Thema:
Das Forschungsprojekt „Das niedere Schulwesen in der Schweiz am Ende der Frühen Neuzeit. Edition und Auswertungen der Stapfer-Enquête von 1799“ befasst sich mit der Stapfer-Enquête von 1799, die mit einem standardisierten Fragebogen die Lehrpersonen in der damaligen Schweiz befragte.
Von rund 2400 Schulen sind die Antworten vorhanden. In den Jahren 2009-2012 wurde rund die Hälfte der Antwortschriften der Stapfer-Enquête transkribiert. Parallel dazu verfassten vier Doktorierende eine Dissertation. Zum Abschluss der ersten Phase des Projektes fand eine Abschlusstagung vom 6. bis 8. Sept. 2012 statt mit den Resultaten aus den Dissertationen sowie von ausgewiesenen internationalen Fachexpertinnen und –experten.
Tagung:
Eröffnet wurde die Tagung mit einem Referat von Prof. Dr. Danièle TOSATO-RIGO von der Universität Lausanne. Der Titel des Referats lautete: „La figure de l’instituteur sous le régime helvétique: nouvelles attentes, anciens usages“. Danièle Tosato-Rigo ging vorerst auf den Begriff von «institution» ein und erläuterte, dass dieser Begriff in Bezug zu Lehrpersonen und der Idee der Verbindung von Politik und Schule neu gedacht wurde, indem beispielsweise im Term „instituteur“ die Wende im Profil der Lehrperson als „functionaire d’état“ sichtbar wird. Ausserdem wollte Philipp Albert Stapfer Staatsgelder für die Schulbildung verwenden und richtete seine Umfrage zur Schule direkt an die Lehrpersonen und nicht an die Pfarrer. Bei den eingereichten Projekten, welche zur Förderung der Bildung und der Verbesserung der Schulen, dem Erziehungsminister Ideen unterbreiteten, wurden Lehrerseminare sehr oft vorgeschlagen oder verlangt. Die Wahrnehmung des „instituteurs“ wurde durch den Begriff „education“ verändert, andrerseits war die Idee des Lehrers als Vaterperson nicht neu.
Jens MONTANDON (Universität Bern) referierte zu „Die Organisation von Schule aus gemischtkonfessioneller Perspektive. Eine Bestandesaufnahme über das Schweizer Schulwesen anhand der Stapfer-Enquête von 1799.“ Die konkrete Ausgestaltung von Schule und Schule halten in den Dörfern und Städten des Landes unterlag einer Vielzahl von Einflussfaktoren, die sich auf das Bildungsangebot ausgewirkt haben. Das Resultat der Bildungsbemühungen unter diesen mannigfaltigen Einflussfaktoren findet sich zum Teil in der Stapfer-Umfrage wieder und kann mit dem Datenmaterial von 1638 ausgewerteten Schulen in einem Überblick nachgezeichnet werden. Im Referat an der Abschlusstagung wurden aus allen vier Hauptthemen vier Teilresultate zu den Schulfächer, Schuldauer, Schulmeistern, Schulkindern kurz dargestellt. Beispielsweise konnte Montandon zeigen, dass bei den Schulfächer das Schreiben konfessionsübergreifend war. Ausserdem war es fast in der ganzen Schweiz flächendeckend im Angebot der niederen Schulen enthalten. Einzige erkennbare Ausnahmen bildeten abgelegene inneralpine Bergregionen.
Prof. Dr. Holger BÖNING von der Universität Bremen stellte in seinem Referat Überlegungen zu den Zusammenhängen von Aufklärung und Schulwesen an. In den frühen Volksaufklärungsschriften wird in der Regel ein desolates Bild des ländlichen Schulwesens gezeichnet. Der Bauerstand sei generell ungebildet, weil falsch unterrichtet, und verstehe nichts von der ökonomischen Nutzung des Landbaus. Um 1750 rückte das Schulwesen mit seinen Akteuren in den Fokus der gemeinnützig-ökonomischen Aufklärung. Trotz einsetzender Wertschätzung und Aufsehen erregenden Schulentwicklungen in Europa wurde die Figur des Schulmeisters oft als Aufzuklärenden, zu Belehrenden und als Gehilfe des Pfarrers betrachtet; erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet sich in der unzähligen volksaufklärerischen Literatur sowie in Erzählungen und Romanen das Wunschbild des aufgeklärten und vernünftigen Schulmeisters, der zunehmend zu professionalisieren und von der geistlichen Anleitung mehr und mehr zu emanzipieren war.
Ingrid BRÜHWILER (Universität Luxemburg) stellte einige Resultate aus ihrer abgeschlossenen Dissertation vor. Den Fokus legte sie im Referat mit dem Titel „Schwache Schulen und arme Lehrer? Sozioökonomische Aspekte des Bildungswesens in der helvetischen Republik.“ vorerst auf die Hauptbefunde der Arbeit und erläuterte einzelne Ergebnisse vertieft. Sie konnte aufzeigen, dass die generalisierende These der schwachen Schulen und armen Lehrern auf der Grundlage einer vertiefenden Analyse der Stapfer-Enquête nicht verteidigt werden kann. Es konnten fünf Hauptfaktoren identifiziert werden, die den Lehrerlohn prägten, die allerdings von Region zu Region unterschiedlich gewichtet waren und deren gegenseitige Wechselwirkung alternierte: die Stadt-Land-Zugehörigkeit, der Schulkombinationstyp, die politische Geschichte des Ortes, Kapitalgrösse und Ressourcenvielfalt und organisationsstrukturelle Möglichkeiten. Weitere Faktoren, die in einzelnen Regionen wichtiger sein konnten als in anderen, aber insgesamt weniger bedeutungsvoll waren wie die Hauptbefunde, waren: persönlicher Werdegang der Lehrperson (beispielsweise der Beruf, den die Lehrkraft vorher ausübte oder ob eine Lehrperson zu den geistlichen Lehrern gehörte), Fächerangebot, Dauer der Schule (beispielsweise Anbieten einer Sommerschule, Gesamtjahresschulstunden), Nebentätigkeit, Alter und Anzahl Dienstjahre. Der Lehrerlohn wurde nicht von der Konfession und die Anzahl Familienmitglieder (somit eine Art Kinderzulage), die es zu unterstützen galt, geprägt.
Prof. Dr. Reinhart SIEGERT (Universität Freiburg, D) stellte in seinem Vortrag eine Reihe von gelehrten Bauern und Handwerkern vor, die sich, im Unterschied zum gängigen Klischee des illiteraten und ungebildeten Landmannes, durch eigene Gedichte und/oder durch enorme Büchersammlungen ausgezeichnet haben. Siegert appellierte mit seinen Ausführungen, dass es neben der schreibenden und lesenden „Elite“ auch noch die „Unscheinbaren“ gab. Er zeigte, dass die Gegenüberstellung von „ungebildetem Volk“ zu „Bildungselite“ für den deutschen Sprachraum nicht stimmt. Für die Zeit um 1800 zeichnete er ein vielfältiges Bild von gelehrten Bauern und Handwerkern. Derartige Quellen dekonstruieren das Bild vom geistig uninteressierten und stumpfsinnigen Bauern und belegen eine Volksbildung, die von der Schule praktisch unabhängig war.
Dr. Rebekka HORLACHER von der Universität Zürich hielt ihr Referat zu „Pestalozzi und die Lehrer um 1800“. Sie legte dar, dass bezüglich der Schulhoheit am Ende des 18. Jahrhunderts ein Vakuum herrschte und somit ein vielfältiges Privatschulwesen ermöglicht wurde, so auch die Ausbildungsstätte von Pestalozzi für Lehrer und Schüler. Rebekka Horlacher wertete die Hälfte der Namen der Antwortbögen auf Hinweise nach Pestalozzi aus, was rund 1200 Lehrpersonen entspricht. Sie fand nur vier Lehrer und somit nur Einzelfälle, die namentlich einen direkten Bezug zu Pestalozzi hatten. In ihrer Funktion waren es nicht „typische“ Schullehrer, was vielleicht sehr „typisch“ für die Zeit um 1800 war. Diese Lehrpersonen waren an unterschiedlichen Fragen interessiert, die sich als „Methode und Didaktik als Schulreform“ (Schullehrer Büel aus Hemishofen, Kanton Schaffhausen, ehemalige Gerichtsherrschaft der Stadtrepublik Zürich), als „professionalisierte Ausbildung als Schulreform“ (Dänliker aus Uerikon und Krüsi aus Gais) und „institutionalisierte Lehrerbildung als Schulreform“ (Hans Georg Kappeler, Frauenfeld) charakterisieren lassen. Somit unterschieden sich alle in der Idee der Professionalisierung. Alle vier Lehrer veröffentlichten Schriften zur Schulreform. Aus den Befunden lässt sich zeigen, dass der Lehrer als organisierter Mitgestalter erst am Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet war und sich die Lehrpersonen um 1800 eher mit alltäglichen Problemen beschäftigten.
Markus FUCHS von der Universität Bern referierte zu „Lehrerinnen- und Lehrerperspektiven um 1800“, seinem Dissertationsthema. Die thematische Analyse dieser zusätzlichen Anmerkungen legt die verbreitetesten Anliegen der Lehrpersonen offen. Besondere Beachtung wurde den in den Anmerkungen auffindbaren und von den Lehrpersonen geäusserten pädagogischen und politischen Diskursen geschenkt, die in ihrem regionalen Kontext interpretiert werden. Drei Fragen leiten im Wesentlichen durch die Untersuchung: 1) Nahmen die Lehrerinnen und Lehrer Bezug auf die in gebildeten Kreisen diskutierten Erziehungskonzepte? 2) Wie artikulierten sich die Lehrpersonen gegenüber den anstehenden schulischen Reformen? Welche Haltung nahmen sie gegenüber organisatorischen Veränderungen ein? 3) Wie schätzten sie ihre eigene Position im sich neu formierenden Volksschulwesen ein? Insgesamt machten 18.6% der Lehrer und Lehrerinnen Anmerkungen, was rund 420 Lehrpersonen entspricht.
Prof. Dr. Daniel TRÖHLER (Universität Luxemburg) erläuterte in seinem Referat „Die Schule und ihre Kritiker um 1800“ die These, dass die massive pädagogische Publizistik ein Teil einer diskursiven Bewegung war, die in der neueren Forschung als „Pädagogisierung sozialer Probleme“ wahrgenommen wird. Tröhler beleuchtete mit fünf Aspekten die allgemeine Resonanz in verschiedenen Zeitschriften: 1. Materielle Aspekte des Lehrberufs: Entlöhnung und Schulhaus: rund 2/3 der Bemerkungen der Lehrpersonen betrafen materielle Sorgen. Auch im „Helvetische Volksblatt“ wurden Forderungen zur anständigen Besoldung und einer Pension ab 65 Jahren laut. 2. Der Aspekt der Schüler-Absentismen und die Rolle der Eltern wurde in Zeitschriften oft alltagsfern abgehandelt, wie beispielsweise dass Lehrpersonen von einer elternfreien Welt träumten. 3. Curricularen Fragen beinhaltete beispielsweise die Absicht Stapfers die Lehrer und Bürger über Zeitungen zu aktuellen Themen zu informieren. Zusätzlich konnte im Referat anschaulich dargestellt werden, dass in der Organisation von Unterricht kein Unterschied zwischen privat und öffentlich gemacht wurde. Ebenso erfolgte keine Trennung von Schule und Kirche. 4. Bei der Auslegung von Schule und öffentliche Rolle der Lehrer konnte Tröhler darlegen, dass teilweise fast wortgleiche Antworten von Lehrern vorkamen. Dies lässt auf eine kleinräumliche Absprache schliessen. Unter 5. Republik, schulpolitische Publizistik und Pädagogik wurde der Aspekt der Lehrer, welche an berufsbegleitender Lehre interessiert waren, erläutert.
Prof. Dr. Stefan EHRENPREIS von der Universität München referierte über „Die Rolle der frühneuzeitlichen Katechese als Bindemittel zwischen Schule und reformierten Gemeinden in der Schweiz und im Alten Reich“. Ehrenpreis betonte, dass im alten Reich eine erstaunliche Fülle an protestantischen Katechismen und ähnlichen Texten im Vergleich zum restlichen Europa vorkamen. In der Schweiz waren Heidelberger Katechismen vorherrschend, zu welchem auch der Züricher Katechismus gezählt werden kann, da inhaltlich die Unterschiede nur gering waren. Die Verwendung der Katechismen durch Anleitung der Pfarrer und/oder Lehrer war sowohl in Deutschland wie in er Schweiz dieselbe. Ebenso war die Zulassung zum Abendmahl in beiden Ländern über ein Katechismusexamen geregelt. Insgesamt stellte die Katechese ein Bindeglied zwischen Schule und Gemeinde dar.
Peter BÜTTNER (Universität Zürich) versuchte in seinem Referat den Schreibunterricht anhand eines 3-Phasen-Modells zu veranschaulichen, indem er die verschiedenen Lehrstufen, wie er sie phänomenologisch aus der Stapfer-Enquête ableitete, beschrieb. Obwohl es für die meisten Schulen noch keine verbindlichen und einheitlich abgefassten Schreiblehren und Schulschriften gab, haben sich um 1800 bestimmte Schreiblehrmethoden in den Schulen durchsetzen können. Das Abschreiben und Kopieren vorgeschriebener oder gestochener Musterblätter bildete die Basis eines jeden Schreibunterrichts. Je nach den Fähigkeiten, dem Können und den Erfahrungen der Schulmeister war besonders der Schreibunterricht für fortgeschrittene Schüler didaktisch und inhaltlich komplex und somit das Schreibenlernen kein ausschliessliches Kopieren mehr. Büttner stellte dar, dass leicht übersehen wird, dass sich die Schüler keine für die individuelle Gestaltung und Weiterentwicklung vereinfachte Ausgangsschrift aneignen sollten, sondern eine vollendete, gut lesbare Schönschrift.
Prof. Dr. André HOLENSTEIN von der Universität Bern erläuterte in seinem Referat mit dem Titel „Staat und Wissen. Zum verwaltungsgeschichtlichen Kontext der Stapfer-Enquête“ zuerst den Begriff des Wissens und zwar hinsichtlich der staatlichen Instanz (Macht), der Inkorporierung (geistige Kompetenz, Wissensgeschichte) und der Normativität (Wahrheitsfindung). Rund 20 Enquêten wurden in der Zeit der Helvetik von der Zentralregierung erhoben, davon fanden rund ¾ der Umfragen zwischen dem April 1798 bis zum April 1799 statt. Zur Kultur und dem Schulwesen initiierte Stapfer fünf grosse Umfragen, die seinen rationalistischen Reformgeist zeigten. Es stellt sich die Frage, warum die Zentralregierung diese Umfragen so detailliert eingeführt hatten. Mögliche Antworten sind: Politik seriös zu betreiben, neue Ära des Landes mittels einer zentralistischen Politik zu eröffnen, die Vergleichbarkeit der Regionen zu erhöhen, Raum schaffen um zu polemisieren und Umsetzungen zu planen. In der Zeit der Helvetischen Republik selbst wurden die Umfragen nicht genutzt, da das Ende der Republik bereits 1803 ausgerufen werden musste.
Prof. Dr. Heinrich Richard SCHMIDT (Universität Bern) erläuterte in seinem Referat mit dem Titel „Der Stand der Alphabetisierung in der Schweiz und Südwestdeutschland um 1800“ vorerst die Schenda-These vom „Volk ohne Buch“, die heute zwar als vielmächtig wahrgenommen wird, aber als widerlegt gilt. Vertieft geht er auf verschiedene Aspekte ein, wie beispielsweise der hohen Alphabetisierungsrate in der Landschaft Basels im 18. Jahrhundert oder der Auslegung von Kirchenzuchts-Sitzungsprotokollen in Davos vom 19. Jahrhundert. Seine Thesen belegt Schmidt vorwiegend mit Resultaten von Lizentiats- und Seminararbeiten seiner Studierenden. Die Aspekte religiöse Motivation, ökonomische Grundlagen und aufklärerische Ideen erachtet er als besonders ergiebig und wichtig.
Das Abschlussreferat am Samstagmorgen hielt Prof. Dr. Fritz OSTERWALDER (Universität Bern) zu „Der rationale Staat, die rationale Schule – ein helvetisches Programm“. Die Helvetische Republik lanciert in der Schweiz ein neues, umfassendes Konzept eines demokratischen, einheitlichen Bildungssystems, das von der allgemeinen Primarschule bis zur nationalen Universität reicht und auf der Basis der Rechtsgleichheit und der Menschenrechte allen zugänglich sein soll. Dieses Konzept diente bis weit ins 19. Jahrhundert allen kantonalen und nationalen Bildungsreformern als Referenz. Umso erstaunlicher ist allerdings angesichts dieser grundlegenden politischen Bedeutung, dass sich in der helvetischen Elite, weder während der Zeit der Republik noch in der folgenden Mediation und Restauration keine Diskussion darüber findet. Während die wichtigsten Akteure, die in der Zeit der Republik im Sinne des Konzeptes wirkten, auch in der Folgezeit sich alle bildungspolitisch betätigten und einander darüber informierten, bleibt jede Diskussion über die Grundlage aus. Einzig die Gründung von kantonalen Universitäten in Zürich und Bern, lässt sie auf die Bedeutung des Konzepts der nationalen Universität zurückkommen. Im Referat wurde nachgezeichnet, dass der Kreis um den Bildungsminister Stapfer in diesem Projekt einen prekären Kompromiss sah, der zuliess, aus ganz unterschiedlicher Perspektive den Ausbau des Bildungswesens voranzutreiben, der aber nicht durch eine weitere Diskussion bzw. Präzisierung gefährdet werden sollte.