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Panelbericht: Naturkunstprodukte: Zur Geschichte der Nutzung und des Verbrauchs natürlicher Ressourcen in der Industriemoderne

Autor / Autorin des Berichts: 
Sara Müller
sara.mueller@uzh.ch
Universität Zürich

Zitierweise: Müller, Sara: Panelbericht: Naturkunstprodukte: Zur Geschichte der Nutzung und des Verbrauchs natürlicher Ressourcen in der Industriemoderne, infoclio.ch-Tagungsberichte, 15.07.2022. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0256>, Stand: 07.11.2024.

Verantwortung: Juri Auderset / Peter Moser
Referierende: Mounir Badran / Veronika Settele / Moritz von Brescius
Kommentar: Ernst Langthaler

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Trotz der unterschiedlichen Perspektiven gebe es substanzielle Überschneidungsflächen zwischen den drei Referaten des Panels über «Naturkunstprodukte», hielt JURI AUDERSET (Bern) zu Beginn fest. In dem gemeinsam mit PETER MOSER (Bern) organisierten Panel ging es um ebensolche Er­zeugnisse, die aus der Tätigkeit des Menschen mit und zuweilen auch gegen die Natur geschaffen werden. Während die thermoindustrielle Revolution diesen Prozess grundlegend veränderte, blieb die landwirtschaftliche Produktion mit ihrer Bindung an biotische Ressourcen zirkulären Reproduk­tionslogiken verpflichtet. Dieses Spannungsfeld unterschiedlicher Nutzungslogiken, das sich aus den Interaktionen und Interdependenzen zwischen Natur und Kultur eröffne, gelte es zu befragen. 
 
VERONIKA SETTELE (Bremen) zeigte in ihrem Referat anhand von Beispielen aus der Rinder- und Schweinehaltung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zwischen 1950 und 1990 auf, wie die Eigenlogik der Körper der Tiere für Irritatio­nen im industriellen Produktionsprozess sorgte, und dass dies den Pfad der Industrialisierung der Fleischproduktion dennoch nicht grundsätzlich zu ändern vermochte. Zu stark waren die Kräfte, die etwa auf die Einsparung von Arbeitskraft und -zeit durch die Melkmaschine hinwirkten. Als wich­tigste Lösung für sogenannte «Problemkühe» traten dabei gemäss Settele Antibiotika in Erschei­nung. Der im Kommentar aufgeworfenen Frage, ob die daraus entstehenden Resistenzen als Zeichen der resilienten Eigenlogik der Tiere gewertet werden könne, die in einer Art «Risikospirale» zu immer drastischeren agroindustriellen Eingriffen führe, stimmte die Referentin teilweise zu. Durchaus könne man Antibiotikaresistenzen, Zoonosen und die Auswirkungen des Klimawandels als eine Art «nature strikes back» verstehen. Zugleich warnte Settele jedoch davor, den ökologischen Wandel im Globalen Norden zu überschätzen und unterstrich, dass die Organisation des ökonomischen An­reizsystems auf Kurzfristigkeit ausgelegt sei. In der DDR vermochten vor Stress kollabierende Schweine den Industrialisierungsprozess beinahe aufzuhalten. Die Episode blieb jedoch eine Aus­nahme: In der finanzkräftigeren BRD reagierte man mit einer züchterischen Umgestaltung, die stressanfällige Schweine kurzerhand von der Reproduktion ausschloss.

In ihrem Fazit griff Veronika Settele die Frage auf, warum die Trial-and-Error-Praxis der Massentier­haltung den industriellen Ent­wicklungspfad nicht zu Fall brachte. Die kurze Antwort laute: Weil der eingeschlagene agrarpoliti­sche Weg und das darin ausgearbeitete ökonomische Anreizsystem be­reits zu stark verankert wa­ren. Die Industrialisierung der Tierhaltung müsse aber in der allgemeinen Wohstandsentwicklung verortet und weiter vertieft werden, wie staatliche Forschungsanstalten als Bindeglied zwischen Staat und Stall fungierten. Zwischen 1950 und 1990 sei der einzige Fluchtpunkt der Agrarpolitik die Effizienzsteigerung gewesen und die Politik habe dafür gesorgt, dass die Ratio­nalisierung trotz wi­derspenstiger Kühe und entzündeter Euter lohnend blieb.
 
MOUNIR BADRAN (Luzern) präsentierte anschliessend sein Dissertationsprojekt, das Werbebilder für Schweizer Industriemilch seit 1866 untersucht. Die Schweiz war Ende des 19. Jahrhunderts massge­blich daran beteiligt, den «tierischen Körpersaft» Milch in Form neuer Milchprodukte wie Kondens­milch, sogenanntes Kindermehl oder Milchpulver zum haltbaren Konsumgut zu machen und in alle Welt zu exportieren. Die zeitgleich entstandene und in der Werbung oft genutzte Drucktechnik der Chromolithographie habe die in­dustrialisierten Milchprodukte magisch aufgeladen, wie Badran in Anlehnung an Roland Barthes ar­gumentierte. Die Werbespezialisten brachten die Hightech-Anlagen zum Verschwinden und rückten stattdessen eine ländliche Idylle ins Bild, nicht selten auch mit nationalistischen oder rassistischen Stereotypen assoziiert, wie Badran in der Diskussion ergänzte. Die reine, natürliche Milch sei zum magischen Lebensmittel und Symbol gegen die Auswüchse und Gefahren des modernen Stadtlebens hochstilisiert worden. Badran machte dies an einer Werbung deutlich, die Nestlé-Milch als Heilmittel gegen Neurasthenie – heute würden wir wohl Burn-out dazu sagen – propagierte. Bis heute seien derartige Werbebilder einer naturnahen, ländlichen und freien Schweiz in Tourismus und Milchin­dustrie stark präsent. Badran schloss denn auch mit der Frage, ob wir uns unser eigenes Verhältnis zur Natur und Ernährung ohne solch verführerischen Embleme überhaupt vorstellen können.
 
MORITZ VON BRESCIUS (Bern) stellte in seinem Referat über Gummi als Stoff der Moderne die These vor, dass Naturkautschuk als Wegbereiter für das synthetische Zeitalter figurierte, da das Material die Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen verwischt. Erstmalig in den 1850er Jah­ren einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert, lösten die Eigenschaften von Naturgummi gleicher­massen Faszination wie Unbehagen beim zeitgenössischen Publikum aus. Wie von Brescius in der Diskussion ausführte, beruhte der Hype um den Naturkautschuk sowohl auf der Wirkmächtigkeit kultureller Diskurse als auch auf den materiellen Eigenschaften der Ressource selbst. Das Material bestach durch seine Anpassungsfähigkeit und bot entsprechend vielfältige Anwendungsmöglichkei­ten: vom Gummianzug für Priester bei der Ganzkörpertaufe, als Ersatz für Elfenbein bis hin zum Ein­satz in der zahnärztlichen Praxis. Diese breite Verwendung, wie sie etwa Charles Goodyear befür­wortete, stiess jedoch nicht nur auf Gegenliebe. So war Thomas Hancock strikt gegen den Gebrauch von Gummi als universelles Substitut beliebiger Materialien und plädierte für einen gezielten Einsatz als Nischenprodukt. Diese Haltung vermochte sich ab den 1870er Jahren durchzusetzen. Der wan­delbare Naturkautschuk habe sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn auch nicht un­angefochten, so doch unverrückbar, in die materielle Kultur der Moderne eingeschrieben – und so­mit, wie von Brescius argumentierte, den Weg freigemacht für die synthetischen Materialien, mit deren toxischen Vermächtnissen wir zu leben gelernt haben.
 
In seinem Kommentar lobte ERNST LANGTHALER (St. Pölten) die reichhaltige Empirie der präsen­tierten Beiträge, die theoretische Debatten rund um die Herausforderung des Umgangs mit der Na­tur in den Geschichtswissenschaften erst fruchtbar mache. Langthaler lud alle drei Referierenden zum Nachdenken darüber ein, wie sich die geschilderten Episoden in eine noch zu schreibende um­fassendere Geschichte von Naturressourcen im Industriekapitalismus einordnen lasse. Als Angebot skizzierte er folgende Periodisierung: Klassischer Liberalismus im 19. und beginnenden 20. Jahrhun­dert, Gegenbewegung und New Deal von 1930 bis 1980, neoliberale Phase von 1980 bis 2010 und seit­her das, was Langthaler mit «ökosozial organisiertem Kapitalismus» umschrieb.

Von Brescius und Badran ordneten den Durchbruch der von ihnen untersuchten «Naturkunstpro­dukte» in die Phase der klassischen Marktliberalisierung ein und verwiesen auf die koloniale Dimen­sion. Settele nahm Bezug auf den Fordismus und gab zu bedenken, dass die Lösung der sozialen Frage mit einer Verschärfung der ökologischen Frage einher gegangen sei. In der anschliessenden Diskussion bestätigten zudem alle drei Referierenden, dass der Beginn der Hochmoderne um 1880 eine für ihr Thema relevante Zäsur sei. Noch eingehender zu diskutieren wäre die in der Einleitung aufgeworfenen Frage, was in der Praxis geschieht, wenn im Herstellungsprozess von «Naturkunst­produkten» die linearen, industriegesellschaftlichen Produktionslogiken auf die zirkulären Repro­duktionslogiken der Biologie treffen. Eine Stärke des anregenden Panels lag gerade darin, dass es neue Fragen eröffnete und seinem Publikum als Denkanstösse mit auf den Weg gab.
 


Panelübersicht:
 
Moritz von Brescius: Der Stoff der Moderne. Gummi als «Faktotum» und Beschleuniger des Indust­riezeitalters
 
Veronika Settele: Das paradoxe Dogma des Fortschritts: Industrialisierte Effizienz im Konflikt mit der Eigenlogik der Tiere, 1950-1990
 
Mounir Badran: Natur aus der Dose. Werbung für Schweizer Industriemilch seit 1866
 
 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.

 

Veranstaltung: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Veranstaltungsdatum: 
01.07.2022
Ort: 
Genf
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference