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Panelbericht: Umweltwissen – transepochal

Autor / Autorin des Berichts: 
Samira Eckardt
samira.eckardt@stud.unilu.ch
Universität Luzern

Zitierweise: Eckardt, Samira: Panelbericht: Umweltwissen – transepochal, infoclio.ch-Tagungsberichte, 22.07.2022. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0267>, Stand: 07.11.2024.

Verantwortung: Nils Güttler / Tina Asmussen
Referierende: Tina Asmussen/ Mareike Vennen / Christian Reiss

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Die Frage, wie Umweltgeschichte transepochal geschrieben werden kann, stand im Zentrum des wissensgeschichtlich ausgerichteten Panels. Um ihr auf den Grund zu gehen, stellte NILS GÜTTLER zu­nächst ein heute nur noch wenig bekanntes Wissenschaftsforschungsprojekt um den Technikphi­lo­sophen Gernot Böhme und den Biologen Engelbert Schramm vor: Die Projektgruppe «soziale Na­tur­wissenschaft» wurde in den 1980ern an der Technischen Hochschule Darmstadt gegründet und ver­einte Umweltaktivistinnen und -aktivisten mit zahlreichen Forschenden aus natur- und geistes­wissen­schaftlichen Bereichen, die sich Diskussionen an der Schnittstelle von Technik, Natur und Politik annahmen. Im Zentrum ihrer Arbeit standen Orte, an denen sich Konflikte zwischen Umwelt­bewe­gung, Politik und Industrie verdichteten. Um das Zusammenspiel von sozialen Prozessen und menschlichen Eingriffen sowie dessen Wirkung auf die Natur zu untersuchen, habe sich die Projekt­gruppe nicht gescheut, die Orte des Interesses sozusagen als Freiluftlaboratorien zu begehen. Aus solchen «Feldforschungen» gingen Publikationen hervor, so auch aus dem Projektseminar «Wasser in Wissenschaft und Gesellschaft» im Winter 1982/83: Die sogenannte «Wasserzeitung» (1983) bil­dete den Ausgangspunkt für die Panel-Vorträge und war Grundlage für die gemeinsame These, dass das Projekt einer «sozialen Naturwissenschaft» nicht nur von ideen- und methodengeschichtlichem Interesse ist, sondern ein transepochales, transregionales und transdisziplinäres Verständnis der Geschichte von Umwelt ermöglicht.

Im ersten Beitrag leitete TINA ASMUSSEN (Bochum) an der «Wasserzeitung» und an deren didakti­scher, interdisziplinärer Vorgehensweise die These ab, dass die naturwissenschaftliche und kultu­relle Betrachtung des Wassers nicht als zwei verschiedene Bereiche zu untersuchen sind, sondern dass sie viele Berührungspunkte aufweisen und daher besonders in den Geschichtswissenschaften an diesen analysiert werden sollten. Am Beispiel des Erzgebirges in Sachsen und Böhmen und der Beschäftigung mit der dortigen Ökologie des Wassers verdeutlichte sie diese These. Der hoch­mittelalterliche und früh­neuzeitliche Bergbau im Erzgebirge habe bis heute deutliche, tiefe Spuren und Auswirkungen hin­terlassen. Zur Infrastruktur, die den reibungslosen Bergbau und Abbau der wertvollen Bodenressour­cen ermöglichen sollte, gehörte beispielsweise die Umleitung von Flüssen. Damit sei nicht nur auf die Flüsse eingewirkt worden, sondern auch auf die Seen, die Böden und die gesamte Wasserversor­gung vor Ort, was noch heute mit grossen Effekten auf die Umwelt einher­gehe.

Gemäss den Ansätzen der «sozialen Naturwissenschaft» müsse aber nicht nur die naturwis­senschaftliche, biologische und geologische Komponente betrachtet werden, sondern auch die so­ziokulturellen Prozesse, die mit dieser Veränderung der Wasserwege und dem damit ermöglichten Bergbau ausgelöst wurden. Asmussen argumentierte, dass der Bergbau die Wahrnehmung der Natur geprägt und in ein ökono­misch-technisches sowie prokapitalistisches Bild verwandelte habe. Mit dem erfolgreichen Bergbau sei der Blick auf die Natur als Ressourcencontainer für den modernen Kapitalismus entstanden. Da­bei darf jedoch laut Asmussen nicht ausser Acht gelassen werden, dass dieses Bild zuvor vom ausgehen­den Mittelalter geprägt worden war, als das Denken und Handeln noch stärker im Zeichen religiöser und mythischer Vorstellungen standen. Die heute hauptsächlich säkulare und westlich geprägte Be­trachtungsweise könne nicht einfach auf die sozialen Prozesse und Zusam­menhänge der Vergan­genheit angewendet werden, denn gerade auch die Konzeptionen von Natur und natürlichen Res­sourcen seien von den vorherrschenden Vorstellungen des Körpers geprägt ge­wesen. Man sei davon ausgegangen, dass Planetenkonstellationen oder auch die Umleitung von Flüs­sen nicht nur Auswir­kungen auf die Körpersäfte hätten, sondern auch auf die Metalle im Bergwerk. Asmussen sieht das Nachdenken über all diese Einwirkungen der menschlichen Hand auf die Natur, aber auch die Ar­beitsbedingungen vor Ort und die Glaubensvorstellungen als Zugang, um Zusam­menhänge erkennen zu können. Das menschliche Handeln sei daher nicht als Effekt, sondern einge­bettet in eine Vielzahl dynamischer Prozesse zu betrachten.
 
MAREIKE VENNEN (Berlin) begann den zweiten Vortrag mit der Betonung der Wichtigkeit des Frei­luft­laboratoriums, wie es schon die Projektgruppe der «Wasserzeitung» handhabte. Dass die Gruppe den ganzen Darmbach, der Forschungsgegenstand des Projektes war, entlangging, sei zentral ge­wesen für viele der gewonnen Erkenntnisse. Dies vertiefte sie anhand der 110-jährigen Geschichte eines kleinen, vermeintlich unscheinbaren Tieres: der chinesischen Wollhandkrabbe. Das Tier wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Europa eingeschleppt, wahrscheinlich mit dem Ballastwasser von Schiffen, und hat sich seitdem als invasive Art rasant in europäischen Gewässern verbreitet. Die erste Sichtung der Krabbe erfolgte 1912 in der Weser. Von da an wurde ihre Verbreitung und Einwir­kung auf das Ökosystem intensiv beobachtet und untersucht, was jedoch eine ganzheitliche Be­trachtung der betroffenen Flüsse erforderte, da die chinesische Wollhandkrabbe eine wanderaktive Art ist, sich also zur Fortpflanzung zurück ans Meer bewegt. Die grosse Einwirkung der invasiven Krabbenart wurde schnell erkannt: Sie ist nicht nur Konkurrenz für heimische Arten, sondern sorgt durch das Durschneiden von Fischfangnetzen und das Graben von Wohnhöhlen an Ufern auch für ökonomische und ökologische Schäden. Die Verbreitungsgebiete seien damit zum Schauplatz öko­logischer und ökonomischer Probleme geworden. Mit dem Wissen über die Verbreitungs- und Wan­derungsaktivitäten der Tiere, so Vennen weiter, wurden Bekämpfungsstrategien durch ver­schiedene Institutionen wie Fischereiunternehmen oder zoologische Gärten entwickelt, was weitere Eingriffe in die Flüsse nach sich zog. Aus dem mühseligen Fangen und Bekämpfen der Krabben sollte aber auch wirtschaftlicher Profit geschlagen werden, d.h. verschiedene Verwertungsweisen, etwa als Futtermehl für Schweine oder Lebertran, wurden ausprobiert. Heute werden gefangene Krabben zu­rück in ihre ehemalige Heimat China exportiert, wo sie als Delikatesse auf dem Speiseplan stehen, oder sie landen in der Biogasproduktion.

Was hat die Geschichte der chinesischen Wollhandkrabbe jedoch mit einer transepochalen Umwelt­geschichte zu tun? Vennen argumentierte, dass die Geschichte der Krabbe auch diejenige der Flüsse sei. Die Erkenntnisse über ihre Verbreitung und ihre Einwirkung auf das Ökosystem seien auch Er­kenntnisse über das Zusammenspiel von Ökologie, Verschmutzung und Wirkungen des Menschen auf die Natur. So könnten die Krabben als Indikator für die Wasserqualität und für den Zustand der Ökosysteme dienen, da ihre Population, wie bald erkannt wurde, stark zurückgeht, wenn die Gewäs­serqua­lität schlechter wird. Vennens Ausführungen verdeutlichten, dass Tiere zum Archiv mensch­licher Eingriffe etwa für kapitalistische Verwertungs- oder Abwehrmassnahmen werden und damit nicht nur ihre Geschichte, sondern auch die ihrer Lebensräume erzählen können.
 
CHRISTIAN REISS (Regensburg) nahm in seinem Vortrag drei Kapitel der «Wasserzeitung» in den Blick, die ihm zufolge die fächerübergreifende und umfassende Betrachtungsweise der Projekt­gruppe besonders deutlich zeigen. Diese Interdisziplinarität sei den «sozialen Naturwissenschaf­ten», die den institutionellen Kontext der «Wasserzeitung» bildeten, und der Gewässerwissenschaft Limnologie gemeinsam. In seinem Beitrag stellte Reiss die wissenschaftsreflexive Geschichte der beiden Forschungsfelder vor, wobei ihm die historisch und ökologisch informierte Wissenschafts­forschung Gernot Böhmes am Starnberger See sowie die gesellschaftlich und historisch gedachte Limnologie August Thienemanns am Plöner See als Beispiele dienten. Damit wollte Reiss unter an­derem zeigen, dass Umweltwissen eine lange Geschichte hat und in unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten produziert und angewendet worden ist. So seien für die Entwicklungen beider Ansätze Vorstellungen aus der alternativen und romantischen Wissensforschung ebenso wichtig gewesen, wie klassische und naturwissenschaftliche Bezüge. Den Philosophen, Biologen und Zoologen August Thienemann interessierten nicht nur die ökologischen Beziehungen in den Binnengewässern, son­dern auch diejenigen der Menschen zu den Gewässern. Ganz im Zeichen der romantischen Wissen­schaft, die sich der Untersuchung des Reichtums der Lebenswelt sowie der Zusammenhänge und Beziehungen des Individuums zu ebendieser verschrieben hat, formulierte Thienemann die These, dass es ohne Wasser keine Kultur gäbe.

Die Annahme, dass jede Kultur naturbedingt sei und Natur und Kultur nicht unabhängig existieren könnten, verweist auf die Gemeinsamkeiten der «sozialen Naturwissenschaften» Gernot Böhmes und der langen Tradition des Reflektierens über Natur und Philosophie. Alternativen Denksystemen wie beispielsweise der Anthroposophie war Böhme in den 1980ern nicht abgeneigt. So gab es auch Untersuchungen zu alternativen Anbauweisen, die mit den Überlegungen seiner «sozialen Naturwissenschaft» kombiniert wurden. Diese romantischen und al­ternativen Vorstellungen der Natur stehen der stark naturwissenschaftlich geprägten Betrachtungs­weise des «Anthropozäns», der Theorie des menschgemachten geologischen Zeitalters, konträr ge­genüber. Dass sich das interdisziplinäre und transepochale Betrachten der Thematik nach dem Vor­bild von Böhme und Thienemann jedoch auszahlt, stellte Reiss in seinem Beitrag umfassend dar.
 
Mit der «Wasserzeitung» als Objektfokus zeigten die Vortragenden am Beispiel von drei gänzlich verschiedenen Forschungssubjekten überzeugend, wie transepochale, transregionale und transdis­ziplinäre Umweltgeschichte erzählt werden kann. Besonders herausgestellt wurden dabei die Um­kehrbarkeit der Blickrichtungen sowie die Chancen und Möglichkeiten, die sich damit für die Ge­schichts­wissenschaften bieten. Gemeinsame Fragestellungen zwischen natur- und geisteswissen­schaftlichen Forschungsfeldern zu finden, bleibt indes eine Herausforderung, die es angesichts des sich ver­ändernden Klimas und damit in Wechselwirkung stehender Einflüsse auf die Umwelt jedoch unbedingt anzunehmen gilt.



Panelübersicht:
 
Tina Asmussen: Wasserlandschaften: Interdisziplinäre Erkundungen in der «longue durée»
 
Mareike Vennen: Wasserwege: Tiere und Wissen im Fluss
 
Christian Reiss: Wasserforschung: Das Wasser zwischen Limnologie und sozialer Naturwissenschaft


Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.
 

 

Veranstaltung: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Veranstaltungsdatum: 
30.06.2022
Ort: 
Genf
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference