Die neuere historische Forschung hat gezeigt, dass es „den Feminismus“ im 20. Jahrhundert nicht gibt. Dies betonte CÉLINE ANGEHRN (Basel) in ihrer Begrüssung zum Panel „Kinder-/Reichtum: Feministische Perspektiven auf Sexualität, Mutterschaft und Ökonomie nach 1950“. Unabdingbar sei es folglich, nicht von dem Feminismus und von den Feministinnen zu reden, sondern vielmehr widersprüchliche Formen feministischen Denkens und Handelns zu thematisieren.
LISIA BÜRGI (Bern) verfolgte diesen Ansatz, indem sie die Position zweier Organisationen im Zusammenhang mit der Debatte um den straffreien Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz der 1970er Jahre aufzeigte und fragte, wie diese dabei den Alleinerziehenden begegneten. Sie stellte die Haltung des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds (SKF) derjenigen der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) gegenüber. Während der SKF den straffreien Schwangerschaftsabbruch mit dem Argument ablehnte, dass eine Liberalisierung die Frauen nicht befreien, sondern in neue Zwangslagen versetzen würde, verstanden die Aktivistinnen des FBB ihren Kampf für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs als Mittel zur Selbstermächtigung von Frauen(körpern).
Der SKF verfolgte eine sogenannte „positive Schwangerschaftshilfe“: Gemeinsam mit der Caritas entwickelte er Unterstützungsmassnahmen um alleinerziehende Frauen finanziell zu unterstützen, so etwa 1976 den Solidaritätsfond für Mütter in Not (SOFO). Auch die Aktivistinnen der FBB forderten gesellschaftliche Veränderungen. Der Kampf für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch sei für sie zugleich ein Kampf für die Befreiung aus einer patriarchalen Ordnung gewesen. Aus diesem Grund wollten sie die männliche Macht über den weiblichen Körper durchbrechen. Dazu forderten sie u.a. einen besseren Zugang zu Verhütungsmitteln und juristischen Kenntnissen. In diesem Kontext etablierten sich die Informations- und Beratungsstellen (INFRA) als wichtige Austauschplattformen für Frauen. Bürgi verwies weiter darauf hin, dass auch innerhalb der FBB ein ambivalentes Verhältnis zur Mutterschaft herrschte. Dies habe es den Aktivistinnen erschwert, sich zur Frage des straffreien Schwangerschaftsabbruchs zu positionieren. Die Referentin zeigte, inwiefern das Konzept der „Wunschkinder“ hier eine Lösung zu bieten schien: Mutterschaft sollte nicht länger ein Instrument der Unterdrückung sein, sondern gewünscht werden. Daher forderte die FBB Kinderkrippen, bezahlter Schwangerschaftsurlaub, einfacher Zugang zu Verhütungsmitteln sowie den straffreien Schwangerschaftsabbruch.
Beide Gruppen habe also trotz unterschiedlicher Positionierung zum Schwangerschaftsabbruch das Ziel verbunden, gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Und so, das betont Bürgi in ihrem Fazit, hätten beide – wenn auch aus anderen Motiven – zum Aufbrechen des normativen und patriarchalen Familienbilds beigetragen und die Situation der Alleinerziehenden und ihre Wahrnehmung innerhalb der Gesellschaft verändert. Die Gründung des Schweizerischen Verbands Alleinerziehender Mütter und Väter (SVAMV) 1984 stellte die Referentin als Meilenstein der Entwicklung im Umgang mit Alleinerziehenden vor. Denn es sei die Vernetzung der Frauen untereinander gewesen, ihr Austausch und die Möglichkeit, eigene Massnahmen zu entwickeln, die es den alleinerziehenden Frauen ermöglichte, sich Schritt für Schritt aus ihrer zugeschriebenen Opferrolle zu emanzipieren. Dadurch sei ein Raum entstanden, in dem auch Mütter ganz selbstverständlich die alleinige Verantwortung für eine Familie tragen können.
Diese Veränderung, dies betont ein Diskussionsbeitrag im Anschluss, habe sich auch in der Bezeichnung der Betroffenen niedergeschlagen: War die alleinstehende Frau mit den Zuschreibungen unverheiratet, geschieden oder verwitwet bisher über ihr Verhältnis zum Mann definiert worden, veränderte sich dies mit dem Aufkommen des Begriffs „alleinerziehend“ in den 1980er. Neu wurde ihre Position über die Beziehung zum Kind beschrieben.
Auch im zweiten Beitrag ging es um die Auseinandersetzung mit der feministischen Bewegung in der Schweiz nach 1968. Dabei fragte ANJA SUTER (Basel) in ihrem Beitrag, was die Metaphern wie „Befreiung“ und „Kolonisation“ resp. „Dekolonisation“ des weiblichen Körpers bedeuteten und welche Handlungsmöglichkeiten die Bewegung daraus abgeleitet hatte. Bei ihrer Untersuchung konzentrierte sie sich überwiegend auf Quellen der feministischen Bewegung der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz.
Mit dem Konzept „Phantasie“ von Joan Scott zeigte Suter, wie es der internationalen Frauenbewegung gelang, über den Begriff der „Befreiung“ – in Anlehnung an die anti-kolonialen und anti-rassistischen Befreiungskämpfe – eine gemeinsame Identität und damit einen politischen Bezugsrahmen zu schaffen. Denn der Begriff verband die Frauen auf drei zeitlichen Ebenen: einer (vermeintlich) gemeinsamen Geschichte, dem Kampf der Gegenwart und einem noch nicht eingelöstesnZukunftsversprechen. Ähnliches gelte auch für den Begriff „Emanzipation“. Beide Begriffe seien gleichzeitig Kampfansagen gegen den Kapitalismus, den Kolonialismus, imperiale Kriege und gegen die Politik der etablierten Parteien gewesen. Mit ihrer Haltung wandten sich die Aktivistinnen nicht nur gegen die gesellschaftlichen Zwänge, die Frauen auferlegt wurden, sondern auch gegen die bürgerliche Frauenbewegung.
Wie die „Befreiung“ des Frauenkörpers konkret vorangetrieben wurde, führte Suter an zwei Beispielen aus: Der Praxis der „Selbstuntersuchungen“ und dem Kampf für den straflosen Schwangerschaftsabbruch. Bei ersterem ging es den Frauen um die „Rückeroberung“ ihres Körpers und der „Befreiung“ von der Abhängigkeit eines meist männlichen Arztes durch Wissenserwerb. Im Kampf für den straflosen Schwangerschaftsabbruch organisierte sich die Frauenbewegung international. Dabei zeigte sich gerade die globale Vernetzung und damit die Auseinandersetzung mit den Frauen des Globalen Südens als Herausforderung. Vor dem Hintergrund zwangsverordneter „Familienplanungsprogramme“ beschäftigte diese Frauen im Hinblick auf „Befreiung“ weniger die Forderung nach einem Recht auf Abtreibung, als vielmehr ein Recht auf Mutterschaft. Auch das Aufkommen neuer Technologien für pränatale Untersuchungen, die als Form einer „Rekolonialisierung“ wahrgenommen wurden, forderte eine Neupositionierung. Suter gelang es zu zeigen, wie der Austausch mit den Frauen des Globalen Südens die Frauenbewegung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Recht auf und dem Besitz des eigenen Köpers veränderte. Konsequenterweise forderte die Frauenbewegung neben dem Recht auf Abtreibung nun auch ein Recht auf Schwangerschaft. Aus dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ war in den 1980er Jahren „ich bin (auch) mein Bauch“ geworden.
SARA BERNASCONI (Zürich) ergänzte die Beiträge um die Betonung der Erfahrung als wichtiges verbindendes Element der Frauenbewegung, ebenfalls ein Element aus Joan Scotts Konzept. Abschliessend verortete sie die Debatten in der Geschichte der Abtreibung. Sie verwies darauf, dass Staaten immer dann begannen Abtreibungen gesetzlich zu regeln, wenn sie den Frauen die spezifische Rolle als Mutter zuwiesen. Umgekehrt seien gesetzliche Regelungen zur Abtreibung in der Geschichte dazu benutzt worden, ein patriarchales Frauenbild zu etablieren.
Panelübersicht:
Bürgi, Lisia: „Werdende Mütter in Bedrängnis“. Straffreier Schwangerschaftsabbruch und Engage-ment zugunsten alleinerziehender Frauen
Suter, Anja: Die „Rückeroberung“ des weiblichen Körpers. Von „mein Bauch gehört mir“ zu „Ich bin (auch) mein Bauch“ in der schweizerischen Frauenbewegung 1970er bis 1980er Jahre.
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen