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Panel: Zahlen der (Ohn-)Macht – (Ohn-)Macht der Zahlen. Quantifizierung als soziale Herrschaftspraxis im 20. Jahrhundert (Teil 1)

Autor / Autorin des Berichts: 
Michael Hutter
michael.hutter@gmail.com
Universität Wien / Universität Lausanne

Zitierweise: Hutter, Michael: Panel: Zahlen der (Ohn-)Macht – (Ohn-)Macht der Zahlen. Quantifizierung als soziale Herrschaftspraxis im 20. Jahrhundert (Teil 1), infoclio.ch Tagungsberichte, 2016. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0138>, Stand:


Verantwortung: Peter Moser / Juri Auderset
Referierende: Ernst Langthaler / Ulrich Schwarz / Peter Moser / Juri Auderset / Axel C. Hüntelmann
Kommentar: Nicolas Bilo

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Im ersten Teil des Doppelpanels versammelten sich Forscher der rural histories, um der Frage nachzugehen, wie sich Methoden der Statistik, die hauptsächlich aus der Industriegesellschaft kommen, mit den Realitäten des bäuerlichen Lebens zusammenbringen lassen. ERNST LANGTHALER und ULRICH SCHWARZ entwarfen in der ersten Präsentation das Argument einer kontinuierlichen Verdichtung und Steigerung des Instruments „Statistik“ in österreichischen Bauernbetrieben während den 1930er und 1940er Jahren. Das Hauptaugenmerk der Vortragenden lag auf einer Analyse der Wirkungsmacht der Statistik: Sie analysierten die „Hofkarte“, ein vorgefertigtes Papierschema, das ab 1939 zur Vereinheitlichung des bäuerlichen Ertrags und der Eingabemethoden eingeführt wurde und in dem die bäuerliche Bevölkerung den Bestandswert ihrer Produktionsverhältnisse in Zahlen zu fassen begann. Langthaler untermauerte die These, dass dem Modell der Hofkarte ein Machtdispositiv innegewohnt habe, das die Interessen eines nationalen Agrarsystems mit der ländlichen Alltagswelt in Beziehung zu bringen versuchte. Die Hofkarte sollte die organischen Systeme der bäuerlichen Betriebe und ihre unvorhersehbaren Fluktuationen der Ernte in ein Gesamtvolkswirtschaftsgefüge integrieren. Der Umfang dieses Papierinstruments „Hofkarte“ beeinflusste gleichzeitig das Eigenverständnis der Bauern in Bezug auf ihren Betrieb sowie die Haushaltsführung und veränderte die Agrarpolitik in Österreich noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die zweite Präsentation von PETER MOSER und JURI AUDERSET fokussierte auf den Einfluss der Statistik auf die bäuerliche Struktur der Schweiz. Moser und Auderset folgten der Idee, dass durch die Reduktion und Vereinfachung der Wertvorstellungen und des Bildes des Bauern durch die Statistik die Komplexität der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung verloren ging. Die Statistik als mathematische lingua franca und die Methoden der Abstraktion machten zwar eine Verständigung zwischen der Schweizer Agrargesellschaft und den Wertevorstellungen der Industrie möglich. Die Statistik und die Quantifizierung der Agrikultur übertrugen jedoch industrielle Einteilungsraster von Raum und Zeit auf die komplexen Arbeitsprozesse der ländlichen Betriebe, was Moser als Zwangsmethoden der Logik, der Regeln und der Mathematik bezeichnete. Buchführung wurde ein Werkzeug zur Übersetzung der Bauern in Landwirte. Statistische Metaphern flossen in die Lebenswelten der bäuerlichen Bevölkerung ein. Mit neoklassischen Vorstellungen von Zirkulationssystemen, definiert durch die Kontinuität des Wachstums, versuchte man ein stimmiges Bild der Bauernwelten mit der Agronomie zusammenzufügen. Was blieb dadurch? Die institutionelle Verbreitung der Statistik veränderte die unmittelbare Zielsetzung der bäuerlichen Betriebsführung, was aber oft nicht reibungslos verlief: Die Gesamtidentität des Bauernhofs war nicht ausschliesslich in ökonomische Verkehrswerte übersetzbar und die weitreichenden Motive und Ziele, einen Bauernhof zu führen, entsprachen nicht immer jenen des landwirtschaftlichen Profits. Auderset betonte den gewichtigen Einfluss der Statistik auf das Selbstverständnis des Bauern, gleichzeitig seien diese Instrumente aber auch Kritik ausgesetzt gewesen. So zitierte Auderset den einflussreichen Modernisierungstheoretiker Konrad von Meyenburg (1870-1958), der in den 1920er Jahren die Schwierigkeit betonte, die sich durch eine ökonomische Erschliessung der Mensch-Vieh-Pflanzen-Beziehung ergeben würde. Moser und Auderset eröffneten einen Blick in diese frühe historische Kontroverse, die jedoch mit dem Aufkommen von Objektivierungsmethoden und Exaktheitstheoremen in der Nachkriegszeit rasch endete. Doch diese offenkundige Vereinheitlichung des Diskurses repräsentiere nur eine vermeintliche Einigung. Beobachte man die ruralen Akteure historisch, würden diese Kontroversen wieder sichtbarer werden.

Zum Schluss konzentrierte sich der Medizinhistoriker AXEL C. HÜNTELMANN auf die spezifischen Funktionsweisen der Papiertechnologien der Statistik in der Medizin. Mit einer Fallstudie über die Wirkungsmacht der doppelten Buchführung im Berliner Armenspital Charité vor und während des Ersten Weltkriegs untersuchte Hüntelmann die Arbeitsweise des Verwaltungsdirektors Ernst Pütter, Buchführer der ersten Stunde und Mittler zwischen verschiedenen Interessensgruppen. Zuvor führte Hüntelmann aber noch in die Charité-Geschichte ein: So verpflichtete sich das Berliner Charité seit 1835 in einer Übereinkunft mit der Stadt Berlin, die wirklich arme Stadtbevölkerung (sogenannte „Arme Kranke“) bis zu einer Grenze von 100’000 Patienten kostenfrei zu behandeln. Diese Behandlungen wurden bis 1918 vom Kaiser persönlich bezahlt, aber schon vor dem Ende des Ersten Weltkriegs war das Charité-Spital daran interessiert, diese Kosten niedrig zu halten. Die Buchführung entwickelte sich zum sakrosankten Abrechnungskonstrukt und etablierte etwa die Errechnung von Pflegesätzen pro Patient. Hüntelmann fokussierte auf die Entstehungsgeschichte und die Folgen von Kategorisierungen in der Buchführung, beispielsweise der oben genannten Kategorie „Arme Kranke“. Er zeichnete ihren Einfluss im Charité-Betrieb nach, etwa indem er die Arbeitsweise des Verwaltungsdirektors wissenschaftspolitisch erörterte. Durch die Datengenerierung der Statistik erarbeitete Pütter zuerst den Plan, die Kosten der Pflegesätze zu errechnen – und schon bald minimierte er sie auch. Der Möglichkeitshorizont der „Armen Kranken“ wurde eingeschränkt: Durch Pütters Initiativen der Kostenverrechnung wurden sie zu Ratenzahlern ihrer eigenen Behandlungskosten. Pütter reduzierte dadurch die Pflegesätze von kostenfreien Behandlungen um bis zu 80%. Der „Arme Kranke“ der Charité wurde durch die Inklusion der Statistik und der Buchführung zum armen Ratenzahler im Spannungsfeld von entgegengesetzten Interessen. Patienten wurden Teil eines neuen bio-politischen Machtdispositivs und gleichzeitig auch einer neuen Bio-Ökonomie.

Anschliessend fasste NICOLAS BILO in einem kurzen Kommentar die drei Präsentationen zusammen, indem er die Frage aufwarf, worin sich die Verwendungen der statistischen Machdispositive, die offensichtlich viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, unterscheiden. Für Bilo hat die Statistik nichts mit einem Fetisch für Zahlen zu tun, sondern hänge von den Operatoren ab, die diese Zahlen in ihre Richtungen weisen. Die lingua franca Statistik bringe ihre eigenen Operatoren mit, aus denen sich erst die Anwendungshorizonte ergeben. Bilo sprach von Ordnungsrastern, Vektoren, denen auch ideologische Vorstellungen von Individualismus und dem Idealen der Buchführung inhärent seien. Daraus ergab sich eine Panel-Diskussion über unterschiedliche Bedingtheiten der jeweiligen Präsentationsinhalte, der Unterscheidung zwischen Buchführung und Statistik sowie die notwendige, nicht zu vergessende Perspektive auf die Menschen als Teilnehmer dieser Geschichtsschreibung, die ihre Eigenständigkeit trotz der Zwänge umzusetzen versuchen. In einer Weise schwingt hier die Perspektive auf die Patientenwelten mit, die Erving Goffman in seiner Mikrogeschichte über psychiatrische Patientinnen und Patienten und ihre Kommunikationsfreiheiten schon in den 1960er Jahren einbrachte. Nicht nur in Hüntelmanns Papiermaschine – der Buchführung – liefen diese Patientengeschichten mit, sondern auch in der Landwirtschaftsverwaltung der jeweiligen sozialen und politischen Spannungsfelder. Genau hierin fehlte, möglicherweise durch vorhergegangene Debatten, eine Präsentation über die zeitgeschichtliche Dimension der Machtdispositive: Abgesehen von Verwaltungsdirektor Ernst Pütter blieben die Verwaltungsinstanzen in den Präsentationen vernachlässigt. Mit welchen Interessen versuchte man die Agrikultur der Industriegesellschaft anzugleichen? Grosse gesellschaftspolitische Fragen, die womöglich durch das historische Interesse für die Technikfolgen der Statistik etwas ausser Acht gelassen wurden.


Panelübersicht:

Langthaler, Ernst; Schwarz, Ulrich: Agrarstatistik als Herrschaftspraxis: Österreich im kurzen 20. Jahrhundert

Moser, Peter; Auderset, Juri: Zergliederung des Agrarischen – Zahlen als Mittel der Transformation der Agri-Kultur in eine Land-Wirtschaft im 19./20. Jahrhundert

Hüntelmann, Axel C.: Doppelte Buchführung in der Medizin. Rechnungswesen und Medizinalstatistik in Deutschland, 1850-1930

Veranstaltung: 
4. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Lausanne
Veranstaltungsdatum: 
11.06.2016
Ort: 
Lausanne
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference