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Panelbericht: Welche Regionalgeschichte in Zeiten der Globalisierung?

Autor / Autorin des Berichts: 
Peter Dürmüller, Universität Zürich



Zitierweise: Dürmüller, Peter: Panelbericht: Welche Regionalgeschichte in Zeiten der Globalisierung?, infoclio.ch Tagungsberichte, 2013. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0042>, Stand:


Verantwortung: Simon Teuscher / Michaela Hohkamp
Referentinnen: Marius Risi / Michaela Hohkamp / Claudia Moddelmog / Jan Rüdiger / Simon Teuscher

Die Welt ist nicht erst global, seitdem wir von der „Globalisierung“ sprechen; aber in den letzten Jahrzehnten ist die Nation als erste Bezugsgröße des gesellschaftlichen und politischen Lebens fragwürdig geworden. Die Globalgeschichte mit ihrer perspektivischen Breite, mit ihrer Betonung von übergeordneten Verflechtungs- und Austausch-Prozessen ist eine bewusste und reflektierte Reaktion auf diese Dezentrierung. Von zentralem Interesse sind dabei aber häufig die Wechsel- und Rückwirkungen von globalen Prozessen auf das Geschehen vor Ort; die Globalgeschichte fordert also gerade eine neue, global ausgreifende Geschichte der kleinen Räume. Zu einer so verstandenen kritischen Regionalgeschichte stellten die drei Referenten des Panels Überlegungen an.

MICHAELA HOHKAMP (Leibniz Universität Hannover) machte zunächst deutlich, dass sich das Lokale und Regionale nicht als unbelastete Kategorien anbieten in einer Zeit, in der die Kategorien der Nation, des Landes ihr heuristisches Potential mehr und mehr verlieren. Das Regionale hat sich vielmehr als Konterpart zur Nation entwickelt und ist in die Prozesse der Nationalisierung, der nationalen Differenzierung eingebunden. Die Region wurde im Bezug zu einem Ganzen selbst als ein Ganzes konzipiert und imaginiert. Eine neue Regionalgeschichte, die sich zum Ziel macht, a) die Grenzen als offen und b) die Vielfalt, nicht die Differenzen des Identitären zu untersuchen, muss sich daher zuerst der tradierten Grenzen und Identitäten bewusst werden. Eine historische Aufarbeitung dieser Kategorien ist dafür notwendig; und von besonderer Bedeutung ist gerade die frühneuzeitliche Perspektive, die in der Globalgeschichte meist vernachlässigt wird. Denn die gelehrte Praxis des 15.–18. Jahrhunderts vollzog die Ausdifferenzierung der Chorographie (Beschreibung einer Landschaft) von der Topographie (Beschreibung der einzelnen Orte). Die Grenzziehung der Chorographen, ihr Blick vom Zentrum auf die – in Kreisen vermessene – Peripherie, war obrigkeitlich geprägt und diente konkreten herrschaftlichen und militärischen Interessen. Als Vorläuferin der Landesgeschichte im 19. Jahrhundert prägte sie deren herrschaftliche, staatstragende Ausrichtung. Die Vorstellung des Regionalen als Teil eines Ganzen hat sich durch diese frühneuzeitliche gelehrte Praxis ausgebildet; und auch dann, wenn das Regionale als ein identitäres Gegenkonzept zum Nationalen verstanden wurde, war es Teil des gleichen Bemühens, homogene Grenzen zu ziehen.
Eine neue Regionalgeschichte ist vor die Frage gestellt, ob und inwiefern sie sich von dieser historischen Grenzziehung lösen kann; ob es möglich ist, einen Standpunkt einzunehmen, der nicht von einem herrschaftlichen Zentrum ausgeht, nicht eurozentrisch geprägt ist. Jedenfalls muss sie die historische Dimension ihrer raum-zeitlichen Kategorien kritisch bedenken.

JAN RÜDIGER (Goethe-Universität Frankfurt) führte die Metapher des „Abseits“ ein, um damit das Los der Raumentwürfe zu bezeichnen, die durch die Konzentration auf nationalstaatliche Erzählungen disqualifiziert worden sind. Das Abseits als eine Setzung, die den zeitlichen Ablauf einer Handlung in Bezug zu seiner räumlichen Konstellation bewertet, trifft auf alle alternativen Entwürfe zu, die nicht in den sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden nationalen Räumen dachten. Ein Beispiel dafür bietet die Geschichte der „alldietschen Bewegung“ in Flandern, die aus der sprachlichen Verwandtschaft der flämisch-niederdeutschen Sprache Mitte des 19. Jahrhunderts eine kulturelle Einheit zwischen Dünkirchen und Königsberg bewarb. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Geschichte dieser letztlich „gescheiterten“, „fehlgeleiteten“ Bewegung zu schreiben; eine davon ist, sie aus ihrem „Abseits“ zu befreien und die spezifische Raum-Zeit-Konstellation dieser Bewegung nicht finalistisch, also nicht von ihrem erfolglosen Ausgang her zu denken. Die alldietsche Bewegung unterschied sich nicht von anderen Raumentwürfen jener Zeit, etwa dem der Deutschen Einheit. In beiden Fällen wurde die sprachliche Verwandtschaft kulturell überformt und daraus eine politische Forderung abgeleitet; dass die Erzählung der alldeutschen Bewegung verunmöglicht wurde, bedeutet nicht, dass sie keine Geschichte hatte. Den Blick auf diese regional differenzierte Geschichtskultur „abseits“ von nationalen Erzählungen zu richten, ist das Ziel von Jan Rüdiger und dem Forschungsnetzwerk „History and Memory – The Regional Dimension (MEMOREG)“.

Als dritter Referent stellte MARIUS RISI (Chur) als Beispiel, wie die Regionalgeschichte heute praktisch betrieben wird, die Arbeit seines „Instituts für Kulturforschung Graubünden“ vor. Gemeinsam ist den Projekten aus verschiedenen Disziplinen (neben der Geschichte auch die Volkskunde und Sprachwissenschaft), dass sie zwar alle eine Verbindung zum Kanton Graubünden haben, diesen Kanton aber nicht als eine kulturelle Einheit festschreiben, die er nicht ist, sondern als Interaktions- und Transitraum von Menschen mit sehr unterschiedlichem kulturellen Hintergrund.

In seinem Kommentar ging SIMON TEUSCHER (Universität Zürich) zunächst auf das kritische Potential der historischen Regionalgeschichte ein, die - indem sie die Subeinheit einer Nation oder eine Region an der Grenze zwischen Nationen zum Gegenstand hatte - die Kontingenz der nationalstaatlichen Ordnung sichtbar machen konnte. Diese intellektuelle Widerspenstigkeit der Regionalgeschichte ist aber nicht per se gegeben, besonders wenn sie eine ebenso homogenisierende Einheit postuliert (und politisch instrumentalisiert werden kann, wie heute noch die Separationsbestrebungen etwa in Schottland, Flandern, Katalonien zeigen). Sind die Regionen etwa gar nicht so viel anderes als kleine Nationen? Nicht nur die Zeitlichkeit, sondern auch die Räumlichkeit der Räume – was selten getan wird – muss historisiert werden. Eine eindeutige Raumziehung, die vielleicht völlig willkürlich gesetzt ist, würde die Breite und die Historizität von Raumbezügen sichtbar machen. Als Beispiel nannte Simon Teuscher das regionalgeschichtliche Projekt über das Kloster Königsfelden.

An diesem Beispiel entspann sich die erste Diskussion. Michaela Hohkamp gab zu bedenken, dass ein Projekt mit Königsfelden als festem Zentrum, den Raum auf eine ähnliche Weise festlege wie die Chorographen der Frühen Neuzeit. Man müsse sich überlegen, inwieweit Königsfelden ein „chorographisches Projekt“ sei, und welches räumliche Problem darin zugrunde liege.

Jan Rüdiger machte auf das Unbehagen an der Ortlosigkeit in der heutigen Zeit aufmerksam, in der die Mobilität fast einhellig gefeiert wird; die Regionalgeschichte könne dieses Unbehagen nicht „heilen“, aber – indem sie Regionen konstruiert und vielleicht neu erfindet – dagegen kritisches Potential entfalten, ähnlich wie auch gegen die Nationalgeschichte.

Die Regionalgeschichte hat kritisches Potential und ist auch in einer Zeit der Globalisierung nicht entbehrlich geworden, darin waren sich die Panelteilnehmer einig. Der reduzierte Fokus macht die verdichtete Historisierung der Raum-Zeit-Kategorien erst möglich. In ihrer Bewertung der historischen Regionalgeschichte waren sich die Teilnehmer aber nicht ganz einig. Während Jan Rüdiger die Kritikfähigkeit bereits in der alten Regionalgeschichte angelegt sah, war sich Michaela Hohkamp auch für die neue Regionalgeschichte nicht sicher, ob sie sich von homogenisierenden, zentrierenden Kategorien ganz wird lösen können. Ein zentrales Problem bleibt, welche Antworten die neue Regionalgeschichte auf die methodologische Kritik an der Mikrogeschichte bereithält, die zwar den Anspruch hat, aus dem reduzierten Beobachtungsfeld auf umfassendere historische Prozesse zu schließen, diesen Anspruch aber nie ganz untermauern konnte.


Panelübersicht:

Marius Risi: Regionalgeschichte ohne Region: Der Fall Graubünden

Michaela Hohkamp: Region: historisches Konzept, historiografisches Problem, programmatische Herausforderung - Überlegungen zur Neukonzeptualisierung eines alten Begriffes

Jan Rüdiger: Im Abseits der Erzählung ? Regionale Dimensionen von Geschichtskultur

Claudia Moddelmog: Das Projekt "Königsfelden" als Versuch einer neuen Regionalgeschichte

Veranstaltung: 
3. Schweizerische Geschichtstage 2013
Organisiert von: 
Departement für Historische Wissenschaften der Universität Freiburg / Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG)
Veranstaltungsdatum: 
08.02.2013
Ort: 
Fribourg
Art des Berichts: 
Conference