Das Dissertationsvorhaben leistet einen Beitrag zu medizingeschichtlichen Forschungen aus sozialgeschichtlicher Perspektive, indem es erstmals verschiedene Schauplätze und Projekte der Hygienepropaganda als präventivmedizinische Praxis in der Spätzeit des russischen Imperiums untersucht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Hygiene, die «Wissenschaft von der Mehrung der Gesundheit», im russischen Imperium nicht nur zu einem dominanten medizinischen Diskurs, sondern für die spätzaristischen Akteure auch zu einer Modernisierungsstrategie. Durch die Linse der Hygienepropaganda will das Forschungsvorhaben sowohl die Bedeutung einer spezifischen staatlichen Organisation und Verwaltung für Gesundheits- und Bevölkerungspolitik als auch die Bedeutung von Gesundheitspolitiken für die Konstituierung politischer und sozialer Interaktionsräume klären.
Nach der Revolution von 1905 nahmen heterogene staatliche, halbstaatliche und private Agenturen die Implementierung einer systematisch organisierten Gesundheitsaufklärung mit neuen Propagandamedien (wie mobile Ausstellungen, Dia- und Filmvorträge) in Angriff. Die Dissertation untersucht, inwiefern eine heterogene zaristische Verwaltungsstruktur und ein zum Teil patrimonial organisiertes Gesundheitswesen nicht nur zu gesundheitspolitischer Paralyse und sozialer Segregation, sondern auch zu erhöhter Dynamik, Flexibilität und Vernetzung führen konnten. Es wird danach gefragt, wie unterschiedliche soziale und politische Parteien versuchten, öffentliche Autorität und Diskurshoheit herzustellen und inwiefern Kontroversen entlang dichotomer sozialer und politischer Konfrontationslinien verliefen. Unternehmungen der Hygienepropaganda werden aber nicht nur als Interaktionsraum der Eliten untersucht. In den Präventionspraktiken lässt sich auch ein Wandel in der Beziehung zwischen Eliten und Unterschichten feststellen. Es wird also danach gefragt, wie Hygienepropaganda das Soziale gestaltete, indem sie neue Rollenzuweisungen, Differenzbildungen und soziale Kategorien hervorbrachte und welche Effekte die Popularisierung und Verbreitung medizinischen Wissens auf Subjektivierungsprozesse erzeugten. Popularisierungsmassnahmen implizieren weder ein lineares Diffusionsmodell medizinischen Wissens noch eine widerspruchsfreie Implementierung universaler Normen. Im Dissertationsvorhaben erscheinen ländliche und städtische Unterschichten nicht nur als objektivierte Masse, sondern als historische Subjekte, welche die Modernisierungsdiskurse, soziale und geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Krankheiten oder Präventionsmassnahmen der Eliten wiederholen, kritisch reflektieren oder aber auch zurückweisen.