Verantwortung: Jan Hodel / Nadine Fink
Referierende: Jan Hodel / Mareike König / Nadine Fink
Kommentar: Lyonel Kaufmann
Das Panel #Macht #Social Media #Erinnerungskultur stand unter dem Motto der Digital Humanities bzw. Humanités digitales und der Histoire digitale / numérique, wie LYONEL KAUFMANN (Lausanne) in seiner Begrüssung betonte. Bewirkt der Nutzen von Sozialen Medien tatsächlich eine Verschiebung der Machtverhältnisse und eine Aneignung von Wissensgenerierung für neue Akteure ausserhalb der bestehenden wissenschaftlichen und medialen Institutionen? Oder handelt es sich um eine blosse Reproduktion von bereits etablierten Aussagen, die schon bestehende geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Diskurse weiter verstärken? Zur Beantwortung dieser Ausgangsfragen beschäftigten sich die Panelbeiträge mit der Analyse von Social Media, Public-History-Aktivitäten von Laien auf Webseiten, Facebook und Twitter im Rahmen des hundertjährigen Gedenkens an den Ersten Weltkrieg sowie mit der Macht von audiovisuellen Quellen.
JAN HODEL (Windisch) ging in seinem Input zunächst auf die Charakteristika von Social Media im Allgemeinen ein. Dazu gehörten neben der Vernetzung durch soziale Interaktionen und der Verbreitung und Herstellung von Inhalten auch die Rolle von Social Media als Wirkungsfeld in den Bereichen Wissen (Wikipedia) und Politik (Twitter und Facebook). Insbesondere seit dem Arabischen Frühling werde den Social Media eine beinahe mystische Funktion im gesellschaftspolitischen Wandel zugeschrieben, so Hodel.
Bei den zwei vorgestellten Fallbeispielen konzentrierte sich Hodel in erster Linie auf die Analyse von Inhalten auf Twitter. Beim ersten Beispiel ging es um den Hashtag #feesprotest. Unter diesem wurden die Protest-Tweets englischer Studierender gegen die drohende Erhöhung von Semestergebühren gesammelt. Die Reichweite der Tweets und die beteiligten Akteure wurden mittels einer Netzwerkanalyse1 untersucht. Das Ergebnis zeigte, dass nur wenige Akteure über den ganzen Zeitraum des Protests hinweg wichtig blieben. Wer mit seinen Tweets am Anfang schon eine hohe Reichweite hatte, blieb jedoch grösstenteils während der gesamten Zeit einflussreich bzw. wurde oft retweeted. Wie sich die Inhalte der Tweets über die Zeit hinweg veränderten, beschreibt das Zitat „from calls to participation to discussion of police tactics and apparent evidence of police brutality”2 sehr treffend.
Das zweite Fallbeispiel, Marignano 2015, lieferte zwar nicht die von Hodel erhofften inhaltlichen Ergebnisse, eignet sich aber gerade deswegen, um mögliche Probleme beim Versuch, Social Media als Quellen zu nutzen, aufzuzeigen. Als erstes Hindernis lässt sich der generell schwierige Zugriff auf die vorhandenen Daten nennen. Hilfreich sind hierbei Dienste wie #Tags, die ein automatisiertes Sammeln von Daten über API ermöglichen. Sind die Daten zugänglich, bestehen oft Schwierigkeiten bei der Stichprobendefinition, was zusätzlich erschwert wird durch die uneinheitliche Verwendung von Begriffen und Hashtags. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob zum untersuchten Ereignis genügend Quellenmaterial vorhanden ist, um Netzwerkeffekte überhaupt messbar darzustellen. Hodel vermutet zudem, dass Twitter nicht primär ein Ort der Inhaltserstellung und Meinungsbildung ist, sondern eher eine Art Echoraum und Reproduktionsmaschine der Inhalte von bereits etablierten Medien (filter bubble). Dementsprechend endete das Panel mit der kritischen Frage, ob sich Twitter überhaupt zur gesellschaftspolitischen Analyse eigne.
Einen anderen interessanten Aspekt in Zusammenhang mit Social Media präsentierte MAREIKE KÖNIG (Paris). In ihrem Beitrag standen Public-History-Aktivitäten im Rahmen des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg im Zentrum, in denen Kriegsereignisse gewissermassen in Echtzeit nachlesbar gemacht werden. Einleitend ging König u.a. auf die Frage ein, was das Format Social Media für die bestehende Forschungs- und Wissenskultur bedeutet. In ihrem Beitrag standen teils sehr unterschiedliche Projekte aus Deutschland und Frankreich im Zentrum. Zu nennen ist etwa das Projekt Europeana 1914-1918, in dem private historische Dokumente über einen öffentlichen Aufruf zusammengetragen und anschliessend digitalisiert wurden. Auf diese Weise rücke das Schicksal des Einzelnen in den Mittelpunkt, was gleichermassen eine Aneignung von Geschichte, aber auch des öffentlichen Raums zur Folge habe, so König.
König präsentierte als weiteres Beispiel das Facebook-Profil des fiktiven französischen Gefreiten Léon Vivien, das auf historischen Dokumenten basiert. Hier zeigen sich die Herausforderungen dieses Formats, die auch vielen ähnlichen Projekten gemeinsam ist: Aufgrund der Möglichkeiten zur Selbstpublikation findet keine Qualitätssicherung im Sinne eines Peer-Reviews statt. Ebenso birgt der fehlende kritische Anmerkungsapparats die Gefahr einer öffentlichen Glorifizierung des dargestellten Sachverhalts oder der porträtierten Person.
Aus dieser neuen Form der Erinnerungskultur ergeben sich also Herausforderungen für die Zukunft der historischen Forschungskultur und die Geschichtsschreibung: Wie soll mit diesen neuen interaktiven Formaten umgegangen werden? Muss das Geschichtsstudium angepasst werden? Und werden Geschichtsbücher am Publikum vorbeigeschrieben?
Im dritten Beitrag von NADINE FINK (Lausanne) stand die Aussagekraft von audiovisuellen Zeugnissen, die Möglichkeiten von oral history und die sich damit verändernde Erinnerungskultur im Vordergrund. Ein sehr interessantes oral history-Beispiel ist das Schweizer Tanzarchiv. Dort stehen seit 2011 nicht nur schriftliche Quellen und Fotografien zur Geschichte des Tanzschaffens in der Schweiz zur Verfügung, sondern auch audiovisuelle Zeugnisse. Die Aufbewahrung letzterer ermöglicht die Dokumentation wichtiger zeitgenössischer und historischer Choreographien und Werke.
Ein ebenfalls nennenswertes Projekt ist „Wir, die PTT. Ein Oral History Projekt des PTT-Archivs“, mit dem der Wandel der PTT anhand von filmisch dokumentierten Zeitzeugenaussagen ehemaliger PTT-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erzählt wird. Fink wies darauf hin, dass trotz der umfassenden Sammlung nicht vergessen gehen darf, dass individuelle Erinnerungen nicht mit Geschichte gleichgesetzt werden kann. Den Konflikt zwischen mémoire und histoire verdeutlichte sie an der Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu schriftlichen Quellen ermöglichten audiovisuelle Zeugnisse jedoch Einblicke in die geteilte Sprache und gemeinsam genutzte intellektuelle Möglichkeiten und machten auch Emotionen besser fassbar. Zum Schluss plädierte Nadine Fink entsprechend für eine Aufteilung der Deutungsmacht zwischen Zeitzeugen und Historikerinnen.
Die angeregte Schlussdiskussion drehte sich um die These der veränderten Zugänglichkeit des privaten Raums für die Öffentlichkeit und um die Pluralisierung von Akteuren, wie dies bei den neuen Formen von Public History der Fall ist. Diskutiert wurden auch die Schwierigkeiten bei der Analyse von big data und die in Frage gestellte Relevanz von Social Media-Plattformen wie Twitter als historische Quellen. Der Blick auf den Umgang mit der Analyse von Sozialen Medien legt einmal mehr offen, dass methodische Fragen der weiteren Erklärung bedürfen, wenn sich die digital history innerhalb der Geschichtswissenschaften etablieren will.
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Anmerkungen
1 Wie Twitter mithilfe der Netzwerkanalyse untersucht warden kann, zeigt das Youtube-Video Big Data: Methodological Challenges and Approaches for Sociological Analysis - Supporting Video (Zugriff: 21.6.2016)
2 Tinati, Ramine / Halford, Susan / Carr, Leslie / Pope, Catherine: Big Data: Methodological Challenges and Approaches for Sociological Analysis, Sociology 48(4), 2014, S. 663-681.
Panelübersicht:
Hodel, Jan: Twitter-Marignano. Der (inexistente?) Einfluss von Social Media auf geschichtspolitische Debatten.
König, Mareike: Fakt und Fiction: Der Erste Weltkrieg “in Echtzeit” in den Sozialen Medien
Fink, Nadine: Le pouvoir des témoignages audiovisuels