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Panelbericht: Europäische Missionare als Pioniere einer globalen Verflechtungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert

Autor / Autorin des Berichts: 
Lukas Zürcher, Universität Zürich



Zitierweise: Zürcher, Lukas: Panelbericht: Europäische Missionare als Pioniere einer globalen Verflechtungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, infoclio.ch Tagungsberichte, 2013. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0038>, Stand:


Verantwortung: Linda Ratschiller
Moderation: Patrick Harries
Referentinnen: Marcel Dreier / Richard Hölzl / Linda Ratschiller / Pascal Schmid / Wetjen Karolin
Kommentar: Siegfried Weichlein

Als Teil einer Geschichte des transnationalen Kulturkontakts, die den Fokus auf globale Verflechtungsprozesse legt, hat sich die Missionsgeschichte in den letzten Jahren aus der Ecke der Religions- und Kirchengeschichte gelöst und als Untersuchungsfeld für die Geschichte des Wissens etabliert. Im von LINDA RATSCHILLER (Université de Fribourg) organisierten und von PATRICK HARRIES (Universität Basel) moderierten Panel standen denn auch die Fragen nach Produktion, Transfer und Aneignung von Wissen im Zentrum.

KAROLIN WETJEN (Georg August Universität Göttingen) zeigte exemplarisch auf, wie vielfältig um 1900 im lutherisch geprägten, ländlichen Gebiet rund um Göttingen (Niedersachsen) die Äussere Mission mit Missionsvereinen, Nähkränzchen und Missionsfesten unterstützt wurde und wie ein an die Mission gebundener Wissenstransfer vom Globalen ins Lokale Vorstellungen vom „Eigenen“ und „Fremden“ formte. Insbesondere für den deutschen Sprachraum liegen dazu noch kaum wissenschaftliche Arbeiten vor. Ihre These, wonach die Unterstützung der Äusseren Mission im ländlichen Raum eng mit der Konstruktion der eigenen Identität und mit lokaler Religion und Kirchlichkeit verbunden war, untermauerte Wetjen vor allem mit der Analyse von Missionsfesten. An diesen Anlässen zeigte sich, wie lokale Gegebenheiten die Rezeption missionarischen Wissens strukturierten, und zwar unabhängig davon, welche konkreten geografischen Gebiete tatsächlich missioniert wurden. Die Missionare, die stets zur lutherischen Konfession gehörten und an den Missionsfesten die angeblich grosse Not in den „Missionsfeldern“ unterstrichen, konnten von der Festgemeinde „live als Helden“ erlebt und entsprechend verklärt werden, was der Selbstvergewisserung diente. Die Missionare erfüllten mit Bildern und Karten nicht nur die Erwartungen des lokalen Publikums nach Differenz, Exotik und Selbstbestätigung, sondern auch die Ziele der lokalen Kirchenleitungen, die mit den Festen für die Äussere Mission auch die Bindung des Publikums an die lokale Kirche stärken und damit Innere Mission betreiben wollten. Im Unterschied zu städtischen und kleinstädtischen Gebieten wurde eine Verflechtung zwischen Globalem und Lokalem im ländlichen Raum nur durch die Infrastruktur der Kirche möglich.

Auch LINDA RATSCHILLER setzte ihr Referat zur Präsenz Kameruns in Basel am Beispiel der ersten ethnografischen Ausstellungen der Basler Mission von 1908 bis 1912 in den Kontext einer Globalisierung des Wissens. Sie verfolgte die These, dass die damaligen Wissensbestände der Basler Missionare interaktiver und mobiler waren als andere Formen ethnologischen Wissens. Dazu analysierte sie unter den Stichworten Popularität, Materialität und Wissenschaftlichkeit Inhalt und Wirkung der Ausstellung, die mit ihrer nachgebauten kameruner Dorfstrasse sowie mit der hölzernen Götterfigur Dikoki allein 1910 in Basel und Deutschland über 250'000 Besucherinnen und Besucher anzog. Gründe für die Popularität der Ausstellung ortete Ratschiller nicht nur in der Anziehungskraft der Exotik oder der indirekten Zurschaustellung der eigenen Modernität angesichts der afrikanischen Rückständigkeit. Vor allem unterstrich sie, dass in der vermeintlichen Gründerzeit eines säkularen Zeitalters die ethnografische Missionsausstellung massenwirksam für religiöse Inhalte warb, indem sie zur Entzauberung Kameruns von Geheimbünden und Aberglaube sowie zur christlichen Erziehung und Erlösung der Menschen in Kamerun aufrief. Zur Materialität der Museumsstücke betonte Ratschiller, dass Artefakte auch als Mittler von Wissen fungierten, etwa indem Kleidungsstücke immer auch Kommunikationsmittel und Machtinstrument gewesen seien. Darüber hinaus war die Sammeltätigkeit von Artefakten stets abhängig vom Zugang zu lokalen Wissensbeständen. Dieser Zugang rund um den Globus machte die Missionare zu wertvollen wissenschaftlichen Beobachtern, was ihnen ein neues Tätigkeitsfeld und Zugang zu neuen Machtzentren eröffnete. Als besonders interaktive und mobile Wissensform habe die Missionsethnologie in Afrika zu säkularen Räumen und in Europa zur Entstehung moderner Wissenschaften beigetragen. Entsprechend sollten Missionare und Ethnologen als Akteure mit vielschichtigen und gegensätzlichen Absichten beschrieben und die Grenzen zwischen Religion und Wissenschaft sowie zwischen globalem und lokalem Wissen auf Durchlässigkeit und Schnittmengen untersucht werden.

RICHARD HÖLZL (Georg August Universität Göttingen) gliederte den Transfer von Wissensbeständen zwischen Europa und den verschiedensten „Missionsfeldern“ in Aussereuropa in eine Zeitspanne, die das 19. und frühe 20. Jahrhundert umfasste, und in eine Zeit nach 1920. Dabei argumentierte er, dass Missionare nach 1920 ihre Rolle als Informanten, Träger und Übersetzer von ethnografischem Wissen zunehmend an professionelle Völkerkundler verloren haben. Trotzdem, so die These, hätten die Missionare nach 1920 nicht aufgehört, differenziertes Wissen zu produzieren, wohl aber, dieses in Europa zu kommunizieren. Hölzl legte damit den Fokus auf nicht transferierbares Wissen, wobei er Wissen als verschriftlichte und der Wissenschaft zugängliche Informationen definierte. Am Beispiel der Benediktinermission in Südtanganyika zwischen 1900 und 1940 zeigte er, wie die dortigen Missionare akribisch Wissen über die Beschneidungs- und Pubertätsfeier Unyago, die sowohl für junge Männer und Frauen ausgerichtet wurde, generierten, diese Informationen dann aber in Europa nur in kleinen Missionszirkeln verbreiteten. Gründe für solche Transferblockaden, die Hölzl auch als Prozesse europäischer ‚Selbstprovinzialisierung‘ verstand, ortete er in der katholischen Sittlichkeit, die das ausführliche und differenzierte Berichten über sexuelle Praktiken verunmöglichte, sexuelle Vorbereitungen und Anleitungen zum Beischlaf als unchristlich taxierte und das Reden und Schreiben über Sexualpraktiken als eine Annäherung an das Heidentum empfand. Dabei unterstrich Hölzl, dass solches Wissen von den Missionaren nicht nur nicht weitergegeben wurde, sondern dass katholische Kreise auch wenig Empfänglichkeit für solche Inhalte zeigten.

MARCEL DREIER (Universität Basel) stellt in seinem Referat die These auf, dass die missionsmedizinische Praxis, wie sie zum Beispiel ab den 1930er-Jahren in Tansania von Schweizer Baldegger-Schwestern betrieben wurde, den Grundstein heutiger Gesundheitssysteme legte. Als Entwicklungshilfe avant la lettre habe die sogenannte Missionsmedizin Modelle und Ideale der ländlichen Gesundheit, die in Afrika im 20. Jahrhundert umgesetzt wurden, massgeblich mitbestimmt. Die Missionsmedizin ging dabei vom Verständnis aus, dass physische Gesundheit Grundlage für eine neue Lebensführung in christlichem Sinne sei. Mit seinen Ausführungen hinterfragte Dreier nicht nur den angeblichen Pioniercharakter postkolonialer Entwicklungshilfe, sondern argumentierte, dass die „Mutter-Kind-Gesundheit“, die heute Teil einer Weltkultur sei, was sich unter anderem in den Millenniumsentwicklungszielen 4 und 5 manifestiere, ihren Ursprung unter anderem in Kliniken wie der Frauenklinik von Ifakara in Tansania habe. In solchen Institutionen sei Gesundheitswissen nicht nur feminisiert, sondern auch reformiert worden. „Europäisches Gebären“ zum Beispiel unterschied sich von anderen Geburten nicht nur durch neue medizinische Apparaturen und weisse Laken, sondern auch durch Gebärpositionen, Ernährungsformen oder den Umgang mit der Plazenta. Abschliessend betonte Dreier transnationale und interkontinentale Verbindungen und Lernprozesse, die bis nach Papua-Neuguinea reichen konnten und die dem Wandel der Gesundheitsdienste im 20. Jahrhundert zugrunde lagen.

In seinem Kommentar unterstrich SIEGFRIED WEICHLEIN (Université de Fribourg), dass die Beschäftigung mit Missionsgesellschaften ein Wachstumsgebiet der Geschichtswissenschaft und mittlerweile wichtiger Teil der Wissensgeschichte sei. Dabei sei es kein Zufall, dass in der aktuellen Wissensgesellschaft Religion wie Wissen historisiert werde. Als referatsübergreifende Punkte betonte Weichlein, dass die Mission nicht zur Verzauberung, sondern zur Entzauberung der Welt beitrug und die Rationalisierung des Wissens vorantrieb. Auffällig sei dabei, dass sich zumindest in diesem Panel die Rationalisierung des Wissens in erster Linie auf Körperpraktiken beziehe. Definitionsbedarf ortete Weichlein bei dem Begriff „Global“ und fragte unter anderem, ob monotheistische Religionen nicht konstitutiv global seien oder ob sich das protestantische Globale von katholischen unterscheide. Vor einer „Reifizierung des Globalen“ warnte Weichlein ausdrücklich.

Panelübersicht:

Karolin Wetjen: Lokal und doch Global. Die Unterstützung der Äußeren Mission im ländlichen Protestantismus um 1900.

Linda Ratschiller: Kamerun in Basel. Die ethnographischen Ausstellungen der Basler Mission (1908 – 1912).

Richard Hölzl: Jenseits des Transfers? Informationspolitik und Wissensmanagement einer katholischen Mission zwischen Mitteleuropa und Tanganyika (1920-1940).

Marcel Dreier: Vom Buschdoktor zum Entwicklungshelfer. Missionsmedizinische Praxis und Netzwerke 'Globaler Gesundheit'.

Veranstaltung: 
3. Schweizerische Geschichtstage 2013
Organisiert von: 
Departement für Historische Wissenschaften der Universität Freiburg / Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG)
Veranstaltungsdatum: 
08.02.2013
Ort: 
Fribourg
Art des Berichts: 
Conference