Das Archiv für Agrargeschichte (AfA) nahm sein zwanzigjähriges Bestehen zum Anlass, nicht nur zu feiern, sondern auch über Inhalte zu diskutieren. Den Abschluss der Jubiläumsveranstaltungen bildete der Workshop «Die Agrarfrage in der Globalisierung», der ein Thema aufnahm, das bislang nicht in der gewünschten Systematik untersucht wurde, jedoch von zunehmender Relevanz ist. Die neu eröffneten Perspektiven aus Agrar- und Kolonialgeschichte spannten einen Bogen vom ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei verband die Beiträge ein Interesse an der Globalisierung von Waren und Wissen sowie die Auseinandersetzung mit agrarhistorischen Methoden und Zugängen.
JURI AUDERSET (Bern) und PETER MOSER (Bern) erweiterten im Eröffnungsvortrag gewinnbringend ihr Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft1 um dasjenige der commodity frontiers2, wobei hier mit diesem Begriff die Prozesse und Orte der Einbindung von Ressourcen in eine expandierende kapitalistische Weltwirtschaft gemeint sind. Das von den beiden Referenten in langjähriger produktiver Zusammenarbeit entwickelte Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft fokussiert die unterschiedliche Ressourcengrundlage der industriellen Produktion (mineralische Ressourcen aus der Lithosphäre) und der landwirtschaftlichen Produktion (biotische Ressourcen, die reproduziert werden müssen). Charakteristisch für die transnational verflochtene agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft war gemäss Peter Moser die Bereitschaft, aus dem Scheitern der im 19. Jahrhundert populären umfassenden Modellierungen der Landwirtschaft nach industrieller Logik zu lernen und Modernisierungsversuche vorzunehmen, die Rücksicht auf die Eigenheiten einer Produktion auf Basis biotischer Ressourcen nahmen. So seien arbeitende Tiere, bäuerliche Winterschulen und mitarbeitende Familienmitglieder nicht etwa als Relikte, sondern vielmehr als Akteure der Modernisierung der Agrargesellschaft in der Industrialisierung und Globalisierung zu sehen. Als Ausblick skizzierte Juri Auderset die Konturen eines Konzepts der frontiers agrarisch-industriellen Wissens. Durch die Beachtung der raum-zeitlichen Dynamik frage das Konzept danach, wie sich Globalisierungsprozesse durch die Gebundenheit der Landwirtschaft an den Boden in lokalen Lebens- und Arbeitswelten materialisierten. Es eigne sich zur Thematisierung von Prozessen konfliktreicher Ressourcenerschliessung und von asymmetrischen Machtverhältnissen. Und nicht zuletzt gehe es darum, wissenshistorische Prozesse in globalhistorischer Erweiterung zu denken und «Kontaktzonen» agrarisch-industriellen Wissens in den Blick zu nehmen.
JUSTUS HILLEBRAND (Maine) lotete am Beispiel der Viehfütterung im Deutschen Reich und in dessen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent aus, wie sich die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft global ausbreiten konnte. Der Funktionsweise dieses Prozesses spürte Hillebrand in drei Schritten nach. Zunächst umriss er die Bewegung von agrarischem Wissen durch vier zentrale Akteursgruppen: Agrarwissenschaftler, innovationsnahe Landwirte, Akteure des Agrarmarktes und innovationsferne Landwirte. Ein zweiter relevanter Faktor war gemäss Hillebrand die Überschreitung der energetischen und lithosphärischen Grenzen der eigenen Landwirtschaft, die nach der Extraktion von Energie aus (kolonialen) frontiers verlangte. Diese Energie aus den frontiers benötige drittens wiederum Wissen. So sei der erprobte Prozess der Wissensbewegung auf den kolonialen Kontext erweitert, jedoch nicht reflektiert worden. Die fehlende Anerkennung lokaler, indigener Wissenspraktiken habe zu einer Aneinanderreihung von zum Scheitern verurteilten techno-fixes geführt. Zum Abschluss stellte Hillebrand die These zur Diskussion, dass aufgrund der Konkurrenzsituation keine der Akteursgruppen ihre reaktionäre Wissensglobalisierung infrage zu stellen vermochte.
Der Dialog zwischen den beiden Forschungsbereichen enthalte das Potenzial zu einer «Entexotisierung» der Kolonialgeschichte und einer Globalisierung der europäischen Agrargeschichte, so CHRISTOF DEJUNG (Bern), der gleich auch einige Denkanstösse für dieses verheissungsvolle Projekt lieferte. Ausgehend von der Plantagenwirtschaft fragte er unter anderem danach, ob sich bei der Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft und der Herausbildung von Monokulturen in Europa und in den Kolonien ähnliche Entwicklungen und personelle Überschneidungen beobachten lassen.3 Ebenso sei eine Untersuchung von Standardisierungsprozessen als Resultat der Integration landwirtschaftlicher Produktionsverhältnisse in globale Märkte vielversprechend.
DAVID RENTSCH (Bern) zeichnete im Anschluss in seiner empirisch reichhaltigen Studie der rubber frontier in Belgisch-Kongo eine Geschichte von grossen Erwartungen, Krisen und kurzfristigen Enttäuschungen nach. Ausgangspunkt der Untersuchung bildete der Plan der staatlichen Kautschuk-Plantage in Yangambi. Die Plantage spielte gemäss Rentsch eine zentrale Rolle in der Transformation der kongolesischen Kautschukfrontier, war Laboratorium und Knotenpunkt zugleich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die natürlichen Kautschukvorkommen im Kongobecken bis zur Erschöpfung ausgebeutet und die Zwangsarbeit, auf der die Gewinnung bis anhin basierte, wurde infolge der erzwungenen Übergabe von König Léopolds II. Freistaat an die belgische Regierung 1908 eingedämmt. Gleichzeitig erfolgten in Südostasien Investitionen in Plantagenmodelle mit Hevea-Bäumen, die den Weltmarkt in Kürze dominieren sollten. Im Kontext dieser Neuausrichtung erfolgte der Aufbau der Plantage von Yangambi in Belgisch-Kongo 1908 als Versuchsstation auf der Basis von landwirtschaftlichen Grundlagen nach südostasiatischem Modell. Überzeugend zeigte Rentsch auf, wie die Transformation des ländlichen Raumes imaginiert wurde und zugleich die von der Kolonialverwaltung angestrebte Dichotomie zwischen agriculture europénne und agriculture indigène in der Praxis verwischte. Im Zuge einer erneuten Neuausrichtung wurde Yangambi schliesslich Sitz der kolonialen Agrarforschung mit Fokus auf die agriculture indigène, die zum Ziel hatte, die kongolesischen Bäuerinnen und Bauern in die cash crop economy zu integrieren. Was blieb, war die zentrale Bedeutung der Plantage von Yangambi in der Transformation der kongolesischen Kautschukfrontier.
Mit dem Beitrag von INES PRODÖHL (Bergen) verschob sich der Fokus von Kautschuk zu Soja. Ihr Augenmerk richtete Prodöhl auf eine spezifische Quellengattung: die Statistiken des International Institut for Agriculture (IIA) in Rom, die sie für ihr 2023 erscheinendes Buch4 genutzt hatte. Das Institut war 1904 aus einer Kooperation zwischen dem italienischen Staat, damals eine parlamentarische Monarchie, und Akteuren aus der Landwirtschaft entstanden. Während sich die Landwirte Schutz vor Kartellen und Ausbeutung erhofften, lässt sich das Engagement des Monarchen laut Prodöhl mit dem Prestige internationaler Organisationen und dem Interesse Italiens an territorialer Vergrösserung erklären. Ausgehend von einer Ausgabe der vom IIA herausgegebenen Studies of the Principal Agricultural Products on the World Markets, die erstaunlicherweise den Oliven gewidmet war, stellte Prodöhl die Frage, weshalb in der Zwischenkriegszeit ausgerechnet in Rom derart viel agrarisches Wissen produziert wurde und inwiefern die Studien des IIA den faschistischen Interessens Italien dienten.
Der Kreis der Tagung schloss sich mit dem Vortrag von ERNST LANGTHALER (Linz, St. Pölten). Der Vorstand des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten (IGLR) eröffnete seinen anschaulich illustrierten Vortrag mit einer Theoriegeschichte der drei Leitkonzepte Landwirtschaftsstile5, Nahrungsregime6 und Agrartransitionen7. Während das Konzept der Landwirtschaftsstile den Fokus auf die Mikroebene lege, fokussiere jenes der Nahrungsregime die Makroebene. Langthaler rief zu einer Überwindung dieser Mikro-Makro-Trennung auf und argumentierte, dass ihre Verbindung eine transversale Untersuchung von Agrartransitionen leisten könne, die regionale und transregionale commodity frontiers in den Bereichen Produktion, Distribution und Konsum umfasse.8 Am Beispiel der Sojabohne führte Langthaler exemplarisch aus, wie ein solches Desiderat einzulösen ist. Insgesamt identifiziert er drei globale Warenketten als Leitmodelle im Welthandel mit Soja: 1870–1929 lenkte Grossbritannien die Güterströme von Ostasien nach Westeuropa, zwischen 1947 und 1973 bewegte das Nahrungsregime mit Zentrum USA die Sojabohnen von Nordamerika nach Westeuropa und ab 1995 wurde der globale Handel mit Soja aus Südamerika nach Ostasien durch die Welthandelsorganisation (WTO) bestimmt. Die jeweiligen Nahrungsregime liessen sich, so Langthaler, idealtypisch mit bestimmten regionalen Landwirtschaftsstilen verbinden: das britisch zentrierte Regime mit dem bäuerlichen Stil in Nordostchina, das US-zentrierte Regime mit dem unternehmerischen Stil im Mittleren Westen der USA sowie das WTO-zentrierte Regime mit dem kapitalistischen Stil der brasilianischen Cerrados. Anhand einer Untersuchung von Agrartransitionen im Soja-Prisma während der Periode 1929–1947 zeigte Langthaler, wie Soja als Problemlösung für das staatliche Krisen- und Kriegsmanagement der USA fungierte und durch eine Vergünstigung der Fleischproduktion an der Konsumentenfrontier dazu beitrug, dass sich Familien ihren Sonntagsbraten leisten konnten.
Vier Grundfragen durchzogen diesen Workshop, der Global- und Agrargeschichte in einer ausgewogenen Mischung aus Empirie und Theorie zusammenbrachte. Zentral wurde erstens die Frage der Wissensproduktion diskutiert: Wer produziert Wissen – und wozu? In den einzelnen Beiträgen wurde deutlich, dass Wissen im agrarischen Kontext bei weitem nicht nur von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern produziert wird. Ein intersektionaler Ansatz könne dabei mit Blick auf die asymmetrischen Machtverhältnisse beleuchten, welches Wissen im Dunkeln geblieben, in den Quellen unterdrückt und in einer auf Männer und koloniale Akteure fokussierte Historiografie vernachlässigt worden ist. Eine Schnittstelle für den Dialog zwischen Kolonial- und Agrargeschichte identifizierten die Tagungsteilnehmenden in der Beschäftigung mit Plantagen. So wurde gemeinsam über die Frage nachgedacht, inwiefern ein Vergleich zwischen Plantagenwirtschaft und kleinbäuerlichen Familien fruchtbar sei, wo die Plantage aufhöre und ob etwa ein Schweizer Weinberg auch eine Plantage sei. Drittens wurde die Frage des Raumes aufgeworfen: Kritisch diskutiert wurde, welchen Raum die sogenannte erste Globalisierung 1870–1914 umfasst und wie sich das angloeuropäisch geprägte Konzept der frontier in einen kolonialen Kontext übersetzen lässt. Wie kann eine Verbindung von Mikro- und Makroebene gelingen und die Auswirkungen von globalen Veränderungen auf die jeweilige agrarische Praxis und das Leben vor Ort sichtbar gemacht werden? Viertens kam die Rolle des Nichtmenschlichen zur Sprache: Verschiedene Voten plädierten dafür, die Eigenlogik von Pflanzen und Tieren ernst zu nehmen. Welche Rolle spielen Sojabohnen, Hevea-Bäume, Ölpalmen und arbeitende Tiere für die Agrarfrage in der Globalisierung?
Einige Punkte blieben indes offen, insbesondere bezüglich Eigentums und Besitz. Weiter zu diskutieren wäre etwa die von Christof Dejung aufgeworfene Frage, ob die enclosures im Grossbritannien des 16. Jahrhunderts mit dem Übergang von der Subsistenzwirtschaft zu Cash Crops in den Kolonien des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind. Ebenso dürfte die Gleichzeitigkeit der bäuerlichen Integration im Globalen Norden mit der Entrechtung kolonialer Subjekte im Globalen Süden sowie die Auseinandersetzung mit protektionistischen Massnahmen vielversprechende Forschungsfragen generieren. Gesprächsstoff ist, so wurde klar, genügend vorhanden für einen weiterführenden Dialog zwischen Global- und Agrargeschichte. An diesem Workshop wurde dafür ein wichtiger Grundstein gelegt, was im Tenor der Abschlussdiskussion voller Danksagungen widerhallte.
Programm
Juri Auderset (Bern), Peter Moser (Bern), Jessica Richter (St. Pölten): Begrüssung und Einführung
Juri Auderset (Bern), Peter Moser (Bern): Frontiers agrarisch-industriellen Wissens. Überlegungen zu einer Wissens- und Ressourcengeschichte der Landwirtschaft im Zeitalter der ersten Globalisierung, 1870er–1950er Jahre
Justus Hillebrand (Maine): Bewegung von Wissen, Bewegung von Energie: Die Globalisierung der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft im späten neunzehnten Jahrhundert in Deutschland und den Vereinigten Staaten
Christof Dejung (Bern), David Rentsch (Bern): Yangambi und die globale Kautschukfrontier. Cash Crops, Ernährung und sozialer Wandel in Belgisch-Kongo
Ines Prodöhl (Bergen): Das Erfassen der Globalisierung in Daten: «Wesentliche landwirtschaftliche Produkte» in der Zwischenkriegszeit
Ernst Langthaler (Linz, St. Pölten): Landwirtschaftsstile, Nahrungsregime, Agrartransitionen: Perspektiven einer relationalen Agrargeschichte
Schlussdiskussion