Mit der Tagung «Die Shoa in Schule und Öffentlichkeit» wurde am 21. Januar 2012 in Aarau der diesjährige internationale Tag des Gedenkens an den Holocaust begangen. Dieser Gedenktag war 2003 von der Plenarversammlung der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) aus Anlass der Ankunft der russischen Truppen in Auschwitz auf den 27. Januar festgesetzt worden.
Im Hinblick auf diesen Tag ruft die EDK seither jedes Jahr Kantone und Institutionen auf, sich im Rahmen von Gedenkveranstaltungen zu engagieren. Trotz dieses Aufrufs fällt das Engagement bei den meisten Kantonen zurückhaltend aus. Viele Bildungsdirektionen nehmen den Tag zwar zur Kenntnis und leiten das jährliche Erinnerungsschreiben der EDK weiter, realisieren aber kaum eigene Projekte. Nichtsdestotrotz haben Lehrpersonen und Dozierende unterschiedlicher Stufen sowie Akteure verschiedenster Institutionen in den letzten Jahren Erfahrungen in der Thematisierung der Shoa gemacht, diese Erfahrungen zum Teil systematisch ausgewertet und ihre Konzepte und Theorien dazu geschärft. Um diese Erfahrungen der interessierten Fachwelt zugänglich zu machen, organisierte die PH FHNW zusammen mit Kooperationspartnern eine Veranstaltung, an der Fachleute im Rahmen von Workshops die derzeitige Shoa spezifische Vermittlungspraxis diskutierten. Dazu wurde ein Reflexionsfeld aufgespannt, das einerseits die Zielgruppen möglicher Vermittlungsaktivitäten unterscheidet und andererseits die drei didaktischen Grundfragen nach Zielen, Themen und Inszenierungen beleuchtet.
Lanciert wurde die Tagung bereits am Vorabend mit dem Forumtheater act-back aus Zürich, das unter der Regie von FRANZ DÄNGELI ein Stück zur heutigen Bedeutung der Shoa inszenierte. Mittels szenischen Darstellungen spielten die Schauspielerinnen und Schauspieler eine Reihe schwer zugänglicher Alltagsgeschichten zum Thema. Das Publikum, Schulklassen und Tagungsteilnehmende, war eingeladen, die Aufführung mitzugestalten und die Szenen unmittelbar zu diskutieren.
In seiner Begrüssungsrede zur Tagung wies PETER GAUTSCHI (Luzern) daraufhin, dass die Shoa in der Schweiz derzeit in der Öffentlichkeit noch omnipräsent und als Thema des Geschichtsunterrichts unbestritten sei, letzteres aber mit Blick auf den Lehrplan 21 künftig keinesfalls als gesichert gelten dürfe. Dies ist aufgrund der erinnerungskulturellen Entwicklung, nämlich dem anstehenden Übergang der Thematik ins kulturelle Gedächtnis, besonders problematisch. MEIK ZÜLSDORF-KERSTING (Osnabrück) thematisierte in seinem Eröffnungsreferat den Holocaust als Zivilisationsbruch. Wie sein Vorredner ging er ausserdem grundsätzlichen Fragen zur Thematisierung der Shoa nach und blickte auf empirische Befunde zum Umgang mit dem Thema.
Die erste Sektion, moderiert von MEIK ZÜLSDORF-KERSTING (Osnabrück), galt der Schulpraxis. ANDREA BECHER (Osnabrück) forderte auf der Grundlage einer Studie, in der sie nachweisen konnte, dass bereits Grundschulkinder Vorstellungen von der Zeit des Holocaust haben, dieses Thema in der Grundschule Deutschlands nicht auszusparen. Sie zeigte, welche Phänomene, Quellen und Darstellungen im Grundschulunterricht herangezogen werden können und stellte erprobte Materialien und Zugangsweisen vor. Analog ihrer Vorrednerin konnten CHRISTIAN MATHIS (Aarau) und NATHALIE URECH (Aarau) nachweisen, dass auch Schweizer Primarschschulkinder bereits Vorstellungen von der Zeit des Holocaust haben. Im Unterschied zu Andrea Becher kamen sie zum Schluss, dass auf der Primarstufe Holocaustunterricht zwar möglich aber nicht zwingend sei. REVITAL LUDEWIG (St. Gallen) und RUTH KEMPNICH (St. Gallen) stellten in ihrem Beitrag ihre Studie zur Holocaust Education in der Schweiz vor. Ziel ihrer Studie ist es, Empfehlungen für Verbesserungen des Unterrichts auszuarbeiten und diese im Rahmen von Weiterbildungsangeboten Lehrpersonen weiterzugeben. Im Unterschied zu ihren Vorrednerinnen und Vorrednern legt ihre Studie den Fokus auf die Lehrpersonen.
Die zweite Sektion, moderiert von PETER GAUTSCHI (Luzern) galt den Zeitzeugnissen. MARTIN LÜCKE (Berlin) und ALINA BOTHE (Berlin) legten dar, inwieweit und unter welchen Bedingungen innerhalb des schulischen Unterrichts ein sekundärer Dialog zwischen Schülerinnen, Schülern und virtuellen Zeugnissen von Überlebenden stattfinden kann. Insbesondere der Umstand, dass in den individuellen Erzählungen der Lernenden zum Thema unerwartete und teilweise auch verstörende Sinnbildungen entstanden, machte deutlich, wie wichtig der Dialog über individuelle Narrative ist. Der Beitrag von MARKUS KÜBLER (Schaffhausen) zeigte einmal mehr, dass man auch in der Schweiz zur Zeit der Judenverfolgung über Handlungsspielräume verfügte und dass das Thema «Die Schweiz und die Shoa» vielerorts auch beinahe 70 Jahre nach dem Krieg noch nicht bewältigt ist. Am Beitrag von MIRIAM VICTORY SPIEGEL (Zürich) wurde sichtbar, dass Begegnungen zwischen Holocaust-Überlebenden und Lernenden immer noch eine gute Möglichkeit sind, der Geschichte ein «menschliches Antlitz» zu verleihen. Weiter wurde deutlich, dass mit der Einführung der Maturaarbeiten der Auseinandersetzung mit der Shoa eine neue und grosse Aufmerksamkeit zukam.
In der dritten Sektion, moderiert von MEIK ZÜLSDORF-KERSTING (Osnabrück), stand die universitäre Binnenperspektive im Fokus. CHRISTIAN KUCHLER (Regensburg) ging in seinem Referat der Frage nach dem Potential von Unterrichteinheiten basierend auf persönlichen Quellen von jüdischen Überlebenden und Opfern der Shoa nach und berichtete von einem Projekt an der Universität Regensburg, bei dem Studierende Unterrichtsmaterialien aus authentischen Quellen entwickelten. GERALD LAMPRECHT (Graz) stellte ein konkretes Forschungsprojekt des Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz mit Schülerinnen und Schülern zweier Grazer Mittelschulen vor. Bei diesem Projekt zu den Judenchristen der evangelischen Pfarrgemeinde «Heilandskirche» wurden die Schülerinnen und Schüler aktiv in den Forschungsprozess eingebunden und hatten wesentlichen Anteil an der Fertigstellung des Projektes, dessen Ergebnisse in Form einer Wanderausstellung und eines Ausstellungskataloges veröffentlicht wurde.
In der vierten Sektion, moderiert von PETER GAUTSCHI (Luzern), beschäftigte sich DANIELA ZUNZER (Fribourg) mit Sinn und Zweck von Exkursionen an originale Orte und mit den Bedingungen für ein gutes Gelingen. Allgemein lässt sich sagen, dass freiwillige Studienreisen zur Thematik eine grosse Resonanz finden. Besonders günstig ist es aber, wenn vor Ort Zeitzeugen zu Wort kommen. URS URECH (Aarau) berichtete von einer eintägigen Lehrerstudienreise nach Auschwitz. Auch diese profitierte vom Umstand, dass Zeitzeugen vor Ort waren und erzählten. Allerdings wurde die Reise teilweise auch heftig kritisiert. Es wurde den Veranstaltenden unangemessene Popularisierung der Shoa vorgeworfen. Bei DANIEL GERSONS (Basel) Beitrag wurde besonders deutlich, was sich bereits am Vorabend in der Theateraufführung und dann auch in den Diskussionen während der Tagung manifestiert hatte: Es ist unbedingt notwendig, die Täter besser in den Blick zu bekommen. Gerson zeigte auf, wie gerade auch bei Studienreisen zwar Opfer und Retter thematisiert werden, die Täter aber völlig ausgeblendet bleiben, obwohl es eine Reihe von geeigneten Quellen gibt, die auch die Auseinandersetzung mit den Tätern ermöglichen würden.
Schlussfolgerungen
An der Tagung wurde sichtbar, dass vor allem die Theorie aber auch die Empirie zum schulischen und ausserschulischen Umgang mit der Shoa gut entwickelt sind. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von erprobten Praxisbeispielen, die den Schülerinnen und Schülern in dieser anspruchsvollen Thematik relevante Lerngewinne ermöglichen. Auffällig war hier allerdings, dass in der Vermittlungspraxis die Täter und ihre Perspektive bisher mehrheitlich ausgespart bleiben. Eindrücklich konnten die Tagungsbeiträge zudem die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit der Shoa in Schule und in Öffentlichkeit aufzeigen. Diese vielschichtige und anspruchsvolle Auseinandersetzung wird auch künftig gesellschaftlich bedeutsam bleiben.
Programm vom 21. Januar 2012
08.30 Eintreffen, Kaffee, Gipfeli
09.00 Begrüssung, Tagungseröffnung
Peter Gautschi (Pädagogische Hochschule Zentralschweiz Luzern)
09.15 Wie umgehen mit dem Zivilisationsbruch Holocaust? Gedanken zur Thematisierung des Unaushaltbaren
Meik Zülsdorf-Kersting (Universität Osnabrück)
Diskussion
10.15 Pause
10.45 Sektionen 1 und 2
Die Sektionen 1 und 2 finden zeitgleich statt.
1 Schulpraxis
Moderation: Meik Zülsdorf-Kersting
Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern
Andrea Becher (Universität Osnabrück)
Holocaust, ein Thema für die Primarschule?
Christian Mathis, Natalie Urech (Pädagogische Hochschule FHNW)
Eine Studie über Holocaust-Education in der deutschsprachigen Schweiz (2011–2013)
Ruth Kempnich (Pädagogische Hochschule St. Gallen), Revital Ludewig (Universität St. Gallen)
Diskussion
2 Zeugnisse
Moderation: Peter Gautschi
Das virtuelle Zeugnis – eine geschichtsdidaktische Herausforderung
Martin Lücke, Alina Bothe (Freie Universität Berlin)
Die Judenkartei Gailingens 1936–1940: ein einzigartiges Dokument für die Schule
Markus Kübler (Pädagogische Hochschule Schaffhausen)
Begegnungen zwischen Holocaust-Überlebenden und Schülerinnen und Schülern aus pädagogischer Sicht
Miriam Victory Spiegel (Tamach Zürich)
Diskussion
12.15 Mittagpause; Verpflegung; Materialausstellung
13.45 Sektionen 3 und 4
Die Sektionen 3 und 4 finden zeitgleich statt.
3 Hochschulpraxis
Moderation: Meik Zülsdorf-Kersting
Jüdische Perspektiven auf den Holocaust – Erinnerungsliteratur im Unterricht
Christian Kuchler (Universität Regensburg)
Zur Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust in Schule und Universität – ein Projektbericht
Gerald Lamprecht (Universität Graz)
Diskussion
4 Schauplatz
Moderation: Peter Gautschi
«Die Exkursionen nach Dachau müssen Sie unbedingt beibehalten»: Originale Orte und ihre Bedeutung für die Vermittlung des Holocaust
Daniela Zunzer (Kollegium St. Michael Fribourg)
«Vom Ort des Grauens ins Schulzimmer», Bericht über eine Studienreise nach Auschwitz
Urs Urech (PH FHNW Aarau, Weiterbildung)
Von der Leichtigkeit des Einfühlens in die Opfer und von der Schwierigkeit des Verstehens der Täter
Daniel Gerson (Universität Basel)
Diskussion
15.15 Kaffeepause
15.30 Bericht im Plenum; Diskussion; Perspektiven
16.00 Schluss
Zitierweise Tagungsbericht: Die Shoa in Schule und Öffentlichkeit. Erfahrungen, Erwägungen, Empfehlungen.
21.01.2012, Aarau, Schweiz, in: http://www.fhnw.ch/ph/pbgd/veranstaltungen/die-schweizund-
die-shoa