Verantwortung: Hans-Ulrich Schiedt / Ueli Haefeli / Christian Rohr
Referierende: Benjamin Spielmann / Gérard Duc / Markus Sieber
Nachdem UELI HAEFELI in einer kurzen Einleitung auf die Wichtigkeit der historischen Betrachtung des Mobilitätszugangs hingewiesen hatte, referierte BENJAMIN SPIELMANN (Universität Bern) über die urbane und verkehrspolitische Entwicklung seit der Einführung der Traminfrastruktur in Bern von 1890. Er behandelte den Mobilitätszugang zum Tram in Bern als Verteilungsfrage. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hing massgeblich von den Zugangsoptionen zu den Verkehrsmitteln ab. Spielmann präsentierte die Entwicklungsgeschichte des Berner Trams seit seiner Einführung 1890 deshalb – und für die Technikgeschichte eher ungewöhnlich – als Nutzungsgeschichte. Er setzte den Akzent auf den sozialen und ökonomischen Kontext der Bedürfnisse der Verkehrsteilnehmenden. Eine Verdreifachung der Einwohnerzahlen im 19. Jahrhundert habe früh zu einer Verdichtung der Bauweise in Bern geführt. Trotz der Erweiterung des Stadtumfangs kam es zu einem Anstieg der Bodenpreise im Stadtzentrum, was eine soziale Entmischung mit sich brachte. Spielmann vertrat im Zusammenhang mit dieser prekären Stadtentwicklung die These, dass die Stationen des ersten Trams hauptsächlich für das begütertere Ausflugspublikum gebaut wurden, ähnlich wie die Einführung des Droschkenbetriebes in und um Bern im 19. Jahrhundert. Die sozialen Ungleichheiten seien, folgt man den Thesen Spielmanns, durch den Bau des Trams noch stärker zementiert worden. Die Mobilitätsmöglichkeiten der weniger begüterteren Stadtbewohnerinnen und -bewohner, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Peripherie verdrängt wurden, blieben auf Fussmärsche und auf die Benützung des Fahrrads beschränkt. Spielmann zeichnete dies durch die Entwicklung der Fahrgastzahlen sowie durch eine Beobachtung der Fahrkartenpreise diagrammatisch nach.
Mittels einer vergleichenden Studie über die Verkehrspolitik in Basel und in Genf zeichnete GÉRARD DUC (Universität Genf) die historischen Grundlagen der gegenwärtigen Verkehrspolitik nach. Ausgangspunkt seines Vortrags war ein umstrittener Artikel der aktuellen Genfer Stadtverfassung, der einerseits die freie Wahl des Verkehrsmittels garantiert, andererseits aber auch die ökologischen Verkehrsmittel begünstigt (mobilité douce). Dies führe zu Spannungen zwischen zwei unterschiedlichen Interessensgruppen. Um diesen Konflikt zu verstehen, begann Duc mit einer Historisierung der Stadtentwicklungskonzepte von Genf und Basel. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatten verschiedene Verkehrsmittel durch ihre starke Präsenz (das Fahrrad in der Zwischenkriegszeit, das Automobil nach dem Zweiten Weltkrieg) ein Regulierungssystem erfordert. In Basel dominierte ab 1900 ein ortsspezifisches Planungskonzept, das durch geographische Verschränkungen und durch das Aufeinandertreffen verschiedener Verkehrsmittel in der Basler Altstadt bedingt war. Erste Hierarchisierungen zwischen den verschiedenen Verkehrsmitteln wurden von Stadtplanern wie Adolf Schumacher 1933 oder mit dem Plan Leibrand von 1958 weiterentwickelt. Der grösste planungstechnische Konflikt der Verkehrsteilnehmenden entstand durch die Intensivierung des Automobilverkehrs in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Das führte zu notwendigen Optimierungsentscheidungen und der Favorisierung einzelner Verkehrsmittel – wie damals dem Auto und heute dem öffentlichen Verkehr. In Genf hingegen dominierte laut Duc seit der Gründung des Völkerbunds von 1920 die Vorstellung eines Gleichstellungsprinzips. Genf sollte als neue Welthauptstadt eine moderne und tolerante Stadt verkörpern, in der die Individualität und die Gleichheit der verschiedenen Verkehrsteilnehmenden auch die Struktur des Völkerbundes widerspiegelte. Duc folgte den architektonischen Stadtentwicklungskonzepten für die Stadt Genf, führt in das Genfer Projekt von Le Corbusier ein und besprach die ersten Versuche zur Erbauung grosser Boulevards für eine gerechte Verteilung des Verkehrs. Er erwähnte etwa die heute absurd anmutenden Abrissfantasien von Hindernissen wie beispielsweise der Saint-Gervais Kirche. Die Konsequenzen der unterschiedlichen Planungskonzepte präsentierte Duc folgendermassen: Das Genfer Verkehrskonzept sei zwar bezüglich der Erfordernisse des Verkehrs in den 1920er Jahren weniger Konflikten ausgesetzt gewesen als das Verkehrssystem von Basel, aufgrund der Intensivierung des Verkehrs seit den 1950er Jahren blieben diese Konflikte aber bis heute ungelöst. Lösungskonzepte durch Hierarchisierungen von Verkehrsmitteln wie man sie aus Basel kennt, waren schon früh konfliktreich, unterlagen deswegen aber auch ständigen Verbesserungen. Das Gleichstellungsprinzip in Genf widersprach jeglicher Hierarchisierung der Verkehrsmittel. Duc präzisierte schliesslich in der Fragerunde das Genfer Gleichheitsprinzip weiter: Genf sei in den 1920er Jahren auch die Stadt mit den meisten Schienenkilometern in der Schweiz gewesen, es ist also nicht der Stellenwert des Automobils, der die gegenwärtige Verkehrspolitik in Genf erklären könnte, sondern vielmehr das Recht auf individuelle Gleichstellung der einzelnen Verkehrsteilnehmenden.
Im letzten Vortrag des Panels befasste sich MARKUS SIEBER (Universität Bern) in einer historischen Perspektive mit dem Preisniveau einzelner Verkehrsoptionen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Verkehrsnutzung. Siebers sieht in der Zwischenkriegszeit jene Umwälzungsphase, in der sich eine Steigerung der Mobilität und eine Neuausrichtung der Nutzungskonzepte entfalteten. Unterschiedliche Gesellschaftsschichten prägten die Verwendung der verschiedenen Verkehrsmittel. Während sich das Reise- und Freizeitverhalten in den Oberschichten durch die Benützung der teuren Eisenbahn oder dem noch teureren Automobil veränderte, war das neu entdeckte Interesse der ärmeren Schichten an der Erholung in der Natur der Benützung des Fahrrads verdankt. Sieber untermauerte seine These durch eine Statistik über die Nutzung der Eisenbahn, über die Finanzierbarkeit von Automobilen und dem pro-Kopf-Besitz von Fahrrädern während der Zwischenkriegszeit (schon 1938 besassen 1000 Einwohner 335 Fahrräder). Mit dem Blick in die weitverbreiteten Zeitschriften und ihre Werbungen für Freizeit und Reisen erkundete Sieber den homo mobilis, eine Prägung des Menschen als sich bewegender Naturliebhaber, Camping- oder Skitourist, Motorradurlauber oder einfachen Wanderer. Für diese neue Lebensgestaltung wurden Fragen zur Finanzierbarkeit und den Zugangsmöglichkeiten zur Mobilität essentiell.
Trotz des tiefen Einblicks in die historischen Planungskonzepte und ihre Anwendungen sowie des analytischen Nutzungsrasters wurden grundsätzliche Verteilungsfragen nicht direkt besprochen. Welche politischen Interessengruppen waren in den Aufbau der Stadtinfrastruktur involviert? In den Präsentationen erschienen zwar die einzelnen Akteure, die Kontroversen zwischen den Personen, die über die Zugangsbeschränkung verhandelten, wurden jedoch nicht präsentiert. Wer waren die Akteure, mit denen sich die Stadtplaner konfrontiert sahen? Auch interne Stadtplanungskonflikte wurden wenig ausführlich diskutiert. Dennoch, die Diskussionen im Panel endeten mit hochpolitischen Fragen, mit denen sich die Verkehrsteilnehmenden von heute zunehmend konfrontiert sehen: Könnte es mit Blick auf die Umweltverschmutzung und den Leistungsdruck von gemeinschaftlichem und persönlichem Vorteil sein, auf die eigene Mobilität zu verzichten? Sollten wir dieser Verzichtsethik folgen? Und ist es nicht auch ein Luxus, auf Mobilität verzichten zu dürfen? Diese Fragen blieben jedoch am Ende des Panels unbeantwortet – möglicherweise, weil der Verzicht auf Verkehr kaum praktikabel wäre und auch an der fundamentalen Verteilungsfrage zum Zugang zur Mobilität wenig ändern würde.
Panelübersicht:
Spielman, Benjamin: Verkehrspolitik und urbane Mobilität Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz
Duc, Gérard: Arbitrer les conflits de mobilité : les cas de Genève et de Bâle
Sieber, Marc: Zwischen Freiheit und Zwang. Räumliche Mobilität im 20. Jahrhundert