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Themenbericht: Europäische Agrarpolitik des 20. Jahrhunderts

Autor / Autorin des Berichts: 
Dorothee Ryser, Universität Basel



Zitierweise: Ryser, Dorothee: Themenbericht: Europäische Agrarpolitik des 20. Jahrhunderts, infoclio.ch Tagungsberichte, 2013. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0081>, Stand:


Themenbericht: Europäische Agrarpolitik des 20. Jahrhunderts

Themenbericht zu folgenden Panels:
• Agricultural politics in Europe between WWII and 1957. Part I
Panelverantwortliche: Carin Martiin / Juan Pan-Montojo
Chair: Juan Pan-Montojo

• Agricultural politics in Europe between World War II and 1957. Part II
Panelverantwortliche: Carin Martiin / Juan Pan-Montojo
Chair: Juan Pan-Montojo

• Agricultural Policies in the 20th Century
Panelverantwortliche: Giovanni Federico / Mark Spoerer
Chair: Mark Spoerer

Regierungen überall in Europa griffen im Laufe des 20. Jahrhunderts in die landwirtschaftliche Produktion und Agrarmärkte ein. Mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EWG, 1957 in Kraft gesetzt, wurde Agrarpolitik auch international betrieben. Drei Panels im Rahmen der Konferenz Rural History 2013 befassten sich mit agrarpolitischen Massnahmen, Legislationen und Ideologien in europäischen Staaten. Eine Doppelsitzung zum Thema Agricultural Politics in Europe between World War II and 1957 konzentrierte sich auf die in der Forschung bisher vernachlässigte Zeitspanne zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der europäischen Integration. Die Veranstalter beabsichtigten, diese Jahre aus nationaler wie internationaler Perspektive zu beleuchten und insbesondere das politische Klima der jeweiligen Staaten in die Analyse miteinzubeziehen. Das dritte Panel, Agricultural Policies in the 20th Century, analysierte den Hintergrund der interventionistischen und protektionistischen Agrargesetzgebungen, welche im Laufe des 20. Jahrhunderts die Agrarpolitik vieler europäischer Staaten prägten, inklusive diejenige der Europäischen Gemeinschaft. Die ReferentInnen stellten Fälle staatlicher Intervention in Agrarmärkte und Produktion vor und untersuchten, welche Faktoren die Eingriffe motivierten.

JOHN MARTIN analysierte die Agrarpolitik der Nachkriegszeit in Grossbritannien. Er charakterisierte die Jahre zwischen 1947 und 1957 als „crucial period of transition“ zwischen Nahrungsmittelknappheit und Überproduktion. Die Labour-Regierung der Nachkriegszeit sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, einerseits die Produktion anzukurbeln, andererseits mit knappen Ressourcen die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Der Referent strich insbesondere die Bedeutung des harten Winters 1947 heraus, dessen desaströse Auswirkungen in der Literatur meist vernachlässigt werden. Der Agriculture Act von 1947 führte Garantiepreise für Agrarprodukte ein und schuf einen Fünfjahresplan zur Produktionssteigerung. Die 1951 gewählte konservative Regierung baute die interventionistischen Massnahmen parallel zur Produktionssteigerung ab. Als Fazit schloss Martin, dass die Agrarpolitik jener Jahre pragmatisch orientiert, also den Bedürfnissen der Zeit angepasst und den jeweiligen Parteien übergeordnet war. Beispielsweise war Labour bereit, dem Agrarsektor Sonderstatus einzuräumen, während die Abkehr von Staatseingriffen unter den Konservativen durchaus dem Parteiprogramm entsprach, jedoch nur durch die positive Marktentwicklung überhaupt ermöglicht wurde.

Die Präsentation von CLARE GRIFFITHS beschäftigte sich ebenfalls mit Grossbritannien, interessierte sich jedoch für ideologische Aspekte der Agrarpolitik vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der sich wandelnden internationalen Beziehungen des britischen Staates. Inwiefern änderten sich die Wahrnehmung und die Rolle der Landwirtschaft im Kontext des Kalten Krieges? Die Referentin betrachtete diese Forschungsfrage als wichtigen Bestandteil eines übergeordneten Fragenkomplexes zur Beziehung Staat-Landwirtschaft, insbesondere der Frage, ob der Staat den Bauern aufgrund ihrer Rolle spezielle Unterstützung zukommen lassen soll und muss. Sie schlug drei Ansatzpunkte vor, anhand welcher zukünftige Forschung Zugang zum Thema finden könnte: erstens die Landesverteidigung, zweitens die politischen Beziehungen und Sympathien der bäuerlichen Bevölkerung sowie drittens die Landesversorgung.

Ein weiterer Vortrag, welcher die Auswirkungen der britischen Agrarpolitik auf die Kolonie Nigeria untersucht hätte, fiel leider aus.

Die nächste Präsentation führte nach Schweden, dessen Landwirtschaft durch den Krieg kaum beeinträchtigt wurde. CARIN MARTIIN untersuchte, weshalb die Produktion in den 1950er Jahren trotz guter Ausgangslage bei Kriegsende stagnierte. Als wichtige Faktoren dieser Entwicklung identifizierte Martiin einerseits die Struktur der schwedischen Landwirtschaft, andererseits einen falschen Umgang mit Düngemitteln. Die Landwirtschaft wurde von kleinen Familienbetrieben dominiert. Es bestand wenig Interesse, mit Hilfe neuer Technologien die Produktivität zu steigern; es arbeiteten weiterhin alle Familienmitglieder im Betrieb mit. Gleichzeitig sanken jedoch die Anzahl der Betriebe und die Anbaufläche. Gedüngt wurde im Winter, die Nährstoffe aber anschliessend mit der Schneeschmelze weggespült. Die Referentin zeigte auf, dass diese Umstände in einer stagnierenden Produktion resultierten. Trotz grossen Potentials und einer früh implementierten Rationalisierungsstrategie gelang es Schweden also nicht, seine Produktion in der Nachkriegszeit zu steigern, im Gegensatz zu den meisten Ländern Europas.

Zur deutschen Agrarpolitik referierte GESINE GERHARD. Während sowohl die Agrarpolitik des Zweiten Weltkriegs als auch die europäische Integration ausgiebig untersucht wurden, bleiben zur Nachkriegszeit viele Fragen offen. Gerhard argumentierte, dass die tiefgreifendsten Veränderungen in der Landwirtschaft in dieser Zeitspanne stattfanden. Motorisierung und Produktivitätssteigerung wurden begleitet von einer rapiden Abnahme der Anzahl Betriebe und der bäuerlichen Bevölkerung. Die Erfahrung der Kriegsjahre stärkte den Status der Bauern und damit ihren politischen Einfluss. Gerhard zeigte, dass die agrarpolitische Gesetzgebung der Nachkriegszeit, in Form des Landwirtschaftsgesetzes von 1955, als Resultat dieses Einflusses interpretiert werden kann. Das Gesetz bezweckte, mit Hilfe von Subventionen und Krediten die Auswirkung des Strukturwandels abzuschwächen. Die Referentin schloss, dass der Wandel für die Landwirtschaft eine schwierige Zeit darstellte, die Massnahmen gesamtwirtschaftlich jedoch als Erfolg gewertet werden konnten.

Die Präsentation eines Kollektivs unter Leitung von LOURENZO FERNANDEZ PRIETO bot einen Überblick über die spanische Agrarpolitik unter Franco und diskutierte mögliche neue Ansätze und Forschungsfragen. Agrarpolitisch kann die Diktatur Francos in zwei Zeitabschnitte geteilt werden. Der „Agrarfaschismus“ stellte ab 1939 ein Autarkieprogramm ins Zentrum. Während die ältere Literatur hauptsächlich die negativen Auswirkungen dieser Politik betonten, verfolgt die neuere Forschung einen differenzierteren Ansatz. Die Referenten wiesen darauf hin, dass viele Aspekte des Autarkieprogramms nicht genügend untersucht sind. Im Laufe der 1950er Jahre, zeitgleich mit einer gewissen Öffnung des Landes, wurde die Autarkiepolitik durch eine Rationalisierungsstrategie ersetzt. Laut dem Referenten bestehen für diesen Zeitabschnitt grössere Forschungslücken, insbesondere betreffend der Ursachen des daraufhin einsetzenden Strukturwandels und der Faktoren, welche die Abkehr vom Autarkieprogramm motivierten.

Mit Portugal untersuchte DULCE FREIRE eine zweite südeuropäische Diktatur. Sie wies insbesondere auf die Rolle hin, welche die Landwirtschaft in der Aufrechterhaltung der Diktatur spielte. Propaganda während der Kriegsjahre – das Land war nicht direkt am Krieg beteiligt – fokussierte auf die Fähigkeit der Regierung, die portugiesische Bevölkerung zu ernähren, während der Rest Europas in Schutt und Asche lag. Als wichtige zukünftige Forschungsfrage identifizierte Freire die Auswirkung internationaler Organisationen auf die Agrarpolitik und Ernährungsgewohnheiten in Portugal. Das Land trat in den 1940er Jahren der Food and Agriculture Organization (FAO) und der Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) bei. Die Referentin ging davon aus, dass der Beitritt die Agrarpolitik beeinflusste, die Diktatur jedoch auch Widerstand übte.

Zum niederländischen Fall referierte ANTON SCHUURMAN. Die Landwirtschaft der Niederlande unterlag bereits in den 1950er Jahren einem Strukturwandel. Schuurman zeigte, dass das politische System der Nachkriegszeit stark korporatistische Züge trug. Im Agrarsektor drückte sich dies dadurch aus, dass Vertreter der Regierung, landwirtschaftliche Interessenverbände sowie Experten aus der Wissenschaft gemeinsam die zukünftige Richtung der Agrarpolitik verhandelten. Eine zentrale Zielsetzung war die Anhebung bäuerlicher Einkommen auf das Niveau von Industriearbeitern. Um hohe Preise für Agrarprodukte rechtfertigen zu können, wurde die Rationalisierung und die Steigerung der Produktivität vorangetrieben. Schuurman interpretierte die niederländische Agrarpolitik der Nachkriegszeit als Paradebeispiel einer „deliberate modernity“, eines bewusst hervorgebrachten Strukturwandels.

Das Panel zur Agrarpolitik im 20. Jahrhundert begann mit einem Beitrag zu Frankreich und Spanien. JORDI PLANAS verglich staatliche Eingriffe in die Weinproduktion und -märkte beider Länder im frühen 20. Jahrhundert. Während sowohl die französische als auch die spanische Regierung mit Schutzzöllen, Kontingenten und Qualitätskontrollen intervenierten, waren die Eingriffe in Frankreich tiefgreifender und wirkungsvoller. Planas analysierte in seinem Referat die Gründe hierfür. In Frankreich konzentrierte sich die Weinproduktion auf eine Region, während die spanische Produktion dezentralisiert war. Die meisten französischen Weinbauern waren auch Besitzer ihres Landes; bereits früh organisierten sie sich in Verbänden. Daher waren ihre Interessen nicht nur entsprechend homogen, sie konnten auch gezielt Lobbyarbeit betreiben. In Spanien, wo Weinbau hauptsächlich von Pächtern betrieben wurde, waren hierfür selten genügend gemeinsame Interessen und politischer Einfluss vorhanden. Planas demonstrierte zudem, dass der französischen Regierung eine Reihe geeigneter Instrumente zur Verfügung standen, während in Spanien entsprechende Gesetzgebungen weniger stark ausgeprägt waren.

FEDERICO D’ONOFRIO beschäftigte sich mit der Anwendung statistischer Methoden im Kontext der italienischen Landwirtschaft. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erhoben Agrarökonomen zunehmend Daten zu Faktoren wie Produktivität und Lebenshaltung der bäuerlichen Bevölkerung. D'Onofrio interessierte sich dabei für die Rolle, welche die Resultate dieser statistischen Arbeiten in der Formulierung der Agrarpolitik spielten, und demonstrierte diese anhand eines Beispiels. Erhebungen zur Wirtschaftlichkeit kleiner landwirtschaftlicher Betriebe führten in der Zwischenkriegszeit zur Inkraftsetzung einer Agrarpolitik, welche kleine Betriebe auf Kosten von Grossgrundbesitzern begünstigte. Der Referent konnte jedoch auch zeigen, dass Resultate neu interpretiert wurden, um einen vorgefassten Entscheid zu unterstützen.

ÖZGÜR GÜRSOY analysierte in ihrer Präsentation Stützungskäufe im Bereich der türkischen Tabakproduktion. Tabak war eines der wichtigsten türkischen Exportprodukte. Im Rahmen der Kriegswirtschaft wurde 1940 beschlossen, einen Teil der Produktion durch staatliche und halbstaatliche Organisationen aufkaufen zu lassen, um die Branche zu schützen. Ab 1948 wurden die Stützungskäufe von einem staatlichen Monopol durchgeführt, finanziert durch eine Abgabe auf den Verkauf von Tabakprodukten. Die Analyse öffentlicher Debatten im Rahmen regelmässiger Gesetzesrevisionen zeigte auf, dass die Produzenten die Massnahme in der Nachkriegszeit weiterhin unterstützten, während der Handel zunehmend kritisch eingestellt war. Gürsoy demonstrierte, dass es sich bei den Stützungskäufen nicht um einen einseitigen Staatsinterventionismus handelte, wie später oft postuliert wurde, sondern dass gesellschaftliche Akteure an der Ausformung der Politik beteiligt waren.

MARK SPOERER beschäftigte sich in seinem Referat mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EWG zwischen 1962 und 1992. Die jüngere Forschung hat zwei Thesen aufgestellt, um die Langlebigkeit der GAP zu erklären: erstens, dass die GAP als Äquivalent von Sozialleistungen an die Bauern zu interpretieren ist; zweitens, dass sie das Resultat erfolgreicher Lobbyarbeit durch Interessensverbände sei. Anhand eines Vergleichs von Kosten und Leistungen der GAP und nationalstaatlicher Sozialpolitik versuchte Spoerer festzustellen, ob ersteres Argument gültig ist. Er kam dabei zum Schluss, dass die Kosten der GAP viel höher waren und nicht denselben Entwicklungen folgten. Für Spoerer wird dadurch die These, dass die Gemeinsame Agrarpolitik eine Erweiterung des Sozialstaats darstelle, entkräftet.

Die Gemeinsamkeiten der agrarpolitischen Ziele und Gesetzgebungen der diskutierten Staaten stechen sofort ins Auge. Marktintervention, Protektionismus, Schutz der bäuerlichen Bevölkerung und Miteinbezug landwirtschaftlicher Interessensverbände fanden sich als Bestandteil der Agrarpolitik vieler Länder. Diese Ähnlichkeiten waren auch Thema der anschliessenden Diskussion. Das Zusammenführen von Forschung zu verwandten Fragestellungen im Rahmen dieser Panels war Vergleichen natürlich zuträglich. Nicht einig waren sich die TeilnehmerInnen, ob den Gemeinsamkeiten oder den Unterschieden grösseres Gewicht zugestanden werden soll. Betont wurde, dass der agrarian exceptionalism – die Ansicht, dass der Landwirtschaft aufgrund ihrer Eigenschaften und ihrer Rolle innerhalb der Volkswirtschaft aussergewöhnliche Unterstützung zustehe – die Agrarpolitik vieler Staaten geprägt hat. Hingewiesen wurde jedoch auch auf regionale Ausprägungen grundsätzlich ähnlicher Legislationen. Als Ansatzpunkte für zukünftige Forschung formulierten die Beteiligten die Fragen, welche regional unterschiedlichen Resultate ähnliche agrarpolitische Massnahmen hervorbrachten, welchen Einfluss das jeweilige politische System beziehungsweise die Regierungspartei auf die Formulierung der Agrarpolitik besass, und wer von der Politik profitierte.

Panelübersicht
• Agricultural politics in Europe between WWII and 1957. Part I

John Martin: British Agriculture in transition: Food Shortages to Food Surpluses (1947-57)

Clare Griffiths: Cold War Farm: international contexts for British farming in the 1940s and 1950s

Carin Martiin: Modernized farming but stagnated production: Swedish farming from WWII to the late 1950s

• Agricultural politics in Europe between World War II and 1957. Part II

Lourenzo Fernández Prieto / Ana Cabana Iglesia / Alba Díaz Geada / Araceli Freire Cedeira / Daniel Lanero Táboas
/ David Soto Fernández: Agriculture and agricultural policies in Spain (1939 - 1959

Gesine Gerhard: Changing Colors: the Green Law of 1955 and the Integration of German Peasants

Dulce Freire: International recommendations and national decisions: Portuguese agriculture policies after WWII

Anton Schuurman: Agricultural politics in the Netherlands from WWII till 1957

• Agricultural Policies in the 20th Century

Jordi Planas: Lobbies and state intervention in wine markets in the early twentieth century. Why were Spain and
France so different?

Federico D'Onofrio: From data to policy: statistics, enquiries, and monographs in the 1930s

Özgür Gürsoy: The Institutionalization of Support Purchases in the Turkish Tobacco Market, 1940-1961

Mark Spoerer: Agricultural Protection in the European Economic Community, 1962-1992: Rent-seeking or Welfare
Policy?

Event: 
Rural History 2013
Organised by: 
Swiss Rural History Society (SRHS) / Archives of Rural History (ARH)
Event Date: 
20.08.2013
Place: 
Bern
Report type: 
Conference