Verantwortung: Konrad Kuhn / Pascal Germann
Referierende: Pascal Germann / Konrad Kuhn / Stefanie Salvisberg
Kommentar: Carola Sachse
Nicht erst seit Horizon 2020 ist die internationale Forschungszusammenarbeit ein wichtiger Faktor für viele wissenschaftliche Disziplinen. Wissenschaftler/innen haben seit jeher –unabhängig von Landesgrenzen oder geopolitischen Machtsphären – mit Kolleg/innen Methoden, Ergebnisse und Probleme ihres Faches erörtert. Das Panel „Forschungen, Karrieren, Netzwerke. Der Nationalsozialismus und die Arbeit der Wissenschaften in der Schweiz“ stellte in drei Beiträgen die Beziehungen der Schweizer Wissenschaften mit dem nationalsozialistischen Deutschland ins Zentrum.
In der Einleitung wiesen PASCAL GERMANN und KONRAD KUHN darauf hin, dass mit dem Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg politische und ökonomische Verflechtungen der Schweiz zum nationalsozialistischen Deutschland weitgehend erarbeitet worden sind. Die Beziehungen auf wissenschaftlicher Ebene seien hingegen noch wenig erforscht. In der Sicht der Disziplinen auf ihre eigene Geschichte dominiere im Grundsatz folgendes Abgrenzungsnarrativ: „Die Wissenschaften in der Schweiz haben sich bewusst von den politisch vereinnahmten Forschungen in Nazi-Deutschland distanziert und sich weitgehend autonom von diesen entwickelt“, erläutertena Germann. Die Wissenschaften hätten keinen Schaden genommen und eine Konstanz nach 1945 sei gewährleistet gewesen. Dieses Narrativ wollen Germann und Kuhn infrage stellen.
Am Humangenetiker Ernst Hanhart und am Pflanzengenetiker Alfred Ernst illustrierte Germann die Verflechtungen zwischen Schweizer und nationalsozialistischen Forschern in der Genetik. Einfach nachzuvollziehen sind die persönlichen Kontakte, die Hanhart und Ernst teilweise über das Ende des Weltkriegs hinaus gepflegt hätten. Für die Schweizer Genetiker sei wichtig gewesen, dass ihre Disziplin in Nazi-Deutschland den Rassenstaat wissenschaftlich legitimiert habe und deswegen massiv gefördert worden sei. So sei ein grosser neuer Resonanzraum entstanden, den Hanhart und andere Schweizer Genetiker zu nutzen wussten. „Nur neun ausländische Autoren haben am Prestigewerk ‚Handbuch der Erbbiologie des Menschen‘, das Hanhart gemeinsam mit Günter Just herausgegeben hat, mitgewirkt – darunter sechs Schweizer“, so Germann. Hanharts enge Verbindungen zu den Deutschen Kollegen seien in der Schweiz keineswegs auf Kritik gestossen.
Auch beim Pflanzengenetiker Alfred Ernst, einer treibenden Kraft bei der Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Vererbungsforschung und deren erster Präsident, lässt sich laut Germann eine Abgrenzung von Nazi-Deutschland nicht erhärten. Insbesondere habe Ernst aus einer neutralen Position Lobbyarbeit für seine nazi-deutschen Kollegen auf dem internationalen Parkett geleistet. Am internationalen Genetikerkongress 1939 in Edinburgh hätten sich grosse Teile der Genetik von den nationalsozialistischen Wissenschaftlern distanziert. In diesem zunehmend nazi-kritischen wissenschaftlichen Umfeld habe sich Ernst für den deutschlandfreundlichen Standort Rom als nächsten Austragungsort des Kongresses eingesetzt. Germann schloss daraus: „Faktisch unterstützte Ernst die wissenschaftliche Aussenpolitik der Achsenmächte.“
Zusammenfassend wies Germann aber auf wichtige Unterschiede hin: „Zwischen den Schweizer und den deutschen Genetikern des Dritten Reichs hat es nur eine Kooperation, keine Kollaboration gegeben.“ Dadurch sei eine Weiterführung der Wissenschaft – integriert in den angelsächsischen Teil der Disziplin – nach dem Weltkrieg möglich gewesen.
Die Schweizer Volkskunde hat sich frühzeitig von der nationalsozialistischen Spielart abgegrenzt – mit diesem Narrativ, das bis heute Bestand habe, setzte sich KONRAD KUHN auseinander. Dabei würden aber zwei zentrale Zusammenhänge fehlen, betonte Kuhn: Zum einen habe sich die Schweizer Volkskunde im Kontext der Geistigen Landesverteidigung nur als Negativfolie zum Nationalsozialismus derart stark entwickeln können; zum andern hätten sich in der Disziplin grenzübergreifend personelle Netzwerke entwickelt, die weit über 1945 hinaus Bestand gehabt hätten.
Die Volkskunde in Deutschland war stark mit dem Nationalsozialismus verbunden. Das manifestierte sich an der institutionellen Nähe: Die Disziplin war unter anderem in der „Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde“ unter der Leitung von Alfred Rosenberg und in der SS-Institution „Deutsches Ahnenerbe“ organisiert.
In der Retrospektive würden die beiden wissenschaftlichen Disziplinen als diametral verschieden eingeschätzt. „Die ‚gute‘, wissenschaftlich fundierte Schweizer Volkskunde stand im Gegensatz zur ‚schlechten‘, politisch vereinnahmten in Deutschland“, erläuterte Kuhn. Die Schweizer Volkskunde habe demnach Kulturraumforschung betrieben – ihr Untersuchungsgegenstand war ein Land mit vier Sprachen und den Alpen als verbindendem Element. Die Sprachgrenzen hätten nicht als kulturelle Grenzen gegolten. Das nationalsozialistische Pendant sei dagegen von Deutschland als sprachlich-kultureller Einheit ausgegangen. Es sind bereits in der Zwischenkriegszeit rassistische Ideale nachzuweisen, und die Untersuchungen zu „Volk“ und zum „Volkstümlichen“ sollten den NS-Staat und die Expansionspläne legitimieren, so Kuhn.
Kuhn wies im Weiteren darauf hin, dass es inhaltlich klare Abgrenzungen gegeben hat, personell und methodisch aber enge Verbindungen zwischen der Schweizer Volkskunde und der nationalsozialistischen bestanden. So habe Richard Weiss, später Volkskunde-Professor in Zürich, sein methodisches Rüstzeug in Berlin geholt. Exemplarisch für die personellen Verbindungen stehen die Beziehungen von Karl Meuli, Professor in Basel, und Richard Weiss zu Richard Wolfram. Wolfram, SS-Offizier, überzeugter Nazi und Professor für germanisch-deutsche Volkskunde an der Universität Wien, wurde 1945 abgesetzt und war danach isoliert. In dieser Zeit habe sich Wolfram primär als Opfer gesehen und seine Rolle nicht reflektiert. „Wolfram wurde von seinen Schweizer Kollegen zu Referaten eingeladen und findet in der Folge den Weg zurück an die Universität. 1963 wird er wieder Ordinarius an der Universität Wien und bleibt das bis zur Emeritierung.“ Kuhn sieht die Schweiz in einer wichtigen Rolle bei der Rehabilitierung der Volkskunde und der Reintegration von umstrittenen deutschen Kollegen in die Wissenschaft. Die Schweizer Volkskunde habe zwar nie rassistisch argumentiert, eine diffuse Volkstumsideologie und ein konservatives Weltbild habe sie aber mit der Volkskunde in Nazi-Deutschland verbunden.
STEFANIE SALVISBERG hat einen etwas skurrilen Lehrstuhlwechsel untersucht. 1935 wurden die beiden Inhaber der Lehrstühle für Linguistik an den Universitäten Jena und Bern entlassen: Albert Debrunner in Jena, weil er den Führereid nicht geleistet und sich negativ gegenüber der NS-Führung geäussert hat; Walter Porzig in Bern, weil er den Führereid abgelegt und zudem die Auslandorganisation der NSDAP in Bern geleitet hat. Offenbar war der Unmut der Berner Bevölkerung ein Grund für den Entscheid des Regierungsrats, Porzig zu entlassen. Die Folge war der spektakuläre Lehrstuhltausch: Debrunner wurde nach Bern berufen, Porzig nach Jena. In Bern ist Debrunner ohne Berufungskommission gewählt worden, die Universität hat sich passiv verhalten, hielt Salvisberg fest.
Von 1936 bis 1945 seien in Bern keine ausländischen Professoren mehr berufen worden, nachdem es bereits seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu einer „Verschweizerung“ der Philosophischen Fakultät gekommen sei. Nicht alle habe diese Tendenz glücklich gemacht. Ernst von Weizsäcker, deutscher Gesandter in Bern, habe wegen der Benachteiligung deutscher Forscher an den Universitäten Bern und Basel beim Bundesrat vorgesprochen. Von Weizsäcker habe dem Bundesrat dargelegt, dass die Zugehörigkeit zur NSDAP gewissermassen etwas Natürliches sei, genauso wie die Reichszugehörigkeit selber. Salvisberg fasste die deutsche Strategie wie folgt zusammen: „In der Folge versuchte man die deutschen Professoren möglichst lange auf den Lehrstühlen zu halten – wenn notwendig, sollten sie auf eine Zugehörigkeit zur NSDAP verzichten.“
Vom Kommentar CAROLA SACHSES und der Diskussion seien drei Aspekte hervorgehoben. Bemerkenswert war insbesondere das Zitat von Sachse aus Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ nach dem „das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen [sei], als das, was nicht ist“ [1]. Sachse zitierte Musil, um die Abgrenzung der besprochenen Schweizer Wissenschaftler zur nationalsozialistischen Ideologie hervorzuheben. Ausserdem wies Sachse auf die lange Schweizer Tradition hin, europäische Intellektuelle aufzunehmen, die mit den 1930er und 1940er Jahren einen Bruch erfahren habe – dies im Gegensatz zur restriktiven Berufungspolitik von NS-Vertretern auf Professorenstellen an Schweizer Universitäten. Aus dem Plenum wurde die Frage aufgeworfen, ob die nationalsozialistischen Eugeniker von den Schweizern hätten profitieren können.
Die drei Referate haben frische und spannende Perspektiven auf die Schweizer Verflechtungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland aufgezeigt. Insbesondere Germann und Kuhn hinterfragen in ihrer Forschung Narrative, die bis heute präsent sind – eine wichtige Aufgabe für viele Historikerinnen und Historiker, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigen. Die Worte Robert Musils darf man dabei im Hinterkopf behalten.
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[1] Zit. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch, Kapitel 5. In: Projekt-Gutenberg-DE, Version vom 22.06.2016. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-mann-ohne-eigenschaften-erstes-buch-7588/5.
Panelübersicht:
Salvisberg, Stefanie: Universität im Zugzwang. Die Berufungspolitik der Universität Bern 1933‐1945
Germann, Pascal: Neutrale Trittbrettfahrer. Internationale Wissenschaft, nationalsozialistische Aussenpolitik und der Aufbruch der Genetik in der Schweiz, 1935-1945
Kuhn, Konrad: Identitätspolitik, Netzwerke und ein Abgrenzungsnarrativ. Zur Wissensgeschichte der Beziehungen zwischen der „völkischen" und der Schweizer Volkskunde