herz des sowjetischen Imperiums.

Die drei unterschiedlichen Vorträge ermöglichten es, sich über einen personenbezogenen Zugang mit den Auswirkungen des Sowjetregimes zu befassen. Indem von einer lediglich theoretischen Herangehensweise abgesehen wurde, vermochten die drei Referentinnen den Stalinismus aus einer neuen Perspektive zu betrachten, die zum Nachdenken anregt.


Panelübersicht:

Dahlke, Sandra: Terror, Selbstkontrolle und fantastische Agonie. Der Bolschewist Emeljan Jaroslavskij in den 1930er Jahren

Delaloye, Magali: Le guide est un homme : le genre dans la construction du pouvoir de Staline (1928-1953)

Rüthers, Monica: Am Imperium bauen: Die Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs

Veranstaltung: 
4. Schweizerische Geschichtstage 2016
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Universität Lausanne
Veranstaltungsdatum: 
09.06.2016
Ort: 
Lausanne
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference