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Panelbericht: ‚Und’ statt ‚oder’: Die Anarchistische Bewegung des Fin-de-Siècle als Beispiel für Soziale Bewegungen jenseits des antagonistischen Dualismus global – lokal

Autor / Autorin des Berichts: 
Felix Brun, Universität Bern



Zitierweise: Kühnis, Nino: Panelbericht: ‚Und’ statt ‚oder’: Die Anarchistische Bewegung des Fin-de-Siècle als Beispiel für Soziale Bewegungen jenseits des antagonistischen Dualismus global – lokal, infoclio.ch Tagungsberichte, 2013. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0032>, Stand:


Verantwortung: Kühnis Nino
Referentinnen: Enckell Marianne / Feller Adrian / Hoyt Andrew. D / Kühnis Nino
Kommentar: Portmann Werner

Während der Begrüßung weist NINO KÜHNIS darauf hin, dass die Thematik global-lokal in der Anarchismusgeschichte immer wieder aufgegriffen wird. Er erwähnt folgende Aspekte:
1) AnarchistInnen orientieren sich meistens global wie auch lokal
2) AnarchistInnen kämpfen global wie auch lokal gegen Repression
3) Sie verfügen über globale wie auch über lokale Netzwerke

In seinem Referat „Rollen des Nationalen im Anarchismus der Schweiz im Fin-de-Siècle“ geht Nino Kühnis genauer auf die erwähnten Aspekte ein.
Kühnis erwähnt, dass der Begriff Anarchismus seit je her negativ konnotiert sei. Ab den 1880er Jahren nimmt aber der Druck auf die AnarchistInnen zu, die Repression führt zu Ausweisungen und Überwachung. Kühnis stellt die These auf, dass die Kollektive Identität für die AnarchistInnen im Fin-de-Siècle eine zentrale Rolle gespielt habe. Hierfür sammelte er verschiedene Abstrakta, vor allem anarchistische Zeitungen. Für Kühnis sind negative wie auch positive Hypergüter (Begriffe), Emotionalien, Traditionalismen wie auch Framing Prozesse (Prozesse der Abschottung) wichtig gewesen für die Fundierung seiner These. Als ein negatives Hypergut bezeichnet er die Rolle des Nationalen: Der Begriff (Vaterland) wird in Anarchistenkreisen negativ verwendet. Trotzdem findet sich laut Kühnis ein widersprüchliches Verhalten (Nationale Rekuperation) der AnarchistInnen zum Begriff, sehen sie sich doch als Schweizer, welche die ehrenhaften Taten der alten Schweizer (z.B.: Wilhelm Tell) weiterführen wollen.

ANDREW D. HOYT untersucht in seinem Referat, inwiefern die Italienischen Anarchisten Luigi Galleani und Carlo Abate Teil von lokalen wie auch globalen Netzwerken waren. Für Hoyt sind die italienischen Migranten in Vermont häufig mit zwei Identitäten konfrontiert: Der lokalen Identität ihrer neuen Heimat (Barre, Vermont) und der globalen Identität ihrer alten Heimat (Norditalien). Er sieht die beiden Anarchisten daher als „transnational migrants“ und versucht dies mittels der Zeitung Cronaca Sovversiva, als deren Herausgeber Galleani und Abate zeichnen, genauer zu begründen. Der Ort Barre und das Haus, in dem die Zeitung (in Italienisch) gedruckt wurde, wurden zu einer wichtigen Anlaufstelle für italienische Migranten. Viele dieser Migranten wurden schließlich 1917-1919 von den amerikanischen Behörden zurück nach Italien ausgeschafft, auch Galleani.

Im Referat „Ausweisungen von Anarchisten von 1885-1898 aus der Schweiz“ beschäftigt sich auch ADRIAN FELLER mit Praktiken der Behörden, AnarchistInnen auszuweisen. Von diesen Ausweisungen waren laut Feller meist Männer betroffen. Feller untersuchte verschiedene Quellen aus dem Bundesarchiv. Die Kantone reagierten sehr unterschiedlich auf anarchistische Bedrohungen, manche (Zürich und Genf) gingen sehr repressiv gegen AnarchistInnen vor, viele andere wiederum führten kaum Ausweisungen durch. Bis zur Schaffung der Bundesanwaltschaft 1898 wurden die Informationen vor allem kantonal gesammelt. Als 1885 Drohungen auftauchten, das Bundeshaus zu sprengen, beschäftigte sich in Bern die Polizei intensiv mit Anarchismus. Schweizweit wurden nach diesem Vorfall 21 Personen ausgewiesen. Auch nach dem Attentat auf die österreichische Kaiserin Elisabeth in Genf 1898 wurden offiziell über 30 AnarchistInnen ausgewiesen, viele wurden aber von den Behörden gar nicht gefunden. Die Folge der Repressionen in den Städten war, dass die AnarchistInnen in andere Kantone auswanderten.

Dass Anarchismus um die Jahrhundertwende in der Schweiz eine wichtige Auseinandersetzung war, erläutert MARIANNE ENCKELL. Sie meint, dass die Anfänge des Anarchismus in der Schweiz zu finden seien. Im Vergleich zu anderen Arbeiterorganisationen sei die 1872 gegründete Juraföderation horizontal organisiert gewesen und widersetzte sich daher auch der Ersten Internationalen mit ihrer zentralen Organisation. Die Schweiz diente, so Enckell, für viele Antiautoritäre als Fluchtort, sie kamen vor allem aus Spanien und Frankreich. Viel ist nicht bekannt über die erste Versammlung der Juraföderation. Logiert wurde im Hotel de Ville, häufig wanderte man von Neuenburg oder La Chaux-de-Fonds nach St. Imier. St. Imier diente fortan als „Ort der Korrespondenz“, das Bulletin der Juraföderation wurde größtenteils ins Ausland geliefert. Das kleine St. Imier wurde im Ausland sehr stark wahrgenommen. Hier spiegelt sich also die Thematik global-lokal schön wider.

In seinem Kommentar nimmt WERNER PORTMANN kritisch Bezug auf die Referate. Zu Kühnis meint er, dass die Überwachung nicht wie erwähnt engmaschig gewesen sei, sondern dass der Polizeiapparat bis dahin nur schwach ausgeprägt war. Er sieht auch eine gewisse Problematik darin, dass Kühnis die anarchistische Bewegung in ein Modell (Kollektive Identität) zwingen wolle. Weiter solle Kühnis auch vermehrt Konkreta (Briefe etc.) und nicht nur Abstrakta (Zeitungen) berücksichtigen. Portmann zweifelt zudem, ob die untersuchten Zeitungen tatsächlich so anarchistisch gewesen waren wie von Kühnis dargestellt.
Zum Referat von Andrew Hoyt meint Portmann, dass es wenig transnationale Verbindungen gegeben habe. Man sei eher national orientiert gewesen. Er erklärt, dass eher die Migrationsthematik die Menschen zusammengebracht hätte, nicht politische Ansichten. Die Zeitungen seien aber tatsächlich sehr wichtig gewesen für die verschiedenen Verbindungen, Portmann spricht von „Zeitungsparteien“. Der Vernetzung seien aber wiederum auch ideologische Grenzen gesetzt gewesen.
Die von Feller angesprochene Diskrepanz zwischen städtischen und ländlichen Ausweisungspraktiken sei nicht zwingend ein Abbild der Realität, so Portmann. Er solle sich noch mehr auf kantonale Archive stützen, das würde ein anderes Bild ergeben. Häufig sei aber, da gibt Portmann Feller Recht, auf dem Land die Sensibilität für Anarchismus auf Seiten der Behörden geringer gewesen als in der Stadt. Dass manche Anarchisten nicht ausgewiesen wurden, habe auch mit der sozialen Stellung zu tun. Bei prominenten Anarchisten scheute man sich laut Portmann eher, sie auszuweisen.
Zur globalen Orientierung der Anarchisten in St. Imier sagt Portmann, dass die Anarchisten nur langsam begonnen hatten, sich global zu orientieren. Man solle außerdem bei der Geschichtsschreibung über die Anfänge des Anarchismus Proudhon nicht vergessen und sich nicht nur auf Bakunin stützen. Proudhon war vor allem in Spanien aktiv.

Panelübersicht:

Andrew D. Hoyt: Bridging the Divide: The Local and the Global in the Transatlantic Anarchist Counter-Public

Adrian Felelr: Lokale Urteile - globale Auswirkungen: Ausweisungspraxis von Anarchisten aus der Schweiz 1885-1898

Marianne Enckell: Saint-Imier, lieu de naissance de l’anarchisme

Nino Kühnis: Lokales fürs Globale? Rollen des Nationalen für die anarchistische Kollektive Identität in der Schweiz des Fin de Siècle

Werner Portmann: Kommentar

Veranstaltung: 
3. Schweizerische Geschichtstage 2013
Organisiert von: 
Departement für Historische Wissenschaften der Universität Freiburg / Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG)
Veranstaltungsdatum: 
07.02.2013
Ort: 
Fribourg
Art des Berichts: 
Conference