Die Entstehung von Bauten hängt stets von den zur Verfügung stehenden Finanzmitteln und deren Beschaffung ab; hinter Investitionen steht die Hoffnung auf Profit – dies war im Mittelalter nicht anders als heute. Der Geldfluss innerhalb von Bauprojekten kann daher als eine Wechselbeziehung von Ansprüchen unterschiedlicher Interessensgruppen betrachtet werden. Diese These war Ausgangspunkt der internationalen Tagung «Cash-Flow im späten Mittelalter. Kirchliche und kommunale Bauvorhaben zwischen Konflikt und Konsens», die am 23. und 24. März 2017 an der Universität Bern stattfand. Im Mittelpunkt der zweitägigen Veranstaltung standen verschiedene kommunale Grossbauprojekte des Mittelalters und Fragen nach deren Bau, Gestaltung und Finanzierung, wobei gezielt der interdisziplinäre Austausch zwischen Historikerinnen und Kunsthistorikern gefördert wurde. Insbesondere sollten dabei die Auswirkungen von Konflikten und der Konsensfindung zwischen den am Bau beteiligten Interessengruppen auf Bauprozesse beleuchtet werden. Grundvoraussetzung für den Baufortschritt war das Vorhandensein liquider Mittel sowie die Erschliessung neuer kurz-, mittel- und langfristiger Finanzierungsquellen. Der Zugang zu diesen liquiden Mitteln prägte wiederum das Machtverhältnis der verschiedenen Interessensgruppen in der Konsensfindung. Zur Beschreibung dieser Prozesse verwendete die Tagung den aus den Wirtschaftswissenschaften entliehenen Begriff «Cash-Flow», der als «Mittelzufluss gegenüber dem Bauaufwand» verstanden werden kann.
Nachdem die beiden Organisatoren RICHARD NEMEC (Bern) und GERALD SCHWEDLER (Zürich/Konstanz) die Teilnehmenden im Rahmen des Berner Mittelalterzentrums begrüsst hatten, eröffnete CHRISTIAN FREIGANG (Berlin) die Veranstaltung mit einem Vortrag, der ins Tagungsthema „Cash-Flow im späten Mittelalter“ einführte. Freigang zeigte mit einem Vergleich zwischen mittelalterlichen und modernen Grossbauprojekten die Zusammenhänge zwischen dem Vorhandensein von Geldmitteln und Bauvorgängen auf. Er sieht dabei die Grossbauprojekte selbst als Image-Träger, die durch ihre Attraktivität zu einer Refinanzierung des Bauwerks und damit zu einem Mehrwert der Investition führen. Die Stadtpfarrkirche beispielsweise werde dadurch zum Resonanzraum städtischer Identität und der Kirchenbau zur «corporate identity». Das Referat von Freigang bot nicht nur einen hervorragenden Einstig ins Tagungsthema, sondern zeigte auch dessen Aktualität bis in die heutige Zeit auf.
Im Anschluss folgte eine Poster-Präsentation von Arbeiten junger Forschender, die von KATHRIN CHLENCH-PRIBER (Bern) moderiert wurde. Die Poster behandelten einzelne Bauwerke wie das Berner Münster (Corina Liebi), den Regensburger (Nicole Zellweger), Passauer (Stéphanie Prieto) und Augsburger Dom (Simon Kalberer) sowie das Berner St. Vinzenzen-Schuldbuch (Claudia Lingscheid).
Die erste Sektion, moderiert von SEBASTIAN SCHOLZ (Zürich), widmete sich den Finanzierungspraktiken von Grossbauprojekten. Im Zentrum stand die Nachvollziehbarkeit der Zu- und Abflüsse von Geldern. MICHAEL ROTHMANN (Hannover) zeigte in seinem Beitrag «Steuerfreiheit und Finanzbedarf: Der Dombau zu Frankfurt» auf, dass trotz dem fast vollständigen Erhalt der Rechnungsbücher der Frankfurter Kirchenfabrik aufgrund der parallelen Verwaltung mehrerer Kassen heute nicht mehr alle Geldströme nachvollzogen werden können, was die Berechnung eines vollständigen Cash-Flows verunmöglicht. Zum gleichen Schluss gelangte GERHARD FOUQUET (Kiel), der in seinem Referat «Stadtfinanz und Gemeindebildung in einer Residenzstadt – die Koblenzer Mauerbaurechnung von 1276 bis 1289» verdeutlichte, dass mangels Gegenrechnungen die Finanzströme zwischen den verschiedenen Kassen nicht mehr rekonstruiert werden können. Die Berechnung eines Saldos aus Einnahmen und Ausgaben ist damit angesichts einer fehlenden Gesamtrechnungsführung aller Kassen (u.a. Ungeld-, Stadt-, Bau- und Privatkasse) nicht möglich. Weiter argumentierte Fouquet, dass öffentliche Finanzen im späten Mittelalter auf dem «Habitus der Eliten» funktionierten. Das Wissen um die Finanzen gehörte damit zu einer Art «geheimen Sphäre», die Hierarchien und limitierten Zugängen unterworfen war. Die Anfänge städtischer Finanzen sind dadurch eng verknüpft mit der Gemeindebildung, wobei sich private und öffentliche Kassen häufig nicht voneinander trennen lassen. CHRISTIAN HESSE (Bern) hob in seiner Responsio ebenfalls hervor, dass in der spätmittelalterlichen Rechnungslegung Mischfinanzierungen vorherrschten, wobei allerdings keine Gesamtrechnungen geführt wurden. Die Beschaffung liquider Mittel, unter anderem durch die Erhebung von Verbrauchssteuern (Ungeld), konnte somit zur Entstehung neuer Kassen beitragen. Obwohl diese erst für einen Bau vorgesehen waren, blieben sie oftmals auch nach Bauabschluss bestehen und erhöhten auf diese Weise längerfristig die städtischen Einnahmen. Damit wurden durch die Baufinanzierung Institutionalisierungsprozesse in Gang gesetzt, die häufig die Grenzen des Ökonomischen überschritten. Die Gewährleistung des Cash-Flows geht dadurch mit der Ausformung des Rechnungs- und Finanzwesens einher und kann als Teil der Gemeindebildung angesehen werden.
Die zweite Sektion, die von BERND NICOLAI (Bern) moderiert wurde, fokussierte auf die Spuren, die durch die Konsensfindung und Konfliktbewältigung am Kirchenbau hinterlassen wurden. HANS W. HUBERT (Freiburg i. Br.) zeigte in seinem Beitrag «Ablasshandel und Baufinanzierung. Vom Konsens im Spätmittelalter und vom Eklat der Peterskirche in Rom» auf, dass nicht nur die lokale Bevölkerung, sondern ganz Europa direkt oder indirekt an der Finanzierung des Neubaus beteiligt war. Nicht nur stellte die Gewährung von Ablässen durch den Papst die Finanzierung lokaler Bauten (u.a. des Berner Münsters) sicher, sondern generierte auch Einnahmen, die an die römische Kirche zurückflossen und damit liquide Mittel für den Bau der Peterskirche zur Verfügung stellten. Weiter verdeutlichte Hubert, dass sowohl Sonderwünsche des Auftraggebers während der Bauphase, Umplanungen, bautechnische Probleme, aber auch steigende Preise für Kredite und Baumaterialien zu Baustopps führten. Wie BARBARA SCHEDL (Wien) in ihrem Referat «St. Stephan in Wien. Politische Konflikte und städtische Baukontrolle» ausführte, konnten sich auch Herrschafts- und Territorialkonflikte sowie die Gemeindebildung negativ auf ein Bauvorhaben auswirken. Schedl zeigte auf, dass solche Konflikte zu einem schwerwiegenden Mangel der am Bau der St. Stephans Kirche beschäftigten Arbeitskräfte führten, woraus ein Vertrauensverlust in die Kirche und die Bauhütte resultierte. Als Gründe für den Personalmangel können einerseits die Abwanderung ausländischer Arbeitskräfte aufgrund von Lebensmittelteuerung und andererseits die Abwerbung ebendieser durch andere Grossbaustellen vermutet werden. Schliesslich wies BRUNO KLEIN (Dresden) in seiner Responsio auf die hohe Eigendynamik mittelalterlicher Grossbauprojekte hin, die stets von den Geschehnissen der Zeit abhängig war. Bereits geringfügige Änderungen im sozialen, ökonomischen und politischen Umfeld des Baus konnten zu einem Baustopp oder Umplanungen führen. Dies gilt insbesondere, wenn ein Wechsel der Fachkräfte erfolgte.
Die dritte Sektion, moderiert von Richard Nemec, widmete sich der Erfassung und Visualisierung von Entscheidungsfindungsprozessen am Bau. ANNE-CHRISTINE BREHM (Karlsruhe) zeigte in ihrem Referat «Architektur und Wettbewerb. Auswahl und Absetzung der Werkmeister» auf, welche Bedeutung der Reputation eines Werkmeisters zukam und wie sich diese auf das Konkurrenzdenken benachbarter Städte auswirkte. Die als «Stararchitekten ihrer Zeit» betrachteten Baumeister konnten eine herausragende Expertise in ihrem Fachbereich vorweisen und ihre Anstellung zeugte damit vom hervorgehobenen Status der auftraggebenden Stadt. Die Baumeister wurden auf Anfrage an andere Städte ausgeliehen und teils sogar abgeworben. Dies hatte unweigerlich Folgen für den Bau, die sich unter anderem in Baustopps, Umplanungen und neuen Bautechniken äusserten. Gleichermassen argumentierte SABINE BENGEL (Strassburg), die in ihrem Vortrag «Der Bau der Westfassade des Straßburger Münsters. Kommunale Selbstdarstellung, bautechnische Innovation und Hüttenanspruch» betonte, dass der Neubau der Westfassade des Strassburger Münsters nicht nur mediale Projektionsfläche für die Selbstdarstellung des städtischen Rates war, sondern die Höhe des Turmes die Bedeutung der Stadt Strassburg gegen aussen wiederspiegeln sollte. In diesem Sinne kann auch die Abwerbung Ulrich Ensingers aus Ulm als Teil des Konkurrenzkampfs zwischen den Städten nördlich der Alpen verstanden werden. Dadurch wurde deutlich, dass mittelalterliche Grossbauprojekte nicht isoliert, sondern stets abhängig von anderen Grossbaustellen der Zeit waren. Wie DOMINIK LENGYEL (Berlin) in seinem Referat «Darstellung von Unschärfe auch von Prozessualität?» verdeutlichte, können Entscheidungsfindungsprozesse am Bau auch nachvollzogen werden, wenn die historische Bausubstanz heute nicht mehr vorhanden ist. Mithilfe schriftlicher und bildlicher Quellen, Baubefunden, archäologischer Ausgrabungen und Vergleichsbauten wird eine Rekonstruktion historischer Bauten möglich. Diese Visualisierungen sind aufgrund zahlreicher Interpretationsspielräume dennoch von einer gewissen Unschärfe geprägt. Nichtsdestotrotz ermöglichen sie wichtige Erkenntnisse in der Umsetzung von Bautechniken, Bauprozessen und der Machbarkeit von Bauplanungen. Das Wort «Unschärfe» stellte auch MARC CAREL SCHURR (Strassburg) in das Zentrum seiner Responsio. Er betonte, dass die Unschärfe sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Kunstgeschichte eines der grössten Forschungsprobleme darstellt. Oftmals seien Forschende mit mehr «weissen Flecken als realen Fakten» konfrontiert, und dennoch müsse es möglich sein, mit den vorhandenen Daten zu arbeiten. Durch eine heute meist digital präsentierte Rekonstruktion, die auf ihre Grundelemente reduziert ist, erhalte ein architektonischer Raum Wirkungskraft und bleibe trotzdem aufgrund unzähliger Interpretationsspielräume von Unschärfe geprägt. Gleiches gilt für die Nachvollziehbarkeit von Geldflüssen, die stets durch eine Unschärfe in den Quellen limitiert wird.
In seinen Schlussbetrachtungen wies HANS-JÖRG GILOMEN (Zürich) im Besonderen auf das Spannungsfeld zwischen Geschichte und Kunstgeschichte hin. Er kam zum Schluss, dass die beiden Fachgebiete heute mehr denn je miteinander verknüpft sind und sich ihre Arbeitsmethoden oftmals überschneiden, wobei Kunsthistoriker das Objekt, Historikerinnen die Quelle über das Objekt als Arbeitsgrundlage nutzen. Weiter lasse sich festhalten, dass die Wahl der Finanzierungsinstrumente, und hiermit die Beschaffung liquider Mittel, situationsbedingt von den Bedürfnissen jedes einzelnen Grossbauprojekts abhängig war. Die Berechnung eines vollständigen Cash-Flows scheint allerdings aufgrund der vorherrschenden Mischfinanzierung der Grossbauprojekte und mangels Gesamtrechnungen aller Kassen nicht möglich, so Gilomen.
Als Fazit der Tagung lässt sich daher festhalten, dass der «Cash-Flow» eines mittelalterlichen Grossbauprojekts, oder besser gesagt, die Gegenüberstellung von Einnahmen (Mittelzufluss) und Ausgaben (Bauaufwand), theoretisch als Indikator für die Erklärung von Baufortschritt, Baustopp und Umplanung herangezogen werden kann, eine praktische Umsetzung jedoch oft am Mangel an Quellen zur Rekonstruktion aller nötigen Finanzströme scheitert. Inwieweit die Berechnung eines Cash-Flows möglich ist, bleibt damit stets abhängig von der Quellenlage eines jeden Grossbauprojekts.
Programm:
Donnerstag, 23. März 2017
Führung im Berner Münster: Bernd Nicolai und Jürg Schweizer (beide Bern)
Begrüssung: Richard Nemec (Bern) und Gerald Schwedler (Zürich/Konstanz)
Christian Freigang (Berlin): Cash-Flow im späten Mittelalter
Postersession «Junges Forum»: Kathrin Chlench-Priber (Bern)
• Simon Kalberer (Zürich)
• Corina Liebi (Bern)
• Claudia Lingscheid (Bern)
• Stéphanie Prieto (Zürich)
• Nicole Zellweger (Zürich)
Freitag, 24. März 2017
Begrüssung: Virginia Richter und Matthias Hirt (beide Bern)
Einführung: Richard Nemec (Bern) und Gerald Schwedler (Zürich/Konstanz)
Sektion 1: Konflikt und Konsens – Finanzierungspraktiken
Moderation: Sebastian Scholz (Zürich)
Michael Rothmann (Hannover): Steuerfreiheit und Finanzbedarf: Der Dombau zu Frankfurt
Gerhard Fouquet (Kiel): Stadtfinanzen und Gemeindebildung in einer Residenzstadt – die Koblenzer Mauerbaurechnung von 1276 bis 1289
Responsio: Christian Hesse (Bern)
Sektion 2: Konflikt und Konsens – Gestaltungsprozess und Handlungsrahmen
Moderation: Bernd Nicolai (Bern)
Hans W. Hubert (Freiburg i. Br.): Ablasshandel und Baufinanzierung. Vom Konsens im Spätmittelalter und vom Eklat der Peterskirche in Rom
Barbara Schedl (Wien): St. Stephan in Wien. Politische Konflikte und städtische Baukontrolle
Responsio: Bruno Klein (Dresden)
Sektion 3: Konflikt und Konsens – Erfassen und Visualisierung
Moderation: Richard Nemec (Bern)
Anne-Christine Brehm (Karlsruhe): Architektur und Wettbewerb. Auswahl und Absetzung der Werkmeister
Sabine Bengel (Strassburg): Der Bau der Westfassade des Straßburger Münsters. Kommunale Selbstdarstellung, bautechnische Innovation und Hüttenanspruch
Dominik Lengyel (Berlin): Darstellung von Unschärfe auch von Prozessualität?
Responsio: Marc Carel Schurr (Strassburg)
Konklusionen: Cash-Flow im Spannungsfeld zwischen Geschichte und Kunstgeschichte
Schlusskommentar: Hans-Jörg Gilomen (Zürich)