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Kulturvermittlung und Geschichtswissenschaften - Médiation culturelle et sciences historiques

Autor / Autorin des Berichts: 
Merz Franziska
franziska.merz@gmx.ch


Zitierweise: Franziska, Merz: Kulturvermittlung und Geschichtswissenschaften - Médiation culturelle et sciences historiques, infoclio.ch-Tagungsberichte, 11.12.2020. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0227>, Stand: 08.11.2024.

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Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung erhielten die Debatten über das koloniale Erbe der Schweiz im Frühjahr 2020 neuen Auftrieb. In der Diskussion über den Umgang mit umstrittenen Denkmälern und Sammlungsobjekten wurden auch die Fragen aufgeworfen, welche Geschichtsbilder im öffentlichen Raum vermittelt werden sollen und wer darüber entscheiden kann. Dabei wurde nicht zuletzt die Deutungshoheit der Geschichtswissenschaft hinterfragt. Vor diesem Hintergrund fokussierte die infoclio.ch-Tagung 2020 auf jene Ansätze in Forschung und Kulturvermittlung, die auf eine grössere Teilhabe der Zivilgesellschaft an Erinnerungsdiskursen abzielen. Die Online-Tagung bestand aus drei Sessionen, in denen jeweils verschiedene mediale Formate genutzt wurden.1

In der ersten Session berichteten drei Historikerinnen und Historiker in aufgezeichneten Videos aus ihrer Praxis. KATRIN RIEDER (Bern) zeigte auf, wie sich das Potenzial der Geschichtsforschung und insbesondere der Public History aus der Warte der Kulturvermittlung erweitern lässt: Geschichte könne nicht nur zum Lernen anregen, sondern auch zu eigenem Erzählen, Entdecken und Forschen. Rieder hielt ein Plädoyer für Partizipation, das heisst, sie sprach sich dafür aus, Menschen und ihre Lebensgeschichte in die Vermittlung miteinzubeziehen. Am Beispiel einer Wanderausstellung, die die Sinti mit ihrer Unterstützung realisiert hatten, erläuterte sie, wie die Teilhabenden eines solchen Projekts als Subjekte ihrer Geschichte hervorgehen können. Partizipative Geschichtsvermittlungsprojekte respektierten Betroffene als Expertinnen und Experten in eigener Sache. Entsprechend müssten Historikerinnen und Historiker bereit sein, die Deutungshoheit abzugeben. Gleiches gelte für die Forschung. Rieder führte einige Vorteile partizipativer Forschung ins Feld, z.B. könnten blinde Flecken vermieden werden, wenn Betroffene nicht nur als Opfer beforscht würden.

MANUEL MENRATH (Luzern) hat Erfahrung mit partizipativer Forschung. Er beschäftigt sich mit der Geschichte indianischer Nationen in Kanada und insbesondere mit den Cree und Ojibwe im Norden der Provinz Ontario. In enger Zusammenarbeit mit diesen entstand sein Buch Unter dem Nordlicht (Galiani 2020). In seinem Referat reflektierte er diese Forschungsarbeit. Es wurde im Haus zum Dolder in Beromünster aufgezeichnet, wo Zeugnisse der Begegnungen zwischen indigenen Nationen und Schweizer Söldnern, Missionaren und Siedlern noch heute sichtbar sind. Menrath kritisierte, dass in der Globalgeschichte die Ereignisse häufig nur aus einer eurozentrisch verengten Sicht betrachtet würden. Seine Rolle als Historiker sehe er darin, als Multiplikator der Stimme der Indigenen zu fungieren. Um die Leserinnen und Leser abzuholen, spreche er zwar bewusst vom vereinfachten Begriff «Indianer», Ziel seines Buches sei jedoch, ein differenziertes Bild der Kulturen und Nationen in Kanada zu vermitteln.

MATHIEU MENGHINI (Genève) arbeitete als Dramaturg für die Theaterproduktion 1918.CH – Hundert Jahre Landesstreik in Olten. Bezugnehmend auf das griechische Drama erörterte Menghini zunächst die Verschränkung von Theater und demokratischen Idealen. Das Theaterformat erlaube es, zugleich Ursachen und Folgen einer bestimmten Gegenwart aufzuzeigen. Es zeige die Welt als eine veränderbare. Aus diesen Überlegungen leitete Menghini die Vorzüge des Theaters zur Vermittlung einer multiperspektivischen Geschichte ab. Im zweiten Teil des Referats beleuchtete er die wichtigsten Prämissen des Projekts 1918.CH. So habe man die Idee einer Autorschaft – sprich einer inhaltlichen Autorität – aufgegeben und Theatergruppen aus zwanzig Kantonen eingeladen, ein eigenes Verständnis der Ereignisse von 1918 zu entwickeln. Den Amateur-Schauspielenden habe das Theater einen empathischen Zugang zu Figuren eröffnet, die in anderen Zeiten und sozialen Verhältnissen lebten. Als Medium der Vermittlung könne es gleichzeitig auf den Ebenen der Repräsentation (Dialog) und der Affekte (Tanz, Gesang) wirken.

In der zweiten Session standen digitale Vermittlungsprojekte im Zentrum. Eine Auswahl von 36 Projekten wurde in einer Internetgalerie präsentiert und im Rahmen einer per Live-Streaming übertragenen Videokonferenz diskutiert. ENRICO NATALE (Bern), Leiter von infoclio.ch, unterhielt sich mit vier Expertinnen und Experten über Trends, Chancen und Schwierigkeiten der Vermittlung im digitalen Raum. Die Kulturvermittlerin LINA GAFNER (Basel) wies zunächst darauf hin, dass es hinsichtlich der Ansprüche und Ziele von digitalen Vermittlungsprojekten grosse Unterschiede gebe. Ein forschungszentriertes Projekt wie Stadt.Geschichte.Basel sei mit einem teilhabeorientierten Projekt nicht vergleichbar. An wen man sich richte, sei stets die zentrale Frage, meinte Museumsleiter MARC GRIESSHAMMER (Aarau). Anschliessend müsse man sich überlegen, ob es für das Vermittlungsprojekt von Vorteil sei, mit Fachleuten beispielsweise aus den Bereichen Dramaturgie oder Marketing zusammenzuarbeiten. In grösseren Institutionen könnte die digitale Kommunikation den zuständigen Fachstellen übergeben werden.

Mit Blick auf die Projektgalerie stellte der Hochschuldozent und Lehrer DOMINIQUE DIRLEWANGER (Lausanne) fest, dass das Internet eine innovative Erzählung begünstige. Es erlaube, mehrere Erzählungen im selben Raum zu eröffnen. Bei einem Projekt wie Wir, die PTT stünde beispielsweise der Aspekt des Kulturerbes im Vordergrund, bei 100Elles* jener des Aktivismus. Der Journalist URS HAFNER (Bern) zeigte sich weniger optimistisch. Das Multimediale scheine das Erzählen von Geschichten, das grundlegende journalistische Ansprüche erfülle, zu erschweren. In einem Grundsatz waren sich die Diskussionsteilnehmenden einig: weniger ist mehr. Eine simple Navigation sowie einfache, lineare Texte funktionierten gut, meinte Gafner und führte als Beispiele die Projekte Bern kolonial und Geschichte im Puls an. Zugleich betonten Hafner und Dirlewanger, dass stets mehrere Deutungsmöglichkeiten und Standpunkte vorliegen sollten.

Immer wieder wurde das Verhältnis von digitaler und analoger Welt thematisiert. Im Internet könne, beispielsweise mittels virtueller Karten (Storymaps), der öffentliche Raum mit alternativen Deutungen bespielt werden. Wichtig sei, das digitale Produkt als solches zu konzipieren: Auch wenn es auf einer analogen Vorlage – wie z.B. einem Buch – beruhe, müssten die spezifischen Möglichkeiten des digitalen Mediums berücksichtigt werden. Auch gelte es, die entsprechende Lang- bzw. Kurzlebigkeit zu beachten: Ein Buch, so Gafner, sei zeitlos, während eine Webseite technisch und grafisch nach fünf Jahren überholt sei.

Im zweiten Teil der Diskussion wurden die rund 150 Teilnehmenden eingeladen, ihre Fragen und Einwände zu formulieren. Sie interessierten sich etwa dafür, welche neuen Formen der Vermittlung das Digitale erlaube und was von der Gamification zu halten sei. Die neuen Medien würden es vereinfachen, in weiter Vernetzung kooperativ Inhalte zu generieren, hob Gafner hervor. Ihr sei allerdings kein digitales Projekt bekannt, das diese partizipativen Instrumente bereits in der Konzeptphase eingesetzt habe. Dirlewanger und Griesshammer äusserten sich positiv zur Gamification. Richtig angewandt könne sie dem Publikum Türen öffnen, es an ein Thema heranführen. Zur Vermittlung von Inhalten seien Games dagegen eher nicht geeignet.

In der dritten Session der Tagung wurden fünf Geschichtsmagazine und ihr jeweiliger Zugang zur Geschichtsvermittlung vorgestellt. Dazu interviewte infoclio.ch die Herausgebenden. Es zeigten sich unterschiedliche Zielsetzungen, die sich auch in der jeweiligen Autor- und Leserschaft sowie der Erscheinungsform spiegeln. Worin sich die Interviewten einig waren: Einfach und verständlich müssen die Texte sein. Diesen journalistischen Anspruch stellt die NZZ Geschichte ins Zentrum, die nicht einfach «Sprachrohr für die Forschung» sein will. Die Avenue und die Geschichte der Gegenwart lassen hingegen bewusst die Forscherinnen und Forscher zu Wort kommen. Die beiden Hefte wollen Brücken bauen zwischen Historikerinnen bzw. Historikern und dem ausserakademischen Publikum. Die Avenue lädt die Leserinnen und Leser jeweils ein, die Artikel vor dem Druck online zu kommentieren. Anschliessend wird die Diskussion ins gedruckte Heft aufgenommen. Auch das Open-Peer-Review-Journal Public History Weekly ist auf Interaktivität ausgelegt. Es will die transdisziplinäre und internationale Vielfalt «differenter Sprachpraxen über Vergangenheit» aufzeigen und diese zur Diskussion stellen. Wie auch bei Geschichte der Gegenwart erscheinen die Artikel nur digital und finden ihr Publikum, indem sie über Soziale Medien geteilt werden. Einen Kontrast dazu bietet das Heft Passé simple, das nur analog angeboten wird. Als einzige der fünf Publikationen finanziert es sich hauptsächlich über Abogebühren. Dies scheint durch die lokalgeschichtliche Schwerpunktsetzung zu gelingen, die eine eher ältere Leserschaft anspricht.

Wie auch bei den anderen gedruckten Heften Avenue und NZZ Geschichte, wird bei Passé simple viel Zeit in Gestaltung und Bebilderung investiert. Die Herausgebenden zeigten sich überzeugt, dass Bildebene und Layout die Leserinnen und Leser wesentlich dabei unterstützen, sich historische Inhalte anzueignen. Die im Rahmen der dritten Session bereitgestellten Beispielartikel verdeutlichten, dass in der gestalterischen «Choreographie» von Text und Bild ein grosser Vorteil der Printmagazine liegt.

Aufgrund der Corona-Krise schöpfte die infoclio.ch-Tagung 2020 selbst aus dem breiten Spektrum an digitalen Möglichkeiten zur Wissensvermittlung. Den Teilnehmenden wurden eine leicht verständliche Navigation und ein guter Medienmix geboten. Was fehlte, waren Gefässe des persönlichen und informellen Austauschs. Hier liegen die Vorzüge der analogen Welt auf der Hand. Diese traten auch in den Online-Referaten und aufgezeichneten Gesprächen immer wieder hervor, etwa wenn die Mitherausgeberin von Geschichte der Gegenwart erwähnte, die monatlichen Redaktionssitzungen seien «immer sehr intensiv, wir diskutieren, es ist lustig und es wird spät». Deutlich zeichneten sich aber auch die Chancen der digitalen Kommunikation ab, die es ermöglicht, sich über Mobilitätsgrenzen hinweg zu vernetzen. Der gegenwärtige Trend hin zu mehr Partizipation in Vermittlungs- und Forschungsprojekten dürfte dazu führen, dass über digitale Medien vermehrt Nicht-Wissenschaftlerinnen und Nicht-Wissenschaftler einbezogen werden.2 Die Tagung machte deutlich, dass sich die Frage «analog oder digital» im ausschliesslichen Sinn meist gar nicht stellt. Die Herausforderung besteht darin, ausgehend von den Zielsetzungen eines Projekts den richtigen Mix von digitalen und analogen Angeboten zu finden und diese sinnvoll miteinander zu verknüpfen.




Anmerkungen

1 Der Tagungsbericht entstand im Auftrag von infoclio.ch.
2 Zum aktuellen Stand vgl. den Blogbeitrag von Franziska Merz: Digitale Geschichtsvermittlung und kulturelle Teilhabe in der Schweiz – Versuch eines Überblicks, 28.10.2020, in: infoclio.ch – Blog, <https://www.infoclio.ch/de/digitale-geschichtsvermittlung-und-kulturelle-teilhabe-der-schweiz-%E2%80%93-versuch-eines-%C3%BCberblicks>.


Tagungsprogramm

Session 1: Theorien und Praktiken der Geschichtsvermittlung
Manuel Menrath (Universität Luzern) – Indianische Stimmen. Wie Kanadas verdrängte Geschichte sichtbar wird
Katrin Rieder (kultur-projekte.ch) – Partizipative Vermittlungsprojekte. Chancen und Herausforderungen
Mathieu Menghini (Haute école de travail social Genève) – Éprouver l’histoire. Médiation, théâtre et démocratie

Session 2: Galerie digitaler Projekte zur Geschichtsvermittlung
Diskussionsrunde
Moderation: Enrico Natale (infoclio.ch)
Dominique Dirlewanger (Université de Lausanne und Geschichtslehrer)
Lina Gafner (Universität Basel und Leiterin Stadtgeschichte Basel)
Marc Griesshammer (Leiter Stadtmuseum Aarau und Vorstand Kulturvermittlung Schweiz)
Urs Hafner (Historiker und Journalist)

Session 3: Geschichtshefte und Magazine
Interviews: Eliane Kurmann und Enrico Natale (infoclio.ch)
Corinna Virchow (Mitherausgeberin von Avenue)
Brigitta Bernet (Mitherausgeberin von Geschichte der Gegenwart)
Lea Haller (Chefredakteurin von NZZ Geschichte)
Christine Mercier und Justin Favrod (Herausgebende von Passé Simple)
Marko Demantowsky (Mitherausgeber von Public History Weekly)

Veranstaltung: 
Kulturvermittlung und Geschichtswissenschaften - Médiation culturelle et sciences historiques
Organisiert von: 
infoclio.ch
Veranstaltungsdatum: 
13.11.2020
Ort: 
online
Sprache: 
d
f
Art des Berichts: 
Conference