Verantwortung: Eva Maria Gajek / Bettina Severin-Barboutie
Referierende: Anne Kurr / Barbara Lambauer / Massimo Moraglio
Was hat Migration mit Reichtum zu tun? Zählen wir nicht die Armut zu den wichtigsten Pushfaktoren für Migration? Anders ist es mit dem Begriff der Mobilität, der häufig im Zusammenhang mit vermögenderen Menschen und deren räumlicher Bewegung benutzt wird und weniger aufgeladen erscheint. Das Panel wollte facettenreich über Reichtum in Migrations- und Mobilitätsprozessen nachdenken und fragte, wie Migration, Mobilität und Reichtum verflochten sind – und welche Forschungsfragen sich in Zukunft daraus ergeben.
Den Leiterinnen des Panels, BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Giessen) und EVA MARIA GAJEK (Giessen) ging es darum, zwei in der Forschung bisher eher getrennt diskutierte Themenbereiche zu verknüpfen, um zu neuen Fragestellungen und Perspektiven für zukünftige Forschungen zu gelangen: die Migrationsgeschichte auf der einen und die historische Reichtumsforschung auf der anderen Seite. Migrationsgeschichte müsse auf die «feinen» Unterschiede in Migrationserfahrungen eingehen können, das «wann, wo und wie» mitdenken und mituntersuchen. Ganz im Bourdieu’schen Sinne bestimmten die verschiedenen Formen des Kapitals (soziales, ökonomisches, kulturelles und symbolisches) die Art und Weise der Migration und ihre Auswirkungen. In Anlehnung an die Soziologie, die Reichtumskulturen untersucht, müsse Reichtum in der historischen Forschung auch im Hinblick auf Begegnungsräume, Verflechtungen und AkteurInnen untersucht werden. Severin-Barboutie und Gajek diskutierten darüber hinaus Bereicherungsdiskurse im Zusammenhang mit Migration. Bereichern können sich einzelne Individuen, MigrantInnen, HelferInnen, TransporteurInnen, Kollektive und so weiter.
BARBARA LAMBAUER (Paris) behandelte in ihrem Referat über Reichtum aus «West» und die jüdische Massenmobilität aus «Ost» eine vermögende Person, die ihren Reichtum zur Migrationshilfe einsetzte. Sie untersuchte Maurice de Hirsch als historischen Akteur, der versuchte, systemische Armut und Ausgrenzung um 1900 zu überwinden. De Hirsch finanzierte zahlreiche jüdische Auswanderer aus dem Zarenreich, Rumänien und Galizien. Im Kontext der grossen jüdischen Massenmobilität um 1900 verliessen 3.5 Millionen Menschen ihre Heimat. Lambauer analysierte spezifischer die Vermittlerrolle von westeuropäischen philanthropischen Organisationen in dieser Auswanderungswelle – bisher ein Forschungsdesiderat. Oft entstammten die MigrantInnen der Unterschicht und ihre Migration bedurfte deshalb der finanziellen Unterstützung. Maurice de Hirsch als reicher kosmopolitischer Bankier, der insbesondere mit Ackerbaukolonien in Argentinien zu Geld gekommen war, ist ein exemplarischer Akteur für die Verschränkung und Verflechtung von Migration, Reichtum und Mobilität. 1860 begann Maurice de Hirsch mit dem Aufbau der philanthropischen Organisation «L’alliance Israélite Universelle» und trug damit entscheidend zur Entstehung eines philanthropischen Netzwerks in Europa in den 1860er und 1870er Jahren bei. Ursprünglich hatte die «L’alliance Israélite Universelle» den Auftrag, im Osmanischen Reich jüdische Schulen zu gründen, doch angesichts von Pogromen und Ausschreitungen im Zarenreich und dem damit einsetzenden Exodus aus «Ost» wurden jüdische philanthropische Organisationen zu wichtigen Akteuren in der Migrationshilfe. Insgesamt stellte Maurice de Hirsch, der sich immer als Befürworter des Assimilationismus verstand, rund 12 Millionen Francs für philanthropische Zwecke zur Verfügung. Er wurde häufig Zielscheibe antisemitischer Äusserungen. Diverse jüdische Organisationen setzten sich sowohl in der Heimat als auch in den Einwanderungsländern für die Verbesserung der Lebensumstände der MigrantInnen ein, durch das Angebot von Sprachkursen oder durch die Gründung von Grund- und Berufsschulen. Viele der jüdischen ImmigrantInnen, die im Zuge der Auswanderungswelle um 1900 in die USA gelangten, seien dort zu Reichtum gekommen, so Lambauer. Damit hätten sie ihrerseits die folgenden jüdischen Migrationswellen während und nach dem Ersten Weltkrieg finanziert.
ANNE KURR (Hamburg) analysierte in ihrem Referat Mobilitätsräume reicher Akteure. Sie untersuchte dafür vergleichend exklusive Grossstadtviertel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Hamburg und Paris. Ziel ihrer Untersuchung war es, dass Narrativ der Auflösung der Klassengesellschaft zu hinterfragen und zu differenzieren. Dabei ging Kurr von der These aus, dass gerade in exklusiven Innenstadtvierteln wohlhabende Personen zusammenfinden, die sich dadurch von unteren Schichten abgrenzen. Solche Personen gelten gemeinhin als mobil, sie haben die Möglichkeit zu reisen und sich zwischen verschiedenen Wohnsitzen zu bewegen. Die exklusiven Grossstadtviertel werden dabei zum Transitraum der Oberschicht und ziehen neben der wohlhabenden Wohnbevölkerung beispielsweise auch Botschaften westlicher Länder an. Neben der grosszügigen Architektur sind stetig steigende Wohn- und Mietpreise zentrale Charakteristika der entsprechenden Viertel, die wiederum die Exklusivität befördern. Auch das Kaufangebot wird der Kundschaft angepasst. Somit wird neben dem Wohnraum auch das Einkaufen räumlich und schichtspezifisch getrennt. Neben den getrennten Wohnräumen und segregierten Einkaufsstrassen unterscheiden auch Zeitmanagement und Mobilität unterschiedliche Schichten und verhindern Kontaktpunkte. Durch die Mobilität zwischen mehreren Wohnsitzen und die Vernetzung und Stärkung der Zugehörigkeit zu einer spezifischen gesellschaftlichen Schicht sowie die Abgrenzung durch exklusive Räume übertragen sich lokale Reichtumskulturen im globalen Massstab, so Kurrs These. Damit wird auch Mobilität zum Abgrenzungsmechanismus der Oberschicht.
MASSIMO MORAGLIO (Berlin) hingegen hinterfragte das Narrativ der Mobilität als Vergnügen und untersuchte dafür die Mobilität von Gastarbeitenden, die in den 1950er Jahren zum grössten Teil per Bus zwischen ihren Heimatländern und der Bundesrepublik Deutschland unterwegs waren. Moraglio vertrat die These, dass wir uns gegenwärtig an einem Wendepunkt befinden würden, an dem die ehemals „vergnügliche“ Mobilität zur Last werde. Das übermässige Unterwegssein definierte Moraglio als Hypermobilität und stellte die zweite These auf, dass Hypermobilität kein neues Phänomen sei, auch die Gastarbeitenden der 1950er und 1960er Jahren seien sehr häufig gereist. Günstigere Busse erlaubten es den Gastarbeitenden, im Monats- oder gar Wochenrhythmus in die Heimat zu reisen. Ausserdem ermöglichte diese Alternative zu teureren Zugreisen auch grösseren Gruppen von Gastarbeitenden das Reisen, zunehmend waren auch Frauen und Kinder unterwegs. Damit seien auch potential als «arm» gedachte Gastarbeitende zu Akteuren der Hypermobilität geworden. Aus diesem Grund sei Mobilität im Zusammenhang mit der Verkürzung der Dauer von Mobilität und den sozialen und technologischen Neuerungen zu untersuchen. Dadurch sollen gängige Kategorien wie «TouristIn», «ReisendeR» oder «MigrantIn» hinterfragt werden.
In der Diskussion der Panelbeiträge wurde die Ambivalenz von Mobilität und Immobilität der Reichen und Armen intensiv thematisiert. Werden Arme und Reiche nicht gerade dadurch einander ähnlich, dass beide Gruppen „immobil“ sind? Denn wenn Mobilität das Potential der Möglichkeiten sei, an andere Orte zu fahren, können Reiche in Hamburg genauso immobil sein wie Gastarbeitende. Dies aus dem Grund, dass Reiche aus Hamburg nur die Mobilität ihrer Vorgenerationen reproduzieren würden und Gastarbeitende zwar viel unterwegs seien, aber stets nur zwischen zwei Orten. Kurr betonte, dass in erster Linie der Repräsentationsdruck reiche Mobilität einschränke, da nur bestimmte Orte grosse Anziehungskraft hätten. Moraglio ging darauf ein, dass physische und soziale Mobilität zusammenhängen und auch einen schwierigen Balanceakt zwischen Erfolg, Heimatfindung und Heimatverlust darstellen würden. Lambauer forderte dazu auf, „die Oberschicht“ differenzierter zu betrachten, da sie keine homogene Gruppe darstelle. Weitere Fragen blieben offen: Wie veränderten Kommerzialisierungsprozesse reiche Stadtviertel? Wie verhilft Hypermobilität neuen Bevölkerungsgruppen zu mehr Mobilität und wie verändert sie Gesellschaftsstrukturen? Um hierzu Forschungen voranzutreiben, muss jedoch zunächst ein gemeinsames Arbeitsinstrumentarium der Begriffe gefunden werden. Missverständnisse sind sonst unvermeidbar und Arbeitsbegriffe ohne Differenzierungen lassen (zu) viele Fragen offen: Was hat Migration mit Reichtum zu tun? Wie lange muss man in einem Land sein, um nicht mehr ImmigrantIn zu sein? Ist reiches Unterwegssein Mobilität und armes Unterwegssein Migration?
Panelübersicht:
Lambauer, Barbara: Reichtum aus « West », jüdische Massenmobilität aus « Ost »: Maurice de Hirsch und Versuche zur Überwindung systemischer Armut und Ausgrenzung um 1900
Kurr, Anne: Mobilitätsräume reicher Akteure. Exklusive Großstadtviertel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Moraglio, Massimo: Beyond Empowerment. Hyper-Mobility between Acceleration and Technology
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen