Verantwortung: Francesco Spöring / Nikolay Kamenov
Referentinnen: Annika Hoffmann / Nikolay Kamenov / Francesco Spöring / Jakob Tanner
Wann eine narkotisierende Substanz als identitätsstiftendes Genussmittel, als Medizin oder als gesellschaftsfeindliches Suchtmittel angesehen wird, hängt von spezifischen Debatten und Wahrnehmungen ab und unterliegt ständiger neuer Aushandlungsprozesse. An dem von FRANCESCO SPÖRING und NIKOLAY KAMENOV organisierten Panel am Freitag Nachmittag setzten sich die ReferentInnen mit verschiedenen Genesen und Genealogien solcher Wahrnehmungsmuster und Narrative auseinander. Ganz im Sinne des Themas der Schweizerischen Geschichtstage wurde sowohl nach transnationalen Netzwerken und Diskursen gefragt, als auch deren lokale Auswirkungen auf das tägliche Leben thematisiert.
Nikolay Kamenov stellte erste Resultate seines Dissertationsprojekts zur bulgarischen Temperenzbewegung im Zeitraum 1890-1940 vor. Unter dem Titel „Visualisierungen von Rausch und Mässigkeit: Der internationale Austausch von alkoholgegnerischen Bildern in den 1920er und den 1930er Jahren“ beschäftigte sich der Beitrag mit der Betrachtung visueller Genealogien. Anhand ausgewählter Beispiele wurde dargelegt, wie sich Darstellungen von Familien und Rausch auf Postkarten und in alkoholgegnerischen Zeitschriften auf die Ikonographie protestantischer Kampagnen im 19. Jahrhundert zurück verfolgen lassen. Interessant war dabei auch der Einbezug einer möglichen „eigenen“ bulgarischen Ikonographie, welcher in der anschliessenden Diskussion allgemeine Fragen zur Temperenzbewegung und zur Verbreitung des Protestantismus in Bulgarien hervorrief.
Francesco Spöring ging in seinem Beitrag der Frage nach, wie Schweizer Guttempler die Antialkoholdiskussion in der Schweiz zwischen 1886 und 1940 beeinflussten und veränderten. Als Beispiele zog er Gustav Bunge (1844-1920), Auguste Forel (1848-1931) und Robert Hercod (1876-1963) heran, die mit sozialhygienischen Argumenten die Alkoholabstinenz verfochten. So warnte Bunge vor einer alkoholbedingten „Degeneration“ der Gesellschaft und Forel, Gründer der ersten Guttempler-Loge der Schweiz (1892), verteufelte den Alkohol als ein die Freiheit lähmendes und den Fortschritt zukünftiger Generationen bedrohendes Getränk. Spöring wies auf Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Lehrerschaft, sozialhygienisch geprägten Vereinen in der Schweiz und dem Blauen Kreuz hin und zeigte, wie die Guttempler ihre alkoholgegnerischen Argumente, nicht zuletzt Dank ihrer internationalen Vernetzung, verbreiteten. Der vormals stark religiös geprägte alkoholgegnerische Diskurs wandelte sich zu einer wissenschaftlichen Fachsprache, die mit scheinbar objektivem Wissen Deutungshoheit beanspruchte und dadurch auch Verhaltensforderungen stellte. Im Anschluss an den Beitrag wurde in der Diskussion unter anderem der Konflikt zwischen Mässigkeits- und Abstinenzstandpunkten besprochen. Abstinenzstandpunkte blieben in der Schweiz, wie auch auf internationaler Ebene, abgesehen von den USA und einigen nordeuropäischen Ländern, in der Minderheit.
ANNIKA HOFFMANN stellte in ihrem Beitrag Teile ihrer 2012 erschienenen Dissertation vor. Sie begann mit der Feststellung, dass die Annahme, während der Weimarer Republik habe es eine so genannte „Drogenwelle“ gegeben, auch heute noch verbreitet sei. In ihrer anschliessenden Analyse legte die Historikerin anschaulich dar, wie sich die Wahrnehmung des Opiatkonsums als Problem zwischen 1919 und 1928 in verschiedenen Phasen etablierte und in der Folgezeit reproduziert wurde. Die Genese der Problemwahrnehmung des Drogenkonsums untersuchte sie anhand Interaktionen der vier verschiedenen Akteursgruppen Staat, Medien, Wissenschaft und Nichtstaatliche Organisationen. Die Definition des Drogenkonsums als abweichendes Verhalten sei dabei nicht in Form einer gezielten Problematisierung erfolgt, sondern vielmehr als Produkt vieler kleiner Schritte, welche die Referentin anhand ausgewählter Quellentexte illustrierte. Der Beitrag zeigte, dass es sich bei der „Drogenwelle“ der Goldenen Zwanzigerjahre eher um eine Welle der Aufmerksamkeit handelte, als um einen nachweisbaren Wandel im Konsumverhalten. Nichtsdestotrotz haben die Wahrnehmung des Drogenkonsums als ein für Individuen und für die Gesellschaft schädliches Phänomen und die damit verknüpfte Vorstellung, dass diesem Konsum nur mit staatlicher Regulierung entgegenzukommen sei, bis heute überdauert. Annika Hoffmann regte abschliessend an, dass eine Untersuchung der Genese der Problemwahrnehmungen und eine kritische Quellenanalyse auch dazu beitragen könnten, bis heute vorherrschende Wahrnehmungen zu überdenken.
In seinem ausführlichen Kommentar erläuterte JAKOB TANNER am Ende des Panels vier entscheidende Aspekte einer Geschichte der Drogen. Zum ersten sprach er das Thema der Problematisierung an. Als Phänomen haben Drogen eine eigene Historizität und unterliegen darüber hinaus einer bestimmten Ambiguität. Nach Tanner bestehen folglich immer mehrere Deutungen von Drogen nebeneinander und es seien Doppeldeutigkeiten und Dichotomien, wie Angst – Faszination, Schrecken – Euphorie, Eigenes – Fremdes, die es Akteuren erlauben, sich einer bestimmten Deutung zu bedienen und dieser Geltungsanspruch zu verleihen. Diese Vereinheitlichungen beinhalten ein hohes moblilisierendes und diskursives Potential.
Im Weiteren ging Tanner auf die Beziehung zwischen global und lokal ein und regte an, den Konsum von Drogen mit mikrohistorischen Darstellungen zu untersuchen. Eine globalhistorische Perspektive lohne sich hingegen, sobald sich das Interesse um die Zirkulation von Drogen drehe, da es sich hier um komplexe Verteilungssysteme, Wertschöpfungsketten und vor allem um Machtasymmetrien handle. So könne eine Geschichte der Prohibition nur als globale Geschichte dargestellt werden.
Eine Geschichte der Drogen kann auch die Semantik, Metaphorik und visuelle Repräsentationen narkotisierender Substanzen thematisieren, wie im Beitrag von Nikolay Kamenov. Historisch spannend sei dabei die starke Auswahlmöglichkeit des „Drogenproblems“ als Problem bestimmter Stoffe, wobei die Klassifikationssysteme hier äusserst willkürlich verlaufen, bis hin zur Übertragung des Problems auf ganze Gesellschaften, beispielsweise als „Drogengesellschaft“ oder „Dopinggesellschaft“.
Zuletzt begründete Jakob Tanner den von den Organisatoren gewählten Zeitraum 1860-1960. In dieser Periode wurde eine Problemkonstellation aufgebaut, die mit der Unterzeichnung der Singer-Konvention 1961 und der Unterzeichnung der USA 1967 in einer internationalen Prohibitionspolitik endete. Auch aus mediengeschichtlichen Gründen macht die zeitliche Einteilung Sinn, da es in den 1960er Jahren mit der Verbreitung des Fernsehens und dem Aufkommen der Boulevardpresse zu einem Bruch mit dem seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden Medienensemble kam. Schliesslich änderte sich ab den 1960er Jahren auch die Konfiguration nationaler Drogenpolitiken, die nicht mehr an ein bestimmtes Territorium gebunden, sondern zunehmend von internationalen Prohibitionsregimen kontrolliert wurden.
Insgesamt war es ein sehr informatives und vielseitiges Panel, welches anhand verschiedener historiographischer und interdisziplinärer Zugänge über Bilder, Organisationen, Biographien, Strukturen und Diskurse die Bedeutung globaler und transnationaler Bezüge für das Verständnis lokaler Wahrnehmungsmuster von narkotisierenden Substanzen aufzeigte und die Anwesenden zum Überdenken bekannter Deutungsmuster anregte.
Francesco Spöring: Befreiungsrhetorik zwischen Religion und Wissenschaft. Die transnationale Proliferation alkoholgegnerischer Argumente durch Schweizer Guttempler, 1886–1940
Nikolay Kamenov: Visualisierung von Rausch und Mässigkeit: Der internationale Austausch von alkoholgegnerischen Bildern in den 1920er und 1930er Jahren
Annika Hoffmann: Opiat- und Kokainkonsum in der Weimarer Republik: Medizin, Presse, Politik und ihr diskursiver Beitrag zur Entstehung eines sozialen Problems