Am diesjährigen Workshop der Gesellschaft für Pflegegeschichte (GPG-HSS) standen Objekte aus den verschiedenen medizinischen Pflegeberufen und die Frage nach ihrer Verwertbarkeit für die Erforschung der Geschichte eben dieser Berufe im Fokus. Die Erforschung materieller Kulturen hat seit rund zwei Jahrzehnten einen festen Platz in der Sozialgeschichte der Medizin, wobei Methoden aus den Science and Technology Studies (STS) sowie der (Sozial-)Anthropologie und der Ethnologie kombiniert werden. Die Teilnehmenden des Workshops stammen aus den Disziplinen Geschichte, Soziologie, Hebammenwissenschaft und Ergotherapie. Am Vormittag diskutierten sie die sich wandelnden Zusammenhänge zwischen den Gegenständen und den jeweiligen Berufsidentitäten. Am Nachmittag stand die Rolle von Objekten beim Management von Krankheiten durch Berufsleute und Patientinnen und Patienten im Zentrum. HUBERT STEINKE (Bern) betonte in seiner Einleitung, dass insbesondere “Object driven research” produktiv sei, um Praktiken und Selbstverständlichkeiten in Forschung und Berufsverständnis in Frage zu stellen. Man müsse also weniger nach Objekten der Bestätigung suchen, sondern Gegenständen des Anstosses folgen, die Bekanntes entfremden und so zu neuen Sichtweisen anregen.
CORINNE DORIA (Paris/Milano) zeigte anschliessend, wie erst die Erfindung des Ophthalmoskops die Erforschung des Innern des Auges ermöglichte. Charles Babbage und andere hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits beleuchtete Blicke auf den Augenhintergrund getan, breite Anerkennung mit seinem Ophthalmoskop erfuhr 1850/51 aber erst der hauptsächlich an Physik interessierte Augenarzt Hermann von Helmholtz, der als Erfinder des Instruments gilt. Die erst wenig überzeugenden Geräteausführungen wurden bald verbessert, Anzahl und Ausführung der unterschiedlichen Modelle explodierten bis 1900. Jeder Ophthalmologe, der etwas auf sich hielt, entwickelte sein eigenes Exemplar. Darin liegt die zweite wichtige Funktion des Geräts: seine Bedeutung für die Berufsidentität der Augenärzte. Das neue Instrument unterschied die Ophthalmologen von gewöhnlichen Optikern und erhöhte ihre eher schwache Reputation gegenüber anderen medizinischen Disziplinen. Das Ophthalmoskop war nicht leicht zu bedienen und die Disziplin formte sich rund um die richtige Handhabung des Instruments. Gelang sie, war die für die Medizin wichtige Wende hin zu objektiven Aussagen über ein Auge geschafft. Denn damit konnte nun der Arzt die Sehkraft objektiv beurteilen und war nicht mehr auf die subjektiven Erklärungen des Patienten angewiesen. Doria folgerte schliesslich für das Beispiel des Ophthalmoskops, dass mithilfe dieses Instruments der Arzt zu einem Subjekt und das Auge zu seinem Objekt wurde.
THERESE HAILER (Winterthur) zeigte in ihrem Beitrag, dass nicht nur materielle Instrumente, sondern auch Praktiken die Identität eines Berufs zentral formten. 1894 wurde die heute als “Leopold-Handgriffe” bekannte Methode, mit der Hebammen Schwangeren den Bauch abtasten, in Christian Leopolds Schulbuch aufgenommen. Die vier Handgriffe dienen der Bestimmung der Schwangerschaftsdauer, der Beurteilung der Lage des Kindes und liefern während der Geburt Informationen über den Eintritt des Kindes ins Becken der Mutter. Die Griffe waren bereits vor ihrer Kodifizierung beschrieben worden, jedoch nicht so systematisch wie Ende des 19. Jahrhunderts durch Leopold und ohne Querbezug zum Kindbettfieber. Sie prägten fortan das Selbstverständnis der Hebammen.
Die Leopold-Handgriffe werden noch heute an Hebammenschulen gelehrt. Sie sind über hundert Jahre die gleichen geblieben, wie Hailer in ihrer Untersuchung von Schulbüchern zeigte. Im Laufe der Zeit änderte sich jedoch die Beschreibung bzw. die Deutung und somit der Zweck der Praktik. Heute werden die Handgriffe beispielsweise an den Schulen als eine Möglichkeit gelehrt, um die Beziehung und das Vertrauen zwischen der Hebamme, der Frau und dem Kind zu vertiefen. Während der Ultraschall und sichere vaginale Untersuchungsmethoden die Informationen über Schwangerschaft und Geburt liefern, bringe das Tasten das Kind vom Monitor in den Bauch zurück, erläuterte Hailer. Besondere Bedeutung kommt der Methode heute immer noch in Ländern mit geringerer Ultraschallgeräte-Verbreitung zu, wo Hebammen weiterhin mit manuellen Untersuchungen zu den nötigen Informationen über den Geburtsverlauf kommen. In der Diskussion wurde ergänzt, dass der deutsche Hebammenverband kürzlich beantragt hat, die Hebammenkunst (u.a. die Leopold-Handgriffe), eine Arbeitsweise mit den Händen, als immaterielles Gut ins UNESCO-Weltkulturerbe aufzunehmen.
Ebenfalls mit dem Hebammenberuf und mit einer Praktik als Untersuchungsgegenstand beschäftigte sich MAGALI BONZON (Yverdon-les-Bains): mit der Naegele-Regel. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Menstruation im 18. Jahrhundert und erste Überlegungen zur Bestimmung der Fruchtbarkeit führten zur Naegele-Regel. Sie stellt einen Algorithmus dar, den Hebammen seit 200 Jahren mit zwei drehbaren Kartonscheiben simulieren, um den Geburtstermin zu ermitteln. Die Naegele-Regel ist allerdings in manchen Fällen nicht sehr präzise und wird seit den 1970-Jahren durch den Ultraschall ergänzt. Man hat festgestellt, dass Ende des dritten Schwangerschaftsmonats alle Föten ungefähr gleich gross sind. Die Bedeutung einer möglichst exakten Berechnung des Geburtstermins ist weniger für die Geburt selbst wichtig, sondern wegen der Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft. Zur falschen Zeit ausgeführt, liefern diese Untersuchungen falsche Ergebnisse oder können gar gefährlich sein. Bei Abtreibungen müssen ebenfalls genaue Fristen eingehalten werden.
Heute sei zudem die Tendenz feststellbar, dass nach Verstreichen des Geburtstermins früher eingeleitet werde, obwohl das, so Bonzon, eine schwerwiegende Entscheidung sei, da eine Geburt durch eine Einleitung von einer physiologischen zu einer pathologischen würde, was eine Reihe von Konsequenzen und auch Risiken mit sich bringe. Bonzon schlug vor, die mathematische Naegele-Logik könnte bei einer Spitalgeburt von der Hebamme ergänzt und korrigiert werden, indem sie von der Frau beobachtete Informationen zu ihrem Zyklus, der Schwangerschaft und dem Befinden einbringe. In der Schweiz sei dafür das Haupthindernis, dass nur rund sechs Prozent aller Schwangerschaften von Hebammen begleitet würden, die übrigen von Ärztinnen und Ärzten.
LUCETTE AUBORT und KIM ROOS (beide Winterthur) referierten anschliessend über die Ergotherapie. Diese Therapieform stellt seit ihren Anfängen im weitesten Sinne Hilfsmittel für Patientinnen und Patienten her, sie ist eine eigentliche “Dingtherapie”. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand das Behandlungsverfahren aus handwerklicher Betätigung wie etwa Korbflechten oder Sticken. Gerade Langzeitpatienten, die häufig viel liegen mussten, waren darauf angewiesen, einen Teil der Kosten ihres Klinikaufenthalts durch Arbeit zu begleichen. Die Ergotherapeutinnen und -therapeuten halfen ihnen dabei, indem sie ihnen ermöglichten, handwerkliche Erzeugnisse zu produzieren. Auch sie selbst finanzierten sich durch den Verkauf handwerklicher Produkte oder durch die Organisation von Freizeitausflügen für die Patientinnen und Patienten. Aubort und Roos nennen diese Auffassung der Ergotherapie das ‚Betätigungsparadigma‘. Die drei von den Autorinnen beschriebenen Paradigmen der Therapieform lösten sich in der Schweiz, wo sich die Ergotherapie erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte, allerdings nicht so klar nacheinander ab: Neben dem Betätigungs- war von Anfang an auch das ‚mechanistische Paradigma’ zu beobachten. Bei diesem werden Patientinnen und Patienten durch funktionelles Training behandelt, wobei die Tätigkeiten danach ausgewählt werden, welche Muskeln sie aktivieren und trainieren sollen. Die Idee ist, durch die Konzentration auf das Werkstück von der beschwerlichen Wiederholung jeden Trainings abzulenken. Besonders häufig findet sich heute das ‚Partizipationsparadigma’. Ziel ist es, das Patientendasein trotz Krankheit zu beenden, die gesunden Anteile der Patientinnen und Patienten zu stärken und sie in die Gesellschaft und den Alltag zurückzuführen. Die Vielzahl an Möglichkeiten dazu spiegelt sich in der Bandbreite erzeugter Objekte wider.
Die Ergotherapie-Dozentinnen Aubort und Roos haben bei der Konzipierung eines Unterrichtsmoduls zur Geschichte der Therapieform als Nebenprodukt Objekte gesammelt und an der Tagung präsentiert. Sie stellten fest, dass es trotz bald 65-jährigem Bestehen des Berufsverbandes bislang keine Geschichte der Ergotherapie in der Schweiz gibt. Die besonders interessante Diskussion drehte sich um die Frage, wie die Objekte geordnet und für weitere Forschung fruchtbar gemacht werden könnten.
Das zweite Panel eröffnete VINCENT PIDOUX (Lausanne). Er stellte das interdisziplinäre Projekt I-KnoT-Diabetes Group & Project vor, das die Übersetzung von Wissen über Diabetes von Ärztinnen und Pflegenden zu den Patienten durch instrumentenbasierte Praktiken in der Gesundheitsversorgung untersucht. Am Beispiel der Selbstverwaltung von Diabetes durch die Patientinnen und Patienten (auto-gestion) wird die Wissensvermittlung und das Management einer Krankheit erforscht. Die interdisziplinäre Forschungsgruppe arbeitet mit einem sozio-materiellen Zugang, der die Verflechtungen zwischen Objekten (dem Zuckermessgerät) und Akteuren (Patieten und Pflegenden) sichtbar macht und ihre Interaktion ins Zentrum rückt. Ziel ist es zu verstehen, wie man den Alltag mit der Langzeitdiagnose Diabetes leichter gestalten kann. Denn die tägliche Selbstverwaltung von Zucker und Insulin haben grosse Auswirkungen auf das Leben und bedingen die Beteiligung des Patienten beim Messen, aber auch um die Daten zu interpretieren und danach adäquat zu reagieren. Ein Leben mit Diabetes bedürfe ein Wissen über den eigenen Körper, das auf Zahlen basiere. Pidoux zeigte, dass die Krankheit zwar schon Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben wurde, die entscheidende Wende für das Management aber erst die Erfindung des Glucometers (Zuckermessgeräts) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellte. Objekte generieren also nicht nur Wissen mit, sondern erleichtern die Handhabung der Krankheit entscheidend.
Die ersten Tests massen den Zucker noch im Urin, dann wurden mit der Unterstützung der Pharmafirmen Bluttests entwickelt, die seit den 1970er-Jahren zu Hause durchführbar sind. Damit war die materielle Grundlage für das unabhängige (autonome) Verwalten der Krankheit durch die Patientinnen und Patienten geschaffen. Heute überwachen sie sich durch ausgeklügelte Systeme ständig und umfassend selbst. Die Forschungsgruppe versucht, das „Zusammengehen“ („togetherness“, Annemarie Mol) von Objekten und Subjekten sowie komplexe, kollektive und verstreute Wissensformen und die daraus entstehende Unsicherheit gleichzeitig in den Blick zu nehmen.
Noch ganz am Anfang ihres Projekts steht SUNJOY MATHIEU (Zürich), die eine Dissertation zur materiellen Kultur der Tuberkulose in der Schweiz plant. Bei der Recherche für ihre Lizentiatsarbeit zu Krankheits- und Körperkonstruktionen rund um die Tuberkulose stiess sie in Museen und privaten Sammlungen auf ganz unterschiedliche Objekte, häufig aus dem Sanatoriumsumfeld. Die grosse Vielfalt verspricht andere Sichtweisen auf die bereits gut bekannten und von ihr erforschten Sanatoriumsdiskurse zur Krankheit. Das scheint heute wichtig, in einer Zeit, in der in der Schweiz Tuberkulose häufig als eine Krankheit angesehen wird, die lediglich in Ländern des globalen Südens oder bei Migrantinnen und Migranten auftrete. Die entscheidende Frage wird laut Mathieu sein, ob es gelingt, aus den Objekten, deren Geschichten sie folgen will, epistemische Objekte zu formen oder ob sie nur materialisiertes Wissen darstellen.
Der sehr anregende Workshop wurde von DOROTHE ZIMMERMANN (Bern) und STEFANIE KOHLER (Zürich) mit einem Werkstattbericht über das Konzept für das Medizinmuseum Bern abgerundet, das 2018 eröffnet werden soll. Besonders anschaulich bezüglich des Workshopthemas waren die Ausführungen zur Pflege und insbesondere zu den Objekten, anhand derer diese in der Ausstellung präsentiert wird.
Es hat sich während des Workshops gezeigt, dass Kernfragen der Medizingeschichte nach den Identitäten und den Selbstverständnissen der Berufe in sehr fruchtbarer, weil kritischer Weise über materielle Kulturen erforscht werden können. Die Diskussion von Bedeutungen einzelner Gegenstände, ihre Funktionen beim Tun, Lassen und Sein von Pflegenden, Kranken und Gesunden lässt unterschiedliche Deutungen und Redeweisen nebeneinander zu, sodass gerade der Austausch zwischen Forschenden und Praktizierenden besonders anregend war.
_____________________________________________________
Programm:
Begrüssung: Hubert Steinke (Bern) und Sabina Roth (Zürich)
Moderation: Véronique Hasler (Lausanne) und Kristin Hammer (Winterthur)
Panel I: Objekte, Berufswissen und -identität / Objets, savoir et identité professionelle
Corinne Doria (Paris): Objets médicaux et identité professionnelle des praticiens. Le cas de l’ophtalmoscope
Therese Hailer (Winterthur): Die Fertigkeit der Leopold-Handgriffe in der Geburtshilfe
Magali Bonzon (Yverdon-les-Bains): La règle de Naegele pour le calcul du terme de la grossesse: exploration et questionnement autour d’une pratique enseignée aux sages-femmes depuis 200 ans
Lucette Aubort und Kim Roos (Winterthur): Ergotherapie: Puzzlesteine zur Geschichte eines jungen Gesundheitsberufes
Panel II: Objekte im Management von Krankheiten / Les objets dans la gestion des maladies
Vincent Pidoux (Lausanne): Intégrer, autonomiser, contrôler. Une approche socio-technique de l’auto-gestion diabète
Sunjoy Mathieu (Zürich): Dinge im Umgang mit der Tuberkulose – eine neue Perspektive auf die Geschichte einer Krankheit
Dorothe Zimmermann (Bern) und Stefanie Kohler (Zürich): Das Medizinmuseum Bern – ein Werkstattbericht