Verantwortung: Caspar Hirschi
Referierende: Karoline Wetjen/ Alexander Bogner / Caspar Hirschi
Die Fragen, was wissenschaftliche Expertise zu leisten vermag und welche Rolle sie in der Gesellschaft wahrnehmen soll, sind angesichts der andauernden Corona- und Klimakrise hochaktuell. Im Zentrum des Panels stand die Natur als Bedrohung, aber auch als Bedrohte und der Umgang mit Krisensituationen, in denen diese zwei Bedeutungen der Natur verschmelzen. Dabei stand die These im Vordergrund, dass Naturexpertise keine alleinige Domäne der Natur- und Technikwissenschaften sein sollte, sondern ebenso eine der Sozial- und Geisteswissenschaften.
Die Coronakrise und der Umgang der Medien damit sorgen nicht nur für immense gesellschaftliche Konflikte, sondern stürzen auch den Menschen in eine Krise bezüglich seines Verhältnisses zur Natur, wie KAROLIN WETJEN (Kassel) zu Beginn ihres Referats ausführte. Dabei sei es die mediale Inszenierung wissenschaftlicher Expertise und das Generieren drohender Zukunftsszenarien gewesen, die das Verhältnis des Menschen zum Natur- und Klimaschutz zunächst überhaupt begründeten. Anhand zahlreicher Publikationen ausgewählter Umwelt- und Naturschutzvereine seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stellte Wetjen skizzenhafte Überlegungen zur Entwicklung des Expertenwissens und Krisendiskursen im 19. und 20. Jahrhundert an. Besondere Bedeutung hatte wissenschaftliche Expertise schon für die erste Phase der Naturschutzbewegung, in der Heimatschutz, Heimatpflege sowie Vogel- und Artenschutz im Fokus standen. So sei die ökonomische und ästhetische Bedeutung von Flora und Fauna herausgearbeitet worden, unterstützt durch Medienbeträge, die durch eine spezifische Rhetorik des Heraufbeschwörens apokalyptischer, dringlicher Naturzustände für die Anerkennung eines umfassenden Naturschutzes warben.
Bereits im 19. Jahrhundert wurde davor gewarnt, dass der Mensch im Begriff sei, die Natur zu zerstören. Dadurch habe die Wissenschaft eine wichtige, aber paradoxe Rolle erhalten, argumentiert Wetjen weiter. Denn was der Mensch während der Entwicklung verschiedener Wissenschafts- und Technikbereiche zerstöre, so die damalige Vorstellung, könne er mit ebendiesem Wissen und seiner Technik wieder richten. Umfassendes Tier- und Pflanzenwissen sei für Medienberichte zentral geworden. Durch das Publizieren detaillierter Pflanzenlisten etwa wurde die Artenvielfalt gezeigt und ein dringlicher Appell nach Schutzmassnahmen an die Lesenden gerichtet. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts sei das Naturschutzgebiet als moderner, biologischer Forschungsapparat und wertvolles Kulturgut medial inszeniert und Naturschutzansprüche durch die wissenschaftliche Tätigkeit begründet worden. Der Naturschutz wurde gemäss Wetjen zum Forum für die wissenschaftliche Agenda, aber auch zur Plattform für die eigene Expertise, auf der man sich profilieren konnte. Mit der medialen rhetorischen Inszenierung einer bedrohten Natur mit dunklen Zukunftsaussichten und der Wissenschaft als Lösung dieser Probleme sei einerseits Naturschutz, andererseits auch die wissenschaftliche Expertise legitimiert und in die gesellschaftliche Mitte katapultiert worden.
Den anschliessenden Vortrag leitete der Soziologe ALEXANDER BOGNER (Wien) mit einer Definition der Krise ein. Zu verstehen, was eine Krise überhaupt ist, sei zentral für das Verständnis, wie sich Expertenwissen darin eingliedert. Gemäss Bogner bezeichnet eine Krise einen Zeitabschnitt, in dem eine Entscheidung fällig wird, aber noch nicht getroffen ist. Anhand einer tabellarischen Darstellung zeigte er verschiedene Elemente einer Krise auf und analysierte, in welchen Abschnitten Konfliktpotenzial für die Gesellschaft und Politik liegt. Eine Hauptproblematik im Umgang mit Krisen sieht Bogner darin, dass diese als epistemische und nicht als normative Probleme gedeutet werden. In den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückten Fakten, Evidenzen sowie kognitive Kompetenzen und follow the science werde zur Lösung - sprich, dass Krisen in der modernen Zeit mit dem Primat der Wissenschaft gelöst werden wollen. Die Wissenschaft und wissenschaftliche Expertise würden zur Ressource. Besonders die Coronakrise habe gezeigt, dass Wissenschaft und Politik in ein Spannungsverhältnis geraten, wenn zur Beantwortung von Sachfragen wissenschaftliche Ergebnisse herangezogen werden. Krisen und Konflikte würden durch Wissenschaftsdebatten entschieden; in wissenschaftlichen Erkenntnissen gar politische Programme gelesen. Beschränke sich die Politik auf die Weisungen der Wissenselite, so Bogner, bestehe die Gefahr der Polarisierung: Der politische Gegner werde zum Feind der Vernunft. Und diese Vernunft liege vermeintlich in wissenschaftlichen Expertisen und deren Rezeption durch die Medien.
Im dritten Beitrag verfolgte CASPAR HIRSCHI (St. Gallen) die These, dass geistes- und sozialwissenschaftliches Wissen in der Naturexpertise über grosse Risiken wie Klimawandel, Erdbeben und Pandemien schon heute eine wichtige Rolle spielt. Die Problematik liegt ihm zufolge jedoch darin, dass noch keine führenden Figuren der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung eine zentrale Funktion in Krisenberatungen wahrnehmen. Dass dies aber unbedingt geschehen sollte, legte Hirschi an verschiedenen Fallbeispielen dar. Die Natur sei keine Kategorie mehr, die von Gesellschaft und Kultur getrennt werden könne. Diese Grundannahme ist gemäss Hirschi Teil der geisteswissenschaftlichen Postmoderne, obwohl der öffentliche Diskurs noch immer durch das Bild der vom Menschen bedrohten, unberührten Natur dominiert werde. Eine Kulturalisierung der Natur finde zwar statt, eine Naturalisierung der Kultur jedoch nicht. Dabei wäre es wichtig, dass genau dieser Prozess dort passiere, wo die Rolle der Wissenschaft wichtig für die Gesellschaft wird.
Damit meinte Hirschi, dass etwa in Krisen die «kulturelle Schwarmlogik» durch die Kommunikation wissenschaftlicher Experten und Expertinnen gekappt werde, und verdeutlichte dies am Beispiel des Erdbebens im italienischen L’Aquila 2009: Um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, sei dort die Empfehlung ausgesprochen worden, Zuhause zu bleiben, obwohl ein Erdbeben als wahrscheinlich galt. Wären sozialwissenschaftliche Bedenken miteinbezogen worden, hätten andere Empfehlungen ausgesprochen und somit viele Menschenleben gerettet werden können. Der in diesem Fall aufgetretene Gegensatz zwischen naturwissenschaftlichem Expertenwissen und sozialem Verhalten zeigten, so Hirschi weiter, wie wichtig eine Implementierung sozial- und geisteswissenschaftlichen Expertenwissens in die politische Beratung wäre. Er plädierte dringend dafür, die fundamentale Kluft zwischen der Relevanz der Geisteswissenschaften für die Naturexpertise und der Rolle der Forschenden in der Bereitstellung und Vermittlung dieser Expertise zu überwinden. Diese mangelnde Präsenz solle durch stärkere Vernetzung von Politik und Wissenschaft ausgeglichen werden.
Die Vorträge dieses Panels haben historische Zusammenhänge und die Dynamik zwischen Krisen und Expertenwissen miteinander verknüpft und so auch damit einhergehende Probleme und Chancen herausgearbeitet und historisch verortet. Besonders Caspar Hirschis Plädoyer für eine verbesserte Präsenz der Geisteswissenschaften – allen voran der Geschichtswissenschaften – in Krisenberatungen vermochte zu überzeugen und bietet sicherlich viel Diskussionspotenzial.
Panelübersicht:
Karolin Wetjen: Naturzukünfte. Krisendiskurse und wissenschaftliche Expertise im 19. und 20. Jahrhundert
Alexander Bogner: «Follow the science» - die Rolle von Expertise in den grossen Krisen der Gegenwart
Caspar Hirschi: Naturexpertise zwischen Tornado Politics und Abortion Politics (Waldsterben, Erdbeben, Klima): Zur Bedeutung der Geistes- und Sozialwissenschaften (1980-2020)
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
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