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Der zweite nationale Oral-History-Kongress, der sechs Jahre nach der ersten Tagung in Bern stattfand, beschäftigte sich mit dem Einfluss des Digitalen auf die Oral History.1 Er richtete sich an ein breites Publikum aus der Forschung, der Lehre sowie der Archive und Museen, um die unendlichen Möglichkeiten, die die digitalen Medien und die neuen Technologien bieten – oder aufzwingen? – zu diskutieren. Die Veranstaltung lud dazu ein, grundsätzlich über die Fragen nachzudenken, wie sich die neue Fülle an Zeitzeugnissen auf das Verständnis der Vergangenheit auswirkt und inwiefern sie die Praktiken der Oral History verändert.
ANNE HEIMO (Turku, Finnland) eröffnete die Tagung mit einer aufschlussreichen Keynote, die aus pandemiebedingten Gründen per Zoom übertragen wurde. Anne Heimo, Expertin für Oral History, cultural memory studies und autobiographical studies, forscht über transnationale Familien- und Migrationserinnerungen, die mittlerweile auch auf den Sozialen Medien, insbesondere Facebook, geteilt und diskutiert werden. Der Begriff Oral History wird in nordischen und baltischen Ländern allerdings selten verwendet, da sich dort autobiografische und memorielle Studien gemeinsam entwickelt haben. Diese neue Art des «everday memory making» auf Facebook, die sich sozusagen als unilaterale Oral History verstehen lässt, stellt ein neues Forschungsgebiet dar, das erst mit der Popularisierung der Sozialen Medien und der Erschwinglichkeit moderner Smartphones entstehen konnte. Heimos Forschung konzentriert sich hierbei vor allem auf finnische Migrationsgemeinschaften in Australien und den USA sowie auf Gruppen, die sich mit der Familiengeschichte im Finnischen Bürgerkrieg von 1917 auseinandersetzen. Als neue Forschungsumgebungen sind die Sozialen Medien aber nicht ohne Herausforderung. Jede Plattform ist einzigartig und erfordert andere Herangehensweisen. Ausserdem handelt es sich meist um kommerzielle Plattformen, was die Archivierung aufgrund von Urheberrechten und Datenschutz schwierig, wenn nicht sogar unmöglich macht. Heimo versucht, während ihrer Recherchen in verschiedenen Facebook-Gruppen möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, teilt aber den Administratorinnen und Administratoren der Gruppen ihre Präsenz als Forscherin mit. Ihre Keynote kann schliesslich als Plädoyer für eine Interdisziplinarität im Forschungsfeld der Familiengeschichte aufgefasst werden, die den Wandel der Erinnerungspraktiken von Familien im Laufe der Zeit berücksichtigt.
In einem der Vermittlung von Geschichte in der Schule gewidmeten Workshop stellten NADINE FINK (Lausanne), PETER GAUTSCHI (Luzern) und NATHALIE MASUNGI (Lausanne) ihre zweisprachige App Fliehen vor dem Holocaust vor. Die App bietet Jugendlichen ab 14 Jahren einen Zugang zur Geschichte durch audiovisuelle Zeugnisse von Holocaustüberlebenden. Die drei Referierenden betonten einige der zentralen didaktischen Vorteile dieser Unterrichtsform, darunter das gesteigerte Interesse an Geschichte bei Jugendlichen durch die Nähe zu persönlichen Erfahrungen und den Ausdruck von Emotionen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Der Workshop bot darüber hinaus die Möglichkeit, sich über das Potenzial des didaktischen Leitfadens, der mit der App angeboten wird, sowie über den Beitrag, aber auch die Grenzen der App auszutauschen.
Der Workshop «L'histoire orale comme pratique de formation» präsentierte die Oral History als Lerninstrument für den Sekundarunterreicht anhand von Erfahrungsberichten aus dem Bereich der Umweltgeschichte und dem Unterricht im Freien (Outdoor Education). ISMAËL ZOSSO (Lausanne) meinte diesbezüglich, der Unterricht in Umweltgeschichte in der Sekundarstufe ermögliche es, die historische Verankerung von ortsgebundenen Identitäten zu hinterfragen und im aktuellen Kontext über die Zukunft unseres Umfelds nachzudenken.
CHRISTIAN KOLLER (Zürich), Leiter des Schweizerischen Sozialarchivs, stellte in seinem Atelier einige Herangehensweisen und Probleme der Archivierung und Forschung vor. Er wies darauf hin, dass Oral-History-Quellen auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlichen Formen ihren Weg ins Archiv findet. So resultieren Quellen im Sozialarchiv meistens aus Forschungsprojekten, Lehr- oder Archivveranstaltungen, Ausstellungsprojekten, aber auch aus den Medien. Viele der ursprünglichen Interaktionen in den Interviews gingen dabei verloren, zum Beispiel wenn nur die Transkripte archiviert werden. Ausserdem gibt es im Sozialarchiv, wie auch in anderen Schweizer Archiven, keine einheitlichen Meta-Attribute, die eine Quelle als Oral-History-Zeugnis kennzeichnen. Für Forschende, die ihre Quellen archivieren wollen oder sie aufgrund von SNF-Direktiven zur Open Research Data archivieren müssen, gilt es, möglichst früh ein passendes Archiv zu finden, um technische und rechtliche Abklärungen durchzuführen. Dazu gehört das Format der Aufzeichnung sowie die Unterzeichnung einer personenschutzrechtlichen Vereinbarung über Benutzungsbedingungen, Schutzfristen und Anonymisierungen mit der Institution und den interviewten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Koller fügte allerdings an, dass Schutzfristen dazu führen können, dass Quellen im Archiv verschwinden oder vergessen gehen. Bei der Forschung mit bereits existierenden Oral-History-Quellen gilt es sich bewusst zu sein, dass ein Interview oft mit einer spezifischen oder gar keiner Forschungsfrage geführt wurde. Der Kontext des Interviews muss also in seine Betrachtung einfliessen: Es gilt das Prinzip der doppelten Quellenkritik. Koller äusserte sich auch zur Problematik der Archivierung des Digitalen. In Bezug auf die Archivierung der Sozialen Medien sieht er schwarz: Die Daten auf Plattformen wie Facebook seien zu volatil und die Datenmengen schlicht zu gross. Ausserdem stehe das Konzept der digitalen Langzeitarchivierung erst in seinen Anfängen. Bis jetzt gibt es noch keinen Konsens zur Frage, wie lange «Langzeit» sein soll, die Archive arbeiten «bis auf weiteres».
In ihrem zweisprachigen Workshop stellten ANNE-FRANÇOISE PRAZ (Freiburg), MARKUS FURRER (Luzern) sowie HÉLÈNE MADIÈS und ALAIN MEYLAN, zwei Mitglieder der Vereinigung ATD Quart-monde (Treyvaux), ihre Überlegungen zu einem umstrittenen Aspekt der Oral History als Forschungsmethode vor – nämlich zum Grad ihres partizipativen Charakters. Zunächst konzentrierte sich Markus Furrer auf die theoretische Dimension dieser Frage und erläuterte die Funktionsweise verschiedener Forschungsmodelle, die derzeit in- und ausserhalb der akademischen Welt verwendet werden. Er wies darauf hin, dass es zwar eine der ersten Aufgaben der Oral History gewesen sei, «den Stimmlosen» in der Geschichte eine Stimme zu geben («give a voice to the voiceless»), dass die Forschung jedoch dazu tendiere, eine gewisse Kontrolle über diese Beteiligung zu behalten. In einem zweiten Schritt entwickelte Anne-Françoise Praz ein konkretes Beispiel für die Einbindung von Betroffenen in die Forschungsarbeit einer Expertengruppe – der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen. Im Laufe dieses Mandats, das selbst das Ergebnis einer politischen Mobilisierung war, hätten die Forschenden erkannt, so die Referentin, wie wichtig es ist, die Perspektiven und Meinungen der Zeuginnen und Zeugen, die ihrerseits als Expertinnen und Experten betrachtet werden, in die wissenschaftliche Analyse einzubeziehen. In einer dritten und letzten Phase wurde das Wort den beiden ATD-Quart-monde-Mitgliedern überlassen. Sie stellten ein angewandtes Modell für eine partizipative Forschung vor, die zwischen 2019 und 2021 durchgeführt wurde und in der sich verschiedene Wissensbestände überschnitten haben: die der Erfahrung von Armut, der beruflichen Praxis von Sozialarbeiterinnen und -arbeitern und der wissenschaftlichen Expertise.
Das Atelier «Einen Platz für mündliche Zeugnisse auf Online-Plattformen schaffen» wurde von CLAUDE ZÜRCHER (Genf) vorgestellt, der die Plattform notreHistoire.ch entwickelt hat. Diese Plattform beinhaltet hauptsächlich private Archive der Öffentlichkeit (Familienalben, Amateurfilme etc.), die mit institutionellen Dokumenten verglichen werden können, und beherbergt auch mündliche Zeugnisse. Claude Zürcher konzentrierte sich auf letztere und präzisierte, dass es sich dabei meist um Videosequenzen von Privatpersonen handelt, die vom notreHistorie.ch-Redaktionsteam hervorgehoben werden. Das Redaktionsteam verlangt dabei seinerseits einige nützliche Informationen, die die hochgeladenen Dokumente begleiten, um eine bessere Weiterverwendung durch andere Nutzende der Plattform zu gewährleisten. Es handelt sich also um einen partizipativen Raum. Die Diskussion drehte sich um die Bedingungen für die Veröffentlichung solcher Zeugnisse, die technischen und rechtlichen Aspekte sowie wissenschaftliche Anforderungen.
DOMINIK STREIFF SCHNETZER (Frauenfeld), Stv. Direktor des Historischen Museums Thurgau und Mitbegründer von Oralhistory.ch, behandelte die Frage, ob im Ausstellungswesen eine Gefahr der Instrumentalisierung von Zeitzeugnissen besteht. Anhand seiner drei Projekte Archimob zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg (L’histoire c’est moi), HUMEM zur humanitären Schweiz und dem aktuellen Projekt Industriegeschichten aus dem Thurgau beleuchtete Streiff die Problematik aus verschiedenen Blickwinkeln. Im Fall von Archimob sieht Streiff ein geringes Risiko der Instrumentalisierung, da die Auswahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und ihre Aussagen sehr heterogen waren. Bei HUMEM sah dies allerdings anders aus, da die Fragestellung bereits darauf abzielte, die aussenpolitische Identität der Schweiz zu stärken, und von der Annahme ausging, die Schweiz habe eine humanitäre Berufung. Dazu kam, dass die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) der Hauptgeldgeber des Projekts war und dass die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen während ihrer Karriere dazu ausgebildet wurden, eigene und institutionelle Tätigkeiten als Erfolgsgeschichten darzustellen. Ausserdem unterlagen sie teilweise noch dem Amtsgeheimnis, kritische Fragen waren also schwierig zu stellen und kritische Antworten selten.
Die Tagung, an der Expertinnen und Experten aus dem Ausland und ein interessiertes Publikum teilnahmen, ermöglichte vor allem einen echten Erfahrungsaustausch über die Herausforderungen, die die Digitalisierung für die verschiedenen Akteurinnen und Akteure der Oral History mit sich bringen – und über die spannenden Erkenntnisse, die diese Methode eröffnen kann. In den Diskussionen, die auch ausserhalb der Workshops fortgesetzt wurden, zeigte sich der Wunsch, das Oral-History-Netzwerk in der Schweiz und darüber hinaus zu erweitern und zu stärken.
1 Der Kongress war ursprünglich für 2020 geplant, wurde aber wegen der Pandemie zweimal verschoben. Die Präsentationen der Beiträge sind auf der Website zur Tagung verfügbar.
Tagungsprogramm
Keynote: Oral History, family memories and online participatory heritage activities, Anne Heimo (University of Turku, Finland)
Atelier 1a (Unterricht): Geschichte mit audiovisuellen Zeitzeugen vermitteln, Nadine Fink, Nathalie Masungi (HEP Vaud, Lausanne), Peter Gautschi (PH Luzern, Luzern)
Atelier 2a (Forschung): Oral History aus dem Archiv, Christian Koller (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich)
Atelier 3a (Public History): Donner une place aux témoignages oraux sur des plateformes en ligne, Claude Zürcher (notreHistoire.ch, Genève)
Atelier 1b (Unterricht): L’histoire orale comme pratique de formation, Ismaël Zosso (HEP Vaud, Lausanne)
Atelier 2b (Forschung): Histoire orale – une méthode de recherche participative ?, Anne-Françoise Praz (Université de Fribourg, Fribourg), Markus Furrer (PH Luzern, Luzern)
Atelier 3b (Public History): «Mein Museum» - Zeitzeugenschaft oder Instrumentalisierung?, Dominik Streiff Schnetzer (Historisches Museum Thurgau, Frauenfeld)