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Gosteli-Gespräche 2022 – Staying with the Trouble: Frauengeschichte heute

Autor / Autorin des Berichts: 
Ruth Ammann

Historisches Lexikon der Schweiz (HLS)

Zitierweise: Ammann, Ruth: Gosteli-Gespräche 2022 – Staying with the Trouble: Frauengeschichte heute, infoclio.ch-Tagungsberichte, 29.09.2022. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0290>, Stand: 07.11.2024.

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Selten beginnen die Eröffnungsreden einer Tagung mit so viel Zufriedenheit, ja Glücksgefühlen. Dafür gab es an den «Gosteli-Gesprächen» vom 19. August 2022 mehrere Gründe: Die Gosteli-Stiftung, die das Archiv der schweizerischen Frauenbewegung beherbergt, feierte fast auf den Tag genau ihr 40-jähriges Bestehen. Seit Ende 2021 ist ihre finanzielle Situation bis 2024 gesichert. Damit geht ein erweiterter Auftrag an Stiftung und Archiv einher, den ein neues Leitungsteam bestehend aus Lina Gafner und Simona Isler in den nächsten Jahren realisieren soll. Sie haben ihre Arbeit Anfang August aufgenommen und traten mit der Konferenz und dem 40-Jahr-Jubiläum am Folgetag erstmals vor eine breite Öffentlichkeit. Rückblick und Zukunft bündelten sich an diesen ersten «Gosteli-Gesprächen» und verliehen – zusammen mit der Euphorie über ein Zusammentreffen in situ nach dem Ende der Corona-Bestimmungen – dem Tagungsformat eine feierliche Komponente. Dass die offizielle Schweiz das Gosteli Archiv, wie die Institution in Worblaufen bei Nutzerinnen und Bevölkerung genannt wird, finanziell unterstützt, ist keine Selbstverständlichkeit, wie Stiftungsratspräsidentin und Nationalrätin KATHRIN BERTSCHY in ihrer Begrüssung ausführte. Nur dank einer Petition aus wissenschaftlichen Kreisen und der Hartnäckigkeit von Politikerinnen auf kantonaler und eidgenössischer Ebene wurde die Stiftung als Einrichtung von nationaler Bedeutung eingestuft und die subsidiäre Finanzierung von Bund und Kanton vier Jahre nach dem Tod ihrer Stifterin Marthe Gosteli sichergestellt. Die in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern und unter der Leitung von Fabienne Amlinger organisierten «Gosteli-Gespräche» sind der Auftakt zu einer nunmehr jährlichen Veranstaltung, die der schweizerischen Frauengeschichte einen Ort des wissenschaftlichen Austauschs bieten soll. Die Kollaboration zwischen Archiv und Universität, so betonte VIRGINIA RICHTER in ihren Grussworten als Vizerektorin der Universität Bern, ist indes nicht neu: Marthe Gosteli stand in regem Austausch mit Beatrix Mesmer, 1973-1993 Professorin für Schweizer Geschichte in Bern, und erhielt 1995 den Ehrendoktortitel der Universität verliehen.

Warum also, so fragte die Vizepräsidentin des Stiftungsrats und Co-Leiterin des IZFG PATRICIA PURTSCHERT, sollten die ersten «Gosteli-Gespräche» ausgerechnet mit «Troubles» beginnen, jetzt, da so viele Schwierigkeiten und Ärgernisse aus dem Weg geräumt waren? Mit dem Titel der Tagung «Staying with the Trouble: Frauengeschichte heute» spielten die Organisatorinnen einerseits auf das 2016 erschienene gleichnamige Werk von Donna Haraway an, in dem diese dafür plädiert, mit Krisen und Schwierigkeiten zu leben, statt sie aus dem Weg räumen zu wollen. Andererseits erinnert «Trouble» unweigerlich an Judith Butlers ikonisches Werk «Gender Trouble», das mit seiner deutschsprachigen Übersetzung zu Beginn der 1990er Jahre auch in der Schweiz zu heftigen Diskussionen führte. Die Dekonstruktion des Subjekts «Frau» warf unweigerlich, so Purtschert, die Frage auf, ob Frauengeschichte und, «in seinem vitalen Verhältnis» dazu, auch das Archiv der Frauenbewegung überhaupt noch zeitgemäss waren. Demgegenüber erinnerte Virginia Richter daran, angesichts der wiedererstarkenden autoritären Regime in Europa Gemeinsamkeiten und vor allem den gemeinsamen Gegner nicht aus den Augen zu verlieren. Denn die Akten in diesem Archiv zeigten, so Richter, dass Freiheiten und Rechte gegen ständige Widerstände und Rückschläge («staying troubles») immer wieder neu erkämpft werden müssen.

Wenn die Tagung mit den philosophischen Schwergewichten Judith Butler und Donna Haraway kokettierte, so war CAROLINE ARNI (Basel) die richtige Besetzung für die Keynote der Tagung über die Beziehung der Frauengeschichte zu den skizzierten «Troubles». Unter dem Titel «Nie genug. Das Problem mit der Frauengeschichte» näherte sie sich dem Butler’schen «Unbehagen» und der «Krise am Subjekt Frau» zunächst historiografisch an und stellte fest, dass die Fortschrittserzählung, wonach die Frauengeschichte in den 1990er Jahren überholt war und die Geschlechtergeschichte eine breitere, radikalere Analyse erlaube, nicht zutrifft: Der Begriff «Frau» habe schon immer mehr als «Frauen» gemeint und von «Geschlecht» sprach etwa Gerda Lerner bereits 1979, ohne dass die «Frau» deswegen obsolet geworden wäre. Vielmehr bedingten sich die beiden Begriffe, denn die Frage nach der «Frau» mache Geschlecht als Herrschaftskategorie sicht- und benennbar. Mit der Wende von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte geriet gemäss Arni das kritische Potential vielmehr ins Stocken: Der Vorwurf der Gendertheorie, die Frauengeschichte sei nicht allgemein genug, weil zu partikular, wiederhole eigentlich einen alten, androzentrischen Diskurs.

Auf der Suche nach einem alternativen Hebel für eine Geschichtsschreibung, die jene Machtmechanismen aufdeckt, die Ungleichheit als natürlich und überzeitlich erscheinen lassen, schlug Arni stattdessen ausgerechnet eine neue Vorstellung von Natur vor. Lehnten kritisch-feministische Historikerinnen die Natur als Erklärungszusammenhang, wie er im 19. Jahrhundert konstruiert wurde, zu Recht ab, sei die Trennung zwischen Natur (als vom Menschen unabhängiges System) und Geschichte (als vom Menschen gemacht) historisch möglicherweise längst überholt. Anders als Haraway, interessiert sich Arni nicht für eine Verschmelzung oder Transgression dieser Gegensätze, sondern für alternative Naturbezüge und Naturbegriffe in der Geschichte: Vorstellungen der biologischen Mutterschaft etwa oder Hortense Spillers’ Analyse, wonach Frauen, Männern und Kindern durch die Sklaverei ihre biologische Verwandtschaft abgesprochen wurde. In beiden Fällen liegt der Befreiung eine emanzipatorische Naturvorstellung zugrunde, wenn die Mutterschaft als Berechtigung für politisches Sprechen oder die biologische Verwandtschaft als Gegenkonzept zur Versklavung eingefordert wurde.1 Arni plädierte dafür, «Liegengebliebenes» der Frauengeschichte auf sein kritisches Potential hin (neu) zu lesen, statt den Begriff «Frau» historisch verabschieden zu wollen. Denn dieser könne ohnehin nur ex negativo definiert werden: Er gehe nie in seiner Beschreibung auf, müsse gleichwohl auf einen Nenner gebracht werden und schöpfe seine Bedeutung aus der Dialektik zwischen beidem. Diese Dialektik nicht zugunsten einer Vereindeutigung auszusetzen, konnte als Plädoyer dieser Keynote mitgenommen werden.

Liegengebliebenes thematisierte auch ALIX HEINIGER (Fribourg) im ersten Panel unter dem Titel «Comment l’histoire des femmes?». In einem Streifzug durch die Frauengeschichte der Schweiz zeigte sie auf, dass deutschsprachige Schlüsselwerke der feministischen Theorie sowie der Geschichte der Frauenbewegung spät oder gar nicht auf Französisch übersetzt wurden. Iris von Rotens Klassiker «Frauen im Laufgitter» erschien erst 2021 in einer gekürzten französischen Fassung; der Quellenband «Frauengeschichte(n)» von Elisabeth Joris und Heidi Witzig, der auch französische Quellen enthält und 2021 in der 5. Auflage erschien, harrt bis heute seiner Übersetzung. Ähnlich grundlegende Fragen nach den Bedingungen der Frauengeschichtsschreibung stellte PAMELA OHENE-NYAKO (Genf), die für ihre Dissertation über Schwarze Aktivistinnen in Europa 1970-2001 bei ihrer Archivsuche mit der Schwierigkeit konfrontiert war, wie diese Frauen überhaupt zu finden sind, d.h. welche Selbst- und Fremdbezeichnungen es gab. Dabei stiess sie nicht nur auf eine Vielfalt des Begriffs «Schwarz» oder «Black», der als politischer Kampfbegriff mehr mit Selbstermächtigung als mit Hautfarbe zu tun hatte, sondern auch auf eine Resistenz gegenüber aktivistischen Selbstbezeichnungen etwa in französischen Archiven: Unter «femmes noires» gab es nichts, während sie mit «femmes africaines immigrées» fündig wurde, obwohl viele der Frauen in Frankreich geboren wurden und keineswegs eingewandert waren. Überhaupt hoben sowohl Ohene-Nyako, als auch KRISTINA SCHULZ (Neuenburg), die im zweiten Panel «Archiv-Forschung-Bewegung» referierte, britische Archive bzw. die British Library als vorbildlich hervor, da dort eine grosse Nachfrage nach Quellen zur Frauengeschichte existiere und die Verschlagwortung entsprechend differenziert sei. Die Wichtigkeit der Verschlagwortungen verdeutlichte auch CORINNE RUFLI (Bern) am Beispiel eines Leitfadens für Archive und Bibliotheken zur Geschichte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen, der den Zugang zu Beständen mitunter erst ermöglicht. Umgekehrt bleibe der Umgang mit Stigmatisierung für lesbische Frauen bis heute problematisch: So sehr das Wort «Lesbe» noch immer provoziere, so leicht würden Nachlässe aus Angst vor Zuschreibungen bereinigt oder vernichtet. Auch Vorurteile der Forscherinnen gilt es zu überwinden. So wurde Ohene-Nyako im Archiv des Oekumenischen Rats der Kirchen in Genf fündig, einem Archiv, in dem sie Schwarze aktivistische Frauen nicht vermutet hätte, während Rufli im «Heteroarchiv» Gosteli wenig hoffnungsvoll zu suchen begann – und Glück hatte.

Die Gegenwartsbezogenheit ist aber nicht a priori ein Problem, sondern vielmehr Bedingtheit jeder (Frauen-)Geschichte, wie die neue Co-Leiterin der Gosteli-Stiftung SIMONA ISLER in ihrem Beitrag ausführte: Erst in der Konfrontation könne sich eine heutige Selbstverständlichkeit als Vorurteil, eine Denkweise als erklärungsbedürftig und ein Gegenstand als forschungsrelevant erweisen. Das kritische Potential liegt nach Isler gleichsam in einem politischen Akt im Archiv: darin, die Sicht historischer Frauenfiguren auf die Welt ernst zu nehmen, sie als eine uns zunächst unzugängliche Analyse historischer Realitäten zu akzeptieren. Nur wenn die Forscherin diese Differenz aushalte und sich die Mühe mache, sie zu verstehen, liessen sich vergangene Zeiten erschliessen. In eine ähnliche Richtung argumentierte Islers Partnerin in der Gosteli-Leitung LINA GAFNER in Bezug auf das Archiv als Ort der Wissensdokumentation, wenn sie fragte, wie etwa ihre Mutter als «gewöhnliche» Frau ins Archiv käme: Ohne die «richtigen» Fragen würden die Archivbestände stumm, das Gebäude auf dem Altikofer Hügel abweisend bleiben. Sie plädierte für ein Archiv, das nicht nur dokumentiert und potenzielle Antworten liefert, sondern auch Fragen stellt, die Besucherinnen aktiv einlädt und damit einen der Hauptstiftungszwecke zu erfüllen mithilft: dass jede Schülerin ihre eigene Geschichte und das Archiv in Worblaufen kennt.

Die abschliessende, von Patricia Purtschert moderierte Podiumsdiskussion mit JOVITA DOS SANTOS PINTO (Bern), ELISABETH JORIS (Zürich), REGULA LUDI (Freiburg) und TIM RÜDIGER (St. Gallen) bündelte die in den Panels angesprochenen Grundsatzfragen nach Bedingungen und Möglichkeiten der Frauengeschichte in der Archivarbeit noch einmal neu. So erinnerten Joris und Ludi daran, dass Archive immer Orte des Herrschaftswissens sind, die Vorrechte dokumentieren und legitimieren. Auch Geschichtswürdigkeit ist ein solches Vorrecht, das die Frauengeschichte und, wie dos Santos Pinto aus postkolonialer Perspektive ergänzte, Historiografien der vermeintlichen «Völker ohne Geschichte» herausfordern. Darüber hinaus gelte es, so Joris, eine Lesefähigkeit zu entwickeln, um nicht-herrschaftskonforme Informationen aus Quellen wie Statistiken oder Nachlässen herauszufiltern. Gegenarchive wiederum ergänzten die Darstellung und schärften neue Leserichtungen, wie Rüdiger am Beispiel des «Freunds der Hausfrauen» Gottlieb Duttweiler zeigte, der nur in Quellen kritisch dargestellt wird, die sich heute ausschliesslich im Gosteli Archiv befinden. Bei der Frage, welche Archive wir uns wünschen, reichten die Vorschläge von der bereits mehrfach vorgeschlagenen differenzierteren Verschlagwortung über Oral-History-, Bild-, Ton- und Material-Archive, eine aktive Sammeltätigkeit von Nachlässen und die Forderung nach einem feministischen Archivarinnen- und Archivarenverbund bis hin zu mehr Gegenarchiven, wie sie etwa Flüchtlinge im Livingroom in Bern oder um die Aktivistin Ursula Sampaio (1950-2020) in Zürich aufbauten, um damit der Gewalt in der Geschichte eine temporäre Sprache zu verleihen. Damit fand die Tagung einen Abschluss nicht nur in einem reichhaltigen Ideenkatalog für das Gosteli Archiv und die neuen Stiftungsleiterinnen, sondern bot insgesamt eine theoretische wie methodisch-archivarische Auslegeordnung, die Lust macht, in kommenden «Gosteli-Gesprächen» anhand konkreter Forschungsergebnisse vertieft zu werden.


Anmerkungen

1 Caroline Arni: Pränatale Zeiten. Das Ungeborene und die Humanwissenschaften (1800-1950), Basel 2018; Hortense J. Spillers: «Mama’s Baby, Papa’s maybe. An American Grammar Book», in: Diacritics, 17/2, 1987, S. 64-81.


Tagungsprogramm

Begrüssungsworte: Kathrin Bertschy (Nationalrätin, Präsidentin Stiftungsrat Gosteli-Stiftung), Patricia Purtschert (Co-Leiterin IZFG, Vizepräsidentin Stiftungsrat Gosteli-Stiftung), Virginia Richter (Vizerektorin Universität Bern)
 
Keynote: Caroline Arni (Universität Basel): Nie genug. Das Problem mit der Frauengeschichte
 
Panel I: Comment l’histoire des femmes?
Moderation : Claire Louise Blaser (EPF Zürich)
Alix Heiniger (Université de Fribourg) : En Suisse aussi les femmes ont une histoire
Pamela Ohene-Nyako (Univeristé de Genève) : Femmes noires internationalistes en Europe et leurs archives
Simona Isler (Fondation Gosteli) : Les femmes : la clé vers une histoire critique
 
Panel II: Archiv-Forschung-Bewegung
Moderation: Sonja Matter (Universität Bern)
Lina Gafner (Gosteli-Stiftung): Haut und Papier, Beharrlichkeit und Phantasie. Quellen für den «Austausch zwischen Lebenden»
Kristina Schulz (Universität Neuenburg, Mitglied Stiftungsrat Gosteli-Stiftung): Lässt sich eine soziale Bewegung in Aktendeckel pressen? Feminismus im Archiv
Corinne Rufli (Universität Bern): Lesbengeschichte in Heteroarchiven: Ein Einblick
 
Künstlerischer Input der Spoken-Word-Performerin Sandra Künzi
 
Podium: Frauengeschichte(n) schreiben: Welche Archive brauchen wir?
mit Jovita dos Santos Pinto (Universität Bern), Elisabeth Joris (freischaffende Historikerin), Regula Ludi (Universität Freiburg), Tim Rüdiger (Universität St. Gallen)
Moderation: Patricia Purtschert (Universität Bern)

Veranstaltung: 
Gosteli-Gespräche 2022 - Staying with the Trouble: Frauengeschichte heute
Organisiert von: 
Gosteli-Stiftung Worblaufen und Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern
Veranstaltungsdatum: 
19.08.2022
Ort: 
Bern
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference