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Panel: Durchsetzen und beschneiden: Macht in Mikrohistorien des Sorgens (1850-1914) / Imposer et limiter: le pouvoir dans les microhistoires du prendre soin (1850-1914)

Autor / Autorin des Berichts: 
Sunjoy Mathieu, Universität Zürich
sunjoy.mathieu@uzh.ch


Zitierweise: Mathieu, Sunjoy: Panel: Durchsetzen und beschneiden: Macht in Mikrohistorien des Sorgens (1850-1914) / Imposer et limiter: le pouvoir dans les microhistoires du prendre soin (1850-1914), infoclio.ch Tagungsberichte, 2016. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0146>, Stand:


Verantwortung: Sabina Roth / Sara Bernasconi
Referierende: Sabina Roth / Sara Bernasconi / Arne Thomsen
Moderation: Michèle Schärer

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Das von der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheits- und Pflegegeschichte (GPG-HSS) organisierte Panel drehte sich um die Verschränkungen von Macht und der Sorge und Pflege von Kranken und Bedürftigen aus einer mikrohistorischen Perspektive, wie Moderatorin MICHÈLE SCHÄRER (Genf) einleitend darlegte.

Den Kern des ersten Teils, nähergebracht von SABINA ROTH (Zürich), bildeten Akten eines Schwurgerichtsverfahrens von 1861. Der darin beschriebene Vorfall drehte sich um die Krankheit des Bauern Ulrich Angst aus Wülflingen, der in Veltheim beim Volksschullehrer Heinrich Trachsler eine Kur absolvierte, die auf den Grundsätzen des Heilverfahrens nach Johann Schroth basierte. Angst verstarb jedoch noch während der Kur, was seine Frau Elisabetha dazu bewegte, den Vorfall vor das Schwurgericht zu bringen. Sie warf dem Volksschullehrer Fahrlässigkeit bei der Kurdurchführung vor. Trachsler wurde in diesem sogenannten Kurpfuschereiverfahren bzw. Kunstfehlerprozess freigesprochen.
Doch welches Sorgekonzept lag der Kur zugrunde? Wie Roth aufzeigte, ist hier der historische Kontext der Ereignisse interessant: Sie fielen nämlich mitten in die Demokratie-Bewegung der 1860er Jahre. Selbsthilfe war ein wichtiger Programmpunkt in der bürgerlichen Vergesellschaftung in der Öffentlichkeit. Auch der autodidaktische Heilpfleger Trachsler, der kein Arzt war, vertrat das Leitbild der Selbsthilfe. Jeder sollte sein eigener Arzt sein können; nach diesem Grundsatz verbreitete er Schroths Naturheilverfahren. Damit erlangte Trachsler eine gewerbliche Selbstständigkeit und konnte, anders als in seiner Tätigkeit als Volksschullehrer, gegen die Bediensteten im Staatswesen wie auch gegen Ärzte und Mediziner protestieren.

Die Hilfe der schon damals Anerkennung geniessenden Mediziner hatte auch der Bauer Angst in Anspruch genommen, jedoch ohne Heilungserfolg. Weiterhin geplagt durch Rheumatismen und deshalb im Ansehen seines Umfelds gesunken, bevorzugte er fortan verschiedene Therapiemöglichkeiten wie den «Urinschauer» statt ärztlicher Hilfe. Rettung erhoffte er sich schliesslich bei Trachsler in Veltheim. Bei dessen Behandlung wurde der ganze Körper in feuchte Tücher eingehüllt sowie eine spezielle Diät veranlasst. Die Unreinheit galt als einziger Grund aller Krankheiten; entsprechend bedeutete Reinigung der Weg zur Heilung. Bestandteil des Ansatzes, deren Grundlage sich in der Humoralpathologie finden, waren zudem die Idee, dass chronische Krankheiten, wie etwa Angsts Rheumatismus, in ein akute Krankheiten umgewandelt werden sollten, sowie die Einschätzung organischer Schäden oder Arznei-Missbrauch als Sterbegründe.
Wie es zum Tod des Bauern im Jahr 1868 kam, bleibt ungeklärt. Erhalten hingegen ist die Aussage von Elisabetha Angst, dass Trachsler ihrem Mann Hoffnung für sein Leiden «eingeredet» habe. Zudem habe Trachsler dem Kranken empfohlen, zwölf Wochen in seinem Haus zu wohnen, um die Kur zu absolvieren. Die Frau sorgte sich um ihren ausgemergelten und von Schmerzen geplagten Mann, nahm ihn jedoch nicht mit nach Hause. Erst acht Wochen später entschloss sich Angst, nach Hause zu gehen, verstarb jedoch wenige Tage darauf.

Einen anderen Aspekt dieser «(Ohn-)Macht der Umstände» beleuchtete SARA BERNASCONI (Zürich). Im Zentrum ihres Inputs standen habsburgische Hebammen um 1900 in Bosnien-Herzegowina. Die untersuchten Ereignisse fallen in eine Zeitspanne des Umbruchs: Die Zeit zwischen 1878 und 1918 wird als Modernisierungsphase in Bosnien gesehen. Am Berliner Kongress 1878 entschieden die Grossmächte, dass Bosnien, das formal noch in osmanischer Herrschaft stand, semikolonial von den Habsburgern regiert werden sollte.
Die dort ansässige Elite bestand aus einer kolonialen Schicht von habsburgischen Beamten. Nach der militärischen Besatzung prägten diese unter anderem auch den Berufsstand der Hebammen: Hebammen wurden ab 1878 aus Wien und Budapest, später aus umliegenden, den Habsburgern zugehörigen Gebieten, gewissermassen importiert und direkt mit der bosnischen Bevölkerung konfrontiert. Ihre Arbeitsverhältnisse waren von den staatlichen Strukturen geprägt. Sara Bernasconi fragte hierzu, was diese Situation für Entmachtung und Ermächtigung bedeutete. Erste Verordnungen zur Regelung des Hebammenberufstands kamen erst später und basierten auf Aushandlungen zwischen Wien und Sarajevo, die festlegten, wie viel Macht einer Hebamme zustand. Gleichzeitig wirkten die Hebammen an der Ausgestaltung ihrer Rolle mit, indem sie ihre Hebammentasche selbst arrangierten. Die Taschen wurden den Hebammen im Zuge einer Verordnung erlassen und alle sechs Monate überprüft. Das Einhalten von Hygienevorschriften, der Gebrauch von Desinfektionsmitteln – all dies machte die Tasche zur Visitenkarte dieses Berufsstandes.
Die Ausführungen von Bernasconi zeigten auf, wie passend der Titel «(Ohn-)Macht der Umstände» die Umgebung der migrierten Hebammen beschreibt. Denn mit den Umständen sind keineswegs die «anderen Umstände» der schwangeren Frauen gemeint, sondern die Situation, in der sich die Hebammen selbst sahen und die etwa in Gerichtsakten bezeugt sind. Einerseits besassen sie Macht über das Geburtsgeschehen, andererseits wurde die Ausübung ihres Berufes durch das soziale und religiöse Umfeld erschwert.

Bei ARNE THOMSENs (Bochum) Input standen ebenfalls Fragen der Macht und deren Ausübung im Vordergrund. Er zeigte auf, wie sich im Ruhrgebiet ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914, also nach der Säkularisierung von 1803, in den katholischen Krankenhäusern mit den Ordensschwestern und den Ärzten gleichzeitig auch unterschiedliche Krankheitskonzepte gegenüberstanden. Für den reibungslosen Ablauf wäre ein funktionierendes Verhältnis zwischen den Schwestern, die oft einer Kongregation angehörten, und den Ärzten entscheidend gewesen, stattdessen kam es aber immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten. Viele der Spannungen waren der unterschiedlichen Motivation und Positionen der beiden Akteure geschuldet: Die Schwestern arbeiteten ohne Gehalt, was ein Wettbewerbsvorteil bedeutete. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung mussten sie mit einer signifikant tieferen Lebenserwartung rechnen. Ihre häufigste Todesursache war die Tuberkulose. Um die Sterberate zu senken, forderte der Bischof bessere und vor allem waschbare Kleidung sowie reichhaltigere Nahrung. Die Ärzteschaft hingegen bevorzugte weisse Kittel und forderte eine Reduzierung der betreuenden Schwestern. Im Zuge der Industrialisierung waren zwar vermehrt Spitäler gegründet worden, dennoch hatte eine Schwester oftmals bis zu 100 Patienten zu betreuen.
Das Konfliktpotential zwischen den verschiedenen Akteuren war eminent: Beide waren an Heilung interessiert, jedoch auf unterschiedlichen Ebenen. Für die Ordensschwestern standen «religiös-sittliche Vervollkommnung und die Verwirklichung der Lebensbestimmung» im Zentrum ihrer Krankenbetreuung, die Ärzte sahen in erster Linie den «Übergang der Krankheit in einen gesunden Zustand» als relevant an.

Mit einem Gerichtsprozess illustrierte Thomsen die anhaltenden Streitigkeiten um Kompetenzen und Wissen: Schwestern und Ärzte stritten sich um die Anwendung von Thermometern sowie die Bettenbeschaffung und die Schwestern unterstellten den Ärzten zudem grobes Vorgehen. Der ebenfalls vor Gericht erschienene Pfarrer stellte sich als Vertreter der geistlichen und körperlichen Anliegen auf die Seite der Schwestern, sodass diese sich mit ihren Anliegen durchsetzten konnten – ein Muster, das sich in vielen Prozessen zeigte. Entsprechend fiel auch das Fazit von Thomsen aus: Kompetenzstreitigkeiten und das herrschende gegenseitige Misstrauen konnten zur Entlassung der Mediziner führen. Nicht die Qualifikation zur Heilung, die kaum jemand beurteilen konnte, sondern die Rolle des Akteurs im Machtgefüge des Krankenhauses war entscheidend. Macht war relevanter als Kompetenz und es zählte, «wer das Sagen hatte», so Thomsen zum Schluss.

Insgesamt boten alle drei Präsentationen einen detaillierten Einblick in die Machtgefüge und -verschiebungen innerhalb ihres jeweiligen Kontexts. Dabei erscheint die mikrohistorische Perspektive als geeignete Herangehensweise, da die Gesamtsituation und die einzelnen Akteure tiefgehend analysiert und so die kleinsten Verschiebungen sichtbar werden.

Panelübersicht:

Roth, Sabina: Sorgen im Dilemma: Schroths Kur und das Sterben des Wülflinger Bauern Ulrich Angst im Frühjahr 1868.

Bernasconi, Sara: Die "(Ohn-)Macht der Umstände" − habsburgische Hebammen um 1900 in Bosnien-Herzegowina

Thomsen, Arne: Wer hat die Macht? Konkurrenz zwischen Schwestern und Ärzten in katholischen Krankenhäusern des Ruhrreviers bis zum Ersten Weltkrieg

Veranstaltung: 
4. Schweizerische Geschichtstage 2016
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Universität Lausanne
Veranstaltungsdatum: 
11.06.2016
Ort: 
Lausanne
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference