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Changing Historiographical Perspectives on Rural Societies / Historiografische Konzeptualisierungen der ländlichen Gesellschaft

Autor / Autorin des Berichts: 
Claudia Sutter
claudia.sutter@ortsbuerger.ch
Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen

Zitierweise: Sutter, Claudia: Changing Historiographical Perspectives on Rural Societies / Historiografische Konzeptualisierungen der ländlichen Gesellschaft, infoclio.ch Tagungsberichte, 2017. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0151>, Stand:


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Das Interesse an den ländlichen Gesellschaften hat in den letzten zwei Jahrzehnten innerhalb der Geschichtswissenschaften merklich zugenommen.1 Die Vielfalt an neu zugänglich gemachten Quellen und die wachsende Anzahl an Publikationen zum Thema lassen verschiedene Definitionen von ‚der ländlichen Gesellschaft’ zu. So hat sich die dritte Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für ländliche Geschichte (SGLG) zwei Ziele gesetzt: Zum einen sollten die Untersuchungsgegenstände, die der ländlichen Geschichte zugeordnet werden können, umrissen werden. Zum anderen sollten diese Untersuchungsgegenstände sowie ihre Konzeptualisierungen in ihrer diachronen Entwicklung verglichen werden.

Im ersten, von STEFAN SONDEREGGER (Zürich, St. Gallen) moderierten Teil mit dem Titel „Herrschaft, Gesellschaft, Quellenlagen“ untersuchten FLORIAN BATTISTELLA und DAVID PITZ (beide Tübingen) den sozialen Statuswandel der Kolonen im Römischen Reich des 4. bis 6. Jahrhunderts. Das bisher gängige Konzept, nach dem die Sklaven sich zu freien Arbeitern entwickelt hätten, um dann wieder in die Halbfreiheit zurückzufallen, habe sich, so die Referenten, als zu wenig durchdacht erwiesen. Aufgrund der zeitlichen und geografischen Heterogenität der Kolonengesetze, die die Quellenbasis der vorgestellten Untersuchung darstellen, können tiefgreifende Veränderungen in der ländlichen Bevölkerung nachvollzogen werden, etwa Kriege oder die durch eine Pestepidemie resultierende Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz, die wiederum eine massiv erhöhte Arbeitsmigration zur Folge hatte.

Eine Annäherung an die ländliche Siedlung im Früh- und Hochmittelalter aus archäologischer Perspektive wagte JÜRG TAUBER (Itingen). Im Raum der heutigen Nordwestschweiz, der bis anhin als ländlich und agrarisch, d. h. als autark im grösstmöglichen Masse galt, konnte er aus der Rhône- sowie der Saône-Region importierte Keramik nachweisen. Diese Produkte sind als Luxuswaren einzustufen und sprechen gegen eine ländlich-agrarische Gesellschaft, genauso wie 13 nahe beieinanderstehende Töpferöfen, die bis ungefähr ins Jahr 800 in Betrieb waren, und ein Hochofen aus dem 13. Jahrhundert. Diese Funde deuten auf eine sozial differenzierte Gesellschaft hin, die auf einem effizienten Vertrieb der produzierten Ware und auf eine gute Vernetzung aufbaute.

Anders als ihr Vorredner fokussierte KARIN PATTIS (Welschnofen) in ihrem Referat auf schriftliche Quellen. Sie skizzierte die Intensivierung der schriftgestützten Verwaltung, die das Kloster Neustift im Südtirol seinen Besitzungen in den umliegenden Bergtälern ab den 1510er-Jahren auferlegte. Die damit ermöglichte genauere Kontrolle der ländlichen Bevölkerung habe in Kombination mit anderen Faktoren zum Bauernaufstand geführt. Pattis konnte zeigen, wie eine einzelne Person die Verwaltungsschriftlichkeit prägte und wie eine doppelte Schriftführung – die eine Fassung des Schriftstücks wurde im Kloster, eine ausführlichere im Dorf hergestellt – Details über die Unterschiede in der Handhabung der Informationen sowie der Verwaltungsschriftlichkeit im Allgemeinen offenbaren.

Im zweiten Teil mit dem Titel „Stadt-Land: Eigenheiten und Interaktionen“, der von DOROTHEE RIPPMANN-TAUBER (Zürich, Itingen) geleitet wurde, stellte REGINA SCHÄFER (Mainz) die Winzerdörfer in Rheinhessen und im Rheingau vor und demonstrierte, wie die Region trotz geografischer Enge und politischer Zersplitterung eine einzige Wirtschaftsregion bildete, in der sich bereits für das 9. Jahrhundert überlokale Vernetzungen und mehrere gesellschaftliche Schichten feststellen lassen. In Bezug auf eine Gesellschaft, in der am Ende des Hochmittelalters Knechte in einem eigenen Haushalt lebten und als Kreditgeber fungierten, der Landmarkt ebenso gross war wie die Kreditabhängigkeit und der Wein ausschliesslich für den Export produziert wurde, schlägt Schäfer vor, den Begriff „ländlich“ zu überdenken.

Einen grundsätzlich anderen Ansatz wählte SHAMI GHOSH (Toronto), der mit Hilfe von zeitgenössischen Quellen die Entstehung und die Anfänge des Kapitalismus („commercialisation“, „origins of capitalism“) nachzuzeichnen versucht. In seinem grossangelegten Projekt, das sich noch in der Anfangsphase befindet, will er mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Quellen aus dem süddeutschen Raum zeigen, dass die ländliche Bevölkerung bereits im 13. Jahrhundert regelmässig Zugang zu städtischen Märkten hatte, wo nicht mehr die Tauschwirtschaft, sondern eine monetäre Wirtschaftsform vorherrschend war.

Die Währung, auf der die Studie von JESSICA MEISTER (Zürich) basierte, sind Pferde und anderes Grossvieh, das im späten Mittelalter von Innerschweizer Händlern auf die lombardischen Märkte gebracht wurde. Eidgenössische Länderorte, d. h. ländliche Gegenden wie Luzern, Schwyz, Unterwalden und Glarus entwickelten eine kommerzielle Spezialisierung auf Grossviehhandel, dank dem sich neue Führungsschichten bildeten. Dabei kristallisierte sich heraus, dass in Bezug auf ihre Karrieren in Wirtschaft, Politik und Militär keine wesentlichen Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Händlern festzustellen sind.

SARAH BAUMGARTNER und GERRENDINA GERBER-VISSER (beide Bern) untersuchten die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründete ‚Zürcher Physicalische Gesellschaft’ sowie die ‚Oekonomische Gesellschaft Bern’. Beide – wohlgemerkt städtische Verbindungen – hatten sich zum Ziel gesetzt, die landwirtschaftlichen Tätigkeiten ihrer jeweiligen Untertanen zu analysieren und durch Verbesserungsvorschläge zu optimieren. Im Fokus der beiden Gesellschaften lagen ähnliche Interessengebiete, etwa Handel, Gewerbe und Demografie, aber auch Meteorologie und Topografie, die sie mit Hilfe von Umfragen, Fragebögen und persönlichen Gesprächen untersuchten. Die primäre Motivation, solche Untersuchungen durchzuführen, sei emanzipatorischen und demokratischen Bewegungen entsprungen; trotzdem hätten die Machtdemonstrationen gegenüber den Untertanen eine grosse Rolle gespielt. Die bereits zuvor bestehenden Vorurteile gegenüber der ländlichen Bevölkerung – z. B. die bekannten Topoi, Bauern seien treu, ehrlich und fleissig, aber auch abergläubisch und innovationsscheu – seien dabei nicht aus der Welt geschafft, sondern weiterpropagiert worden.

Den zweiten Teil der Tagung abschliessend präsentierte ANTON SCHUURMAN (Wageningen) verschiedene Definitionen, nach denen zwischen fünf und 35 Prozent der Bevölkerung der Niederlande auf dem Land („countryside“) wohnten. Dabei strich er heraus, dass die Landwirtschaft („agriculture“) erst sehr spät als traditionell und ebenso spät als marktorientiert wahrgenommen wurde. Die Beleuchtung der verschiedenen Konzepte und Perspektiven, die während den vergangenen Jahrzehnten eingenommen worden waren, endete mit der Feststellung, dass das Land und die Landwirtschaft zwar den gleichen geografischen Raum betreffen, aber auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene verschiedene Aufgaben wahrnehmen.

Im dritten Teil mit dem Titel „Konzepte, Methoden, Perspektiven“, moderiert von PETER MOSER (Bern), untersuchte EVELINE SZARKA (Zürich) mit einem kultursemiotischen Ansatz den frühneuzeitlichen Geisterglauben in der deutschsprachigen Schweiz kurz nach der Reformation. Sie zeichnete den Transfer von Wissen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit Geistern und Gespenstern über die Grenzen von Stadt und (Um)Land nach und zog einen Vergleich zwischen dem katholischen und dem protestantischen Umfeld. Die These, wonach sich alternative Deutungen und Interpretationen von unerklärlichen Phänomenen mit wachsender geografischer Entfernung vom Zentrum der Semiosphäre, d. h. von der Stadt, häuften, konnte sie nicht bestätigen.

Ein spezifisch ländlicher Geisterglaube sei nicht festzustellen. Einen neuen Blick auf ein anderes unerklärliches Phänomen bzw. seine Folgen forderte JOËLLE KHATER (Zürich). Sie untersuchte eine Prophezeiung, die für die Gesellschaft der Xhosa im heutigen Südafrika in den 1850er-Jahren die vollständige Selbstauslöschung provozierte, wovon die Britischen Kolonialherren profitierten, die das Land der Xhosa ohne weitere Kämpfe übernehmen konnten. Im Laufe ihrer Untersuchung stellten sich territoriale und materielle Probleme, die bereits vor dem Einfall der Briten bestanden, als Hauptursache des sogenannten Cattle-Killings heraus.

Einen soziologischen Blick auf die Bauern im Österreich von heute hatten ANJA EDER und SABINE HARING (beide Graz). Im Sinne Max Webers definierten sie drei Idealtypen von Bauern (traditionell, modern, postmodern) und versuchten empirisch mit qualitativen wie quantitativen Methoden, die untersuchten Bauernfamilien diesen Idealtypen zuzuordnen. Am häufigsten lokalisierten sie ‚moderne’ Bauernfamilien, die sie durch Merkmale wie Liebesheirat, das Akzeptieren von Kindheit und Jugend als eigener Lebensphase, höherer Bildung oder gesteigertem Interesse an Privatsphäre und Freizeit definierten. Das Feststellen von starken regionalen Unterschieden im sehr heterogenen bäuerlichen Milieu entsprach den Erwartungen.

ERIK THOEN (Gent) verteidigte sein Konzept des „social agro-system“, das er seit einiger Zeit vertritt und laufend verfeinert, ohne es aber genauer auszuführen. Seine wichtigste Aussage war, dass das „social agro-system“ – trotz dem Wortteil „agro“ – kein spezifisch ländliches, sondern ein grundsätzlich wirtschaftliches Konzept sei.

Den letzten Vortrag bestritt ERNST LANGTHALER (Linz, St. Pölten). Statt einer Synopse aller Referate, wie es sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhofften, brachte er Beispiele von neuen Untersuchungsgegenständen innerhalb der ländlichen Gesellschaft ins Plenum: Er schlug vor, nicht mehr den Menschen und seine Tätigkeiten ins Zentrum zu stellen, sondern landwirtschaftliche Produkte. Er zeigte beispielsweise, wie ein bestimmtes Produkt sich auf einem Kontinent innerhalb von wenigen Jahrzehnten vom Importgut zum Exportgut wandelte. Zudem stellte er die Frage in den Raum, wie und wohin sich ‚die ländliche Geschichte’ bewegen wird und wie es möglich wäre, das Wissen von Experteninnen und Experten mit jenem von Laien zu verbinden.

In den kurzen Wortmeldungen im Anschluss an die Referate sowie in der abschliessenden Diskussion wurde mehrfach die Notwendigkeit betont, genauere Konzepte und exaktere Bezeichnungen für weitverbreitete Phänomene auszuarbeiten. Begriffe wie Dorf, Siedlung, Kleinstadt, Villa oder Vicus bedürften einer Präzisierung. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass das Arbeiten mit starren Kategorien – beispielsweise die Einteilung in traditionelle, moderne und postmoderne Bauernfamilien – und auch mit alten Modellen – wie die Stadt-Land-Gegenüberstellung – weder befriedigend noch zielführend sei. Es wurde dazu aufgerufen, über den eigenen Forschungsgegenstand hinauszuschauen und sich im weiteren Feld der Geschichtswissenschaften, der Soziologie oder der Landwirtschaft einzuordnen.

Die Konferenzbeiträge waren aktuell und neu, da die Referentinnen und Referenten überwiegend die Ergebnisse von Forschungsprojekten vorstellten, die noch am Laufen sind oder erst kürzlich abgeschlossen wurden. Für die Definition bzw. die Neudefinition des Forschungsfeldes der ländlichen Gesellschaft sowie seiner Weiterentwicklung hatten alle Beiträge eine hohe Relevanz. Den Anspruch, ein internationales, epochenübergreifendes, interdisziplinäres und zukunftweisendes Kolloquium zu sein, hat die Tagung auf alle Fälle erfüllt. Gerade wegen ihrer Bedeutung für die Netzwerkbildung – und dies ist der einzige Wehrmutstropfen – wäre allerdings ein grösserer Spielraum für die Diskussionen zwischen den Referaten und für den bilateralen Austausch wünschenswert gewesen.

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Program:

Teil I: Herrschaft, Gesellschaft, Quellenlagen
Moderation: STEFAN SONDEREGGER
FLORIAN BATTISTELLA und DAVID PITZ: Ländliche Gesellschaft und agrarische Arbeitskräfte in der Spätantike. Ein Problemaufriss und eine neue Perspektive
JÜRG TAUBER: Was ist eine ländliche Siedlung? Ein Beitrag zum Früh- und ochmittelalter aus archäologischer Sicht
KARIN PATTIS: Veränderte Herrschaftsbeziehungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel des Klosters Neustift bei Brixen

Teil II: Stadt-Land: Eigenheiten und Interaktionen
Moderation: DOROTHEE RIPPMANN-TAUBER
REGINA SCHÄFER: Eine ländliche Gesellschaft des Spätmittelalters – die Winzerdörfer in Rheinhessen und im Rheingau
SHAMI GHOSH: Rural commercialisation in southern Germany, c. 1200–1440
JESSICA MEISTER: Handlungsspielräume eidgenössischer Pferdehändler im ausgehenden Mittelalter
SARAH BAUMGARTNER und GERRENDINA GERBER-VISSER: Die ländliche Gesellschaft im Blick der Zürcher und Berner Ökonomen (1759–1830)
ANTON SCHUURMAN: Different histories, different futures. The Dutch countryside and agriculture in the long twentieth century

Teil III: Konzepte, Methoden, Perspektiven“
Moderation: PETER MOSER
EVELINE SZARKA: Städtisches Zentrum – ländliche Peripherie? Kultursemiotische Überlegungen zum frühneuzeitlichen Geisterglauben in der Schweiz
JOËLLE KHATER: Das Cattle-Killing der Xhosa im heutigen Südafrika: Die ländlichen Strukturen der Xhosa-Gesellschaft als Voraussetzung für das Cattle-Killing (1856/57)
ANJA EDER und SABINE HARING: Bäuerliche Lebenswelten als Forschungsgegenstand der Soziologie
ERIK THOEN: The concept „social agro-systems“ to study the rural society in the Old Regime. A theoretical framework
ERNST LANGTHALER: Was ist Agrargeschichte – und was könnte sie sein?
Schlussdiskussion, Fazit und Ausblick


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Anmerkung:
1 Der Bericht wurde im Auftrag des Stadtarchivs der Ortsbürgergemeinde St. Gallen verfasst, das die Tagung mitorganisierte.

Veranstaltung: 
Changing Historiographical Perspectives on Rural Societies / Historiografische Konzeptualisierungen der ländlichen Gesellschaft
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für ländliche Geschichte SGLG / Universität Zürich UZH / Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen / Archiv für Agrargeschichte AfA
Veranstaltungsdatum: 
10.02.2017 bis 11.02.2017
Ort: 
Zürich
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference