1794 standen sie auf verschiedenen Pariser Plätzen: die «heiligen Berge», künstlich angelegte Haufen von Erde und anderen Materialien für die öffentliche Inszenierung der Versöhnung von Gesellschaft und Natur. Wie JON MATHIEU (Luzern) im Eröffnungsvortrag ausführte, wird diese Form von «politisierter Naturreligion» zum kontraintuitiven Beispiel in der Geschichte des sich wandelnden Verhältnisses von Natur und Kultur: Die «heiligen Berge» entstanden gerade in der Phase der Aufklärung, die im Allgemeinen mit zunehmender Rationalität und Entzauberung der Welt verbunden wird. 1992, in der Agenda 21 im Anschluss an die UNO-Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio de Janeiro, tauchte die «sacredness» der Berge wieder auf, als Naturwissenschaftler damit explizit den Appell für einen speziellen Schutz von Gebirgen begründeten.
Damit war die Aufmerksamkeit der Tagungsteilnehmenden schon von Beginn weg auf die Komplexität der Phänomene gelenkt: Geologie, Geschichte, Religion, Politik und Kunst können je nach historischem Kontext wechselseitig füreinander fruchtbar gemacht werden. Denn für materielle Ansammlungen und die damit verbundenen Schichtungen von Bedeutungen in den «direkt und indirekt von Menschen hinterlassenen Spuren, die von ihrem Verhältnis zur Umwelt zeugen» interessierte sich die zehnte infoclio.ch-Tagung. Bereits ihr Titel «Archive der Umwelt. Geschichte und Naturwissenschaften» rückte den «stuff» (MARCUS HALL, Zürich) ins Zentrum und brachte historische und naturwissenschaftliche Rekonstruktion der Geschichte der Umwelt ins Gespräch. Dies vor dem Hintergrund einer breiten und aktuell auch hochpolitisierten Diskussion: Denn heute scheinen menschliche Aktivitäten Spuren in den letzten Winkeln des Planeten zu hinterlassen. Der Ausstoss von Treibhausgasen verändert die Zusammensetzung der Atmosphäre ebenso wie den Säuregehalt der Meere, während intensive Landwirtschaft, Urbanisierung und Schelfbewirtschaftung ganze Topographien umwälzen und biologische Habitate zum Verschwinden bringen. Das Konzept «Anthropozän» spricht vom Menschen als einer «geologischen Kraft» und bündelt diese Veränderungen, deren Wirkungen noch Jahrtausende auf dem Planeten nachweisbar sein werden.1 infoclio.ch hat mit der Konzentration auf die «Archive der Umwelt» eine originelle Art und Weise gefunden, über Fragen nachzudenken, die sich auch für Geisteswissenschaften in Anbetracht der «irreversiblen Auswirkungen der globalen Erderwärmung» (infoclio) neu stellen.
Durch die Konzeption der Tagung wurden methodologische Aspekte stark gewichtet. Die Teilnehmenden lernten verschiedene Initiativen und Forschungsprojekte kennen, die Daten-, Objekt- und Dokumentensammlungen bereitstellen, wie zum Beispiel das Oeschger Centre for Climate Change Research (OCCR) der Universität Bern. CHRISTIAN ROHR (Bern) beschrieb, wie Wasserstandsmessungen und Reparaturrapporte mit Tagebucheinträgen und Gemälden verglichen werden, um Vorkommen und Frequenz von Flusshochständen vom Hochmittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert zu bestimmen. Das Schweizer Netzwerk Naturhistorische Sammlungen (SwissCollNet) wurde von CHRISTOPH SCHEIDEGGER (Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft) präsentiert. Geplant ist, sämtliche paläologischen, geologischen, botanischen und zoologischen Bestände der naturhistorischen Sammlungen in der Schweiz zu registrieren und digitalisieren (Fotographie), um den internationalen Informationsaustausch zu befördern. DENIS REYNARD (Archives de l’Etat du Valais) informierte über die verschiedenen kommunalen, privaten und institutionellen Zuflüsse, die im Walliser Staatsarchiv zusammenkommen und regelrechte «archives de l’environnement valaisannes» erlaubten; d.h. die historische Rekonstruktion von Bodennutzung, Bepflanzung, Ressourcen und Umweltverschmutzung.
Wie eine Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaft und Geschichte in der Praxis funktioniert, machten STEFAN BRÖNNIMANN (Bern) und FRANZISKA HUPFER (Zürich) deutlich. Brönnimann hat eine Initiative für ein weltweites Inventar der Wetterstationsdaten gestartet, das mittelfristig eine historische Auflösung «Tag für Tag» von circa dem 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts ergeben soll. Hupfer wiederum hat derartige «Messreihen» der historischen Klimatologie auf «vergangene Wissenskulturen» untersucht. Sie analysierte die Akteure und Instrumentarien des 1863 gegründeten «Schweizerischen meteorologischen Beobachtungsnetzes» zwischen Empirie, Berechnung und Publikation. Künftig soll es möglich sein, die in den Daten nachgewiesenen Wetterextremereignisse anhand von historischen Quellen auf ihre zeitgenössischen Wahrnehmungen und Auswirkungen hin zu befragen – und umgekehrt Thesen aus der historischen Forschung (etwa Ernteausfälle) an die Beobachtungsdaten heranzutragen.
Die vielfältigen Ausführungen zur Quellenlage verdeutlichten zweierlei: Erstens unterliegen alle Daten – auch Messungen – der historischen Quellenkritik und müssen mit anderen Dokumenten abgeglichen werden; selbst steinerne Erinnerungsplaketten für Fluthochstände können aus architektonischen Gründen verschoben worden sein. Zweitens kann man an den aktuellen Initiativen beobachten, wie wir jetzt gerade dabei sind, die «Archive der Umwelt» für die Zukunft mitzugestalten. Denn erst durch die Auswahl und die Auseinandersetzung mit Ausschnitten der Natur – früher wie heute – entsteht überhaupt ‘Umwelt’, also etwas, das mit uns zu tun hat und womit wir immer schon verwoben sind.2
Interessant zu sehen war, dass HistorikerInnen, geschult durch kulturgeschichtliche und wissenshistorische Fragestellungen, die Quellenbasis für ihre Narrative sehr weit auszudehnen bereit sind. Zu Recht tauchte deshalb auch die Frage auf, ob die Naturwissenschaften denn umgekehrt beispielsweise den «state of the art» der Kunstgeschichte in ihre Analysen von Wetterdaten mit einbezögen. Christian Rohr, der den empirischen Wert von impressionistischen Wintergemälden hervorgehoben hatte, schilderte, dass es meist zwei Publikationen benötige, mit denen man zum selben Thema unterschiedliche Fachjournals bediene.
Eine ähnliche Frage zum interdisziplinären Austausch zwischen Geschichte und Naturwissenschaften ging an den Paläoökologen OLIVER HEIRI (Basel) nach seinem Vortrag über Sedimentablagerungen in Alpenseen, die er als «Umweltarchive» bezeichnete. Von besonderem Interesse für seine Untersuchungen ist die Zuckmücke, die sich durch grosse Artenvielfalt auszeichnet. Die jeweilige Temperaturvorliebe der Art sowie die harten Kopfkapseln der Larven, die sich in Sedimenten erhalten, lassen die Zuckmücke zum «biotischen Indikator» für die Ermittlung der «wahrscheinlichsten Wassertemperaturen» in Schweizer Alpenseen über die letzten 11’400 Jahre werden. Offenbar wird der Begriff «Umweltarchiv» in der Paläoökologie seit langem benutzt; analytische Bezüge zu einem historischen oder kulturwissenschaftlichen Archivbegriff fehlen jedoch bisher.
Die Frage nach der Historisierung und Kontextualisierung von historischen Klimadaten wiederum führte darauf zurück, was JEAN-BAPTISTE FRESSOZ (Paris) ins Zentrum seiner Darstellung über die «naissance de la climatologie historique» stellte. Zum einen war diese Form der Wissenschaft um 1800 im Sinne der klassischen Naturgeschichte interdisziplinär angelegt (Astronomie, Phänomenologie, Vegetation und Messdaten etc.). Zum anderen hatten die beteiligten Wissenschaftler nicht die Herstellung einer universellen Geschichte zum Ziel, weil «die irdischen Zeitläufte und die menschlichen Temporalitäten» eng verschränkt gewesen seien. So war der imperiale Kontext für die frühen Klimatologen massgeblich im Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Menschen und Klima: Die Besiedlung Nordamerikas sowie Bilder aus den Kolonien dienten als Blaupause für Werturteile über den Umgang mit der Umwelt. Es wurden also eine Vielzahl von Techniken eingesetzt und vielfältige Fragen von den Wasserzyklen und der Entwaldung bis hin zu Migration und Kolonialismus kombiniert. «Historische Klimatologie», so Fressoz, «fragte danach, was Menschen tun».
Wie können wir heute solche komplexen Lebenswelten, in denen die geologische mit der historischen Zeit zusammenzufallen scheint, beschreiben? Sind in der Geschichtswissenschaft in Anbetracht der globalen Klimakrise neue Narrative vonnöten? Mit DIPESH CHAKRABARTY (Chicago) hatten die Veranstalter einen Historiker als Keynote Speaker eingeladen, der diese Fragen seit über zehn Jahren erörtert. Die grossen Erzählungen der Moderne, so Chakrabarty, seien auf industrielle, ressourcentechnische, emanzipatorische, demokratische und informatische Prozesse konzentriert und stets auf eine «world» (oder «earth» oder «globe») bezogen. Das sei aber nicht mehr adäquat: «The age of the global as such is over.». Mit dem Anthropozän komme auch die Geschichte des Planeten und des Lebens auf der Erde ins Spiel. Dies bewusst zu machen, sei den «earth system sciences» gelungen.
Für sich genommen sei die Entwicklung des Planeten «profoundly indifferent to humans»; wenn es aber darum geht, dass die Bewohnbarkeit des Planeten heute gefährdet sei, dann sprächen wir mit einem «geologischen Bewusstsein». Die Biodiversität, so Chakrabarty, könnte sich wieder erholen, falls wir 150 Millionen Jahre Zeit hätten zu warten. Unsere politische Zeit überblicke aber kaum zwei Generationen. Zu lange sei diese Kluft ignoriert und «das Planetarische» im politischen Denken weggelassen worden. Deshalb forderte Chakrabarty eine «new political anthropology». Diese tritt quasi noch einmal einen Schritt zurück, um nach der Geschichte unserer Gegenwart zu fragen, die von zunehmendem Energiebedarf, aber auch allgemein steigender Lebenserwartung geprägt sei. Es gehe darum, sich noch einmal klar zu machen, was es heisst, einen «bewohnbaren» Planeten zu haben und was es ist, was diesen «lebensfreundlich» mache.
Wie aber soll das zusammengehen mit politischem Handeln, das momentan sehr dringlich scheint? Sollen wir politisieren? fragte MARIANNE SOMMER (Luzern) als Moderatorin des Round Table ihre beiden Diskussionspartner Dipesh Chakrabarty und Jean-Baptiste Fressoz. Es mag wenig tröstlich sein, dass Chakrabarty einerseits an der «Krise des politischen Denkens» festhielt, andererseits in Aussicht stellte, dass «our message will last the longest». Fressoz betonte, dass die Bezeichnung «Anthropozän» das wohl «schlechteste Wort sei, um Klimawandel zu beschreiben». Damit sei «the sublime of nature» – wie es den ‘erhabenen Bergen’ im ersten Vortrag des Tages attestiert wurde – auf den Menschen übertragen worden. Viel zu viel Aufmerksamkeit werde den «earth system sciences» in der Anthropozän-Debatte eingeräumt; diese sprächen gar von einem «good anthropocene», das durch Technologieeinsatz erreicht werden könnte. In letzterem Punkt bestand grosse Einigkeit auf dem Podium: Die Antworten auf die Klimakrise dürfen nicht dem Geoengineering und damit dem Szientismus überlassen werden. Die «new political anthropology», welche Chakrabarty einforderte, kann letztlich auch als Aussage gegen eine technokratische Hybris interpretiert werden.
ALEXANDER ELSIG (Fribourg) unterstrich das Problem von demokratisch geführten Diskursen, die unter Druck einseitig in politische Handlungen übersetzt werden können und rückte im letzten Vortrag der Tagung noch einen weiteren Akteur ins Bild: die Industrie. Sein Fallbeispiel – die Walliser Aluminiumfabriken im 20. Jahrhundert und die Deutungskämpfe um die mögliche (gravierende) Verschmutzung der Umwelt zwischen sogenannten ‘Laien’ und sogenannten ‘Experten’ – machte nur zu deutlich, in welchem diffizilen Kräfteverhältnis sich die Wissensproduktion befindet. Informationen über Umweltzerstörung und menschliche Gesundheit prallten da auf ökonomische Interessenpolitik, Lobbyismus sowie politische und mediale Macht.
In diesem Kräfteverhältnis befindet sich letztlich auch die Geschichtswissenschaft, wenn sie die «Archive der Umwelt» entschlüsselt, die immer auch einen Teil von unserer Zukunft erzählen. Das Nachdenken darüber, was dies für die Geschichtswissenschaft disziplinär, methodisch und gesellschaftspolitisch bedeutet, hat mit der Tagung in Bern entscheidende Impulse erhalten: neue Quellenarten, neue Kooperationen, neue Narrative. Um diese neuartigen Formen von Zusammenarbeit anzugehen, sollten «wir uns als Spektrum denken» (Marcus Hall, Zürich). Oder wie Jon Mathieu es zum Schluss seiner Ausführungen ausdrückte: Dass die Wissenschaftskulturen inkompatibel wären, widerspreche seinen eigenen Erfahrungen. Gleichzeitig sei eine «Einheit» gar nicht erwünscht, geschweige denn demokratisch durchführbar. Was es seiner Meinung nach brauche, sei ein «problembezogener, kritischer Pluralismus».
Anmerkungen
1 Der Atmosphärenphysiker Paul Crutzen sprach 2002 von der «Geology of Mankind»; der Historiker Dipesh Chakrabarty formulierte 2009 für die Geisteswissenschaften massgebliche Fragen rund um ‘den Menschen’, der zur «geologischen Kraft» geworden sei; vgl. Crutzen, Paul J.: «Geology of Mankind», in: Nature 415 (2002), Nr. 3, S. 23; Chakrabarty, Dipesh: «The Climate of History: Four Theses», in: Critical Inquiry 35 (2009), Nr. 2, S. 197–222.
2 Sörlin, Sverker, Paul Warde: «Making the Environmental Historical – An Introduction», in: dies. (Hg.), Nature’s End. History and the Environment, Basingstoke 2009, S. 1–19.
Tagungsprogramm
Einführung in die Umweltgeschichte
Moderation: MELANIE SALVISBERG (Universität Bern)
JON MATHIEU (Universität Luzern) – Heilige Berge in Europa? Zur Wahrnehmung der Umwelt im Übergang zur Moderne
CHRISTIAN ROHR (Universität Bern) – Anthropogenic Historical Sources and Their Use for an Interdisciplinary Environmental and Climate History
JEAN-BAPTISTE FRESSOZ (Centre de Recherche Historique, EHESS) – La naissance de la climatologie historique 1770–1830
Naturwissenschaften als historische Wissenschaften?
Moderation: MARCUS HALL (Universität Zürich & Environmental Humanities Switzerland)
NICOLE BOIVIN (Max Planck Institute for the Science of Human History) – Archaeological Perspectives on the Anthropocene (entfallen)
OLIVER HEIRI (Universität Basel) – Paläoökologische Umweltrekonstruktion: Ansätze, Annahmen, Beispiele
Keynote
DIPESH CHAKRABARTY (Chicago University) – The Human in Natural and Humanist Histories: Towards a Fragile Rapprochement
Moderation: MARIANNE SOMMER (Universität Luzern)
Podiumsdiskussion
Quellen und Archive der Umwelt. Konservierung, Erschliessung und Zugang
Moderation: ENRICO NATALE (infoclio.ch)
STEFAN BRÖNNIMANN (Universität Bern) und FRANZISKA HUPFER (ETH Zürich) – Historische Wetterdaten: Klimatologische und geschichtswissenschaftliche Perspektiven
CHRISTOPH SCHEIDEGGER (Swiss Federal Institute for Forest, Snow and Landscape Research WSL) – Natural History Collections in Switzerland
DENIS REYNARD (Archives de l’Etat du Valais) – Archives de l’environnement en Valais
ALEXANDRE ELSIG (Université de Fribourg) – Savoirs experts, savoirs profanes. De quelques sources en histoire des pollutions industrielles