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Panel: Globale Schweiz. Von der frühneuzeitlichen Drehscheibe für Waren und Wissen zur modernen Wirtschaftsmacht (Teil 1+2)

Autor / Autorin des Berichts: 
Heinz Nauer, Universität Luzern
heinznauer@gmx.ch


Zitierweise: Nauer, Heinz: Panel: Globale Schweiz. Von der frühneuzeitlichen Drehscheibe für Waren und Wissen zur modernen Wirtschaftsmacht (Teil 1+2), infoclio.ch Tagungsberichte, 2016. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0112>, Stand:


Verantwortung: Lea Haller / Bernhard Schär
Referierende: Kim Siebenhüner / Alexis Schwarzenbach / Philippe Bornet / Patricia Purtschert / Ariane Knüsel
Kommentar: Martin Dusinberre / Jain Rohit

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Die transnationale Geschichtsschreibung hat Hochkonjunktur – auch in der Schweiz. Seit einigen Jahren besteht das Netzwerk „Transnationale Geschichte“, das sich für die globalen Verflechtungen der Schweiz im Wandel der Zeit interessiert.1 Aus diesem Kreis stammten auch die Organisierenden sowie die meisten Referierenden des Doppelpanels „Globale Schweiz. Von der frühneuzeitlichen Drehscheibe für Waren und Wissen zur modernen Wirtschaftsmacht“. Erklärtes Anliegen des Panels (wie auch des Netzwerks) war eine Neuorientierung der Schweizer Geschichte, die sich weniger an nationalen Mythen und ihrer Dekonstruktion, sondern an globalen Verflechtungen orientiert und auch die Geschichte der Schweiz sowie der Schweizerinnen und Schweizer in den Blick nimmt, die sich ausserhalb der nationalen Grenzen abspielte; sei es im Kontext des Rohstoffhandels, der Mission, der Migration oder in aussenpolitischen Zusammenhängen.
Das Panel legte einen Schwerpunkt auf die Ökonomie – wobei der Begriff sehr weit gefasst wurde – sowie auf die Funktionslogiken von ökonomischen Interaktionen, die immer auch Machtbeziehungen widerspiegeln, wie LEA HALLER in ihrer kurzen Einführung zum ersten Teil des Panels betonte. Konkret sollten die einzelnen Beiträge des Panels anhand empirischen Materials nach der „Mobilität von Waren, Kapital und Wissen“ fragen und die daraus folgenden „Machtbeziehungen und hegemonialen Wirtschaftsverhältnisse“ untersuchen.2 BERNHARD SCHÄR plädierte in seiner Einführung zum zweiten Teil für vermehrte Grenzüberschreitungen auch in der wissenschaftlichen Praxis, etwa in Form eines verstärkten Dialogs zwischen der historischen Forschung zur Frühen Neuzeit und der Moderne. Die Beiträge deckten denn auch eine zeitlich grosse Spannweite ab, die vom 16. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre reichte.

KIM SIEBENHÜNER fragte in ihrem kompakten und differenzierten Beitrag nach dem Anteil von Schweizer Handelshäusern am globalen Baumwollhandel in der Frühen Neuzeit. Die ältere Forschung habe die Schweizer Baumwoll- und Indienneindustrie stets im nationalstaatlichen Rahmen behandelt, so Siebenhüner. Dieses Bild sei aber revisionsbedürftig, wie jüngere Studien zeigten. Grössere Schweizer Handelshäuser wie Amman in Schaffhausen oder Burkhardt & Cie in Basel hätten im Aneignungsprozess von indischen Druck- und Färbetechniken, dem Import von global zirkulierenden Materialien für den Textildruck (beispielsweise Gummi arabicum) und der Beschaffung von indischen Rohtuchen eine wichtige Rolle gespielt. Der Verkauf der verarbeiteten Indienne erfolgte insbesondere in den atlantischen Raum, wobei die Schweizer Akteure auch in den transatlantischen Sklavenhandel involviert waren, wie frühere Studien bereits gezeigt hätten. Die europäische Indiennes-Herstellung beruhte auf einem Wissenstransfer zwischen Indien und Europa. Auch Schweizer Fabrikanten haben, wie Siebenhüner herausarbeitete, von diesem Transfer profitiert und – mehr noch – als Akteure zur Verdichtung des globalen Wissens- und Warenverkehr im 18. Jahrhundert beigetragen. Diese Verdichtung sei, so Siebenhüner, als eine europäisch dominierte Hegemonialisierung und Verknüpfung von älteren polyzentrischen Netzwerken zu verstehen.

Der Beitrag von ALEXIS SCHWARZENBACH handelte von den schweizerisch-japanischen Handelsbeziehungen zwischen ca. 1860 und dem Ersten Weltkrieg, konkret von der Seidenindustrie. In der Schweiz war insbesondere Zürich im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Zentrum der Seidenindustrie. Zehntausende von Arbeiterinnen und Arbeitern waren in dieser Branche beschäftigt. Einen grossen Teil der Rohseide importierte man seit den 1860er Jahren aus Ostasien. Der wichtigste Rohseidelieferant war Japan; das Land war gerade im Begriff, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren. Züricher Handelshäuser hätten bei der japanischen Integration eine wichtige Rolle gespielt, so Schwarzenbach, und seien in der Verarbeitung bald von japanischen Unternehmungen überflügelt worden. Die grösste Seidenfabrik der Welt befand sich im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr in Europa, sondern in Tomioka, nordwestlich von Tokio (freilich mit einem französischen Maschinenpark). Der japanische Einfluss machte sich auch kulturell bemerkbar. Schweizer Seidenfabrikanten lehnten sich beim Bedrucken der Stoffe zunehmend an japanische Motive an. Auch sorgten die Schweizer Handelsleute in Japan für einen steten Fluss von japanischem Kunsthandwerk (beispielsweise Katagamis) nach Europa. Die „Japonica“ trifft man bis heute – laut Schwarzenbach weitgehend unbeachtet – tausendfach auch in Schweizer Sammlungen von Genf bis St. Gallen.

PHILIPPE BORNET beschäftigte sich in seinem Beitrag mit der Kanarese Evangelical Mission mit Sitz in Lausanne in der Zeit von 1918 bis 1928. Konkret präsentierte er verschiedene im Umfeld der Organisation publizierte Zeitschriften. In der Schweiz wurden solche Zeitschriften auf deutsch und französisch gedruckt. Die Artikel wurden teils von Missionaren im Feld (in diesem Fall in Karntaka im südwestlichen Indien) geschrieben, teils in der Schweiz verfasst. Die Zeitschriften hätten insgesamt das Bild eines rückständigen Indiens vermittelt und der Schweizer Leserschaft somit das Gefühl der eigenen Überlegenheit und Modernität vermittelt, so Bornet, der sich in diesem Punkt auf die Arbeiten von Patrick Harries bezog.3 In Karntaka erschienen im selben Zeitraum im Umfeld der Missionsgesellschaft auch Zeitschriften, die von lokalen indischen Christen in ihrer Muttersprache Kannada publiziert wurden – und sich teilweise offen gegen die lokale Regierung stellten. Die Autorität der Missionare, so Bornet, sei so von den Einheimischen genutzt worden, um eine eigene – und nicht selten anti-europäische – Agenda zu verfolgen.

Die beiden Beiträge im zweiten Teil des Panels waren zeitlich im 20. Jahrhundert angesiedelt.4 PATRICIA PURTSCHERT fragte ausgehend von Anne McClintocks Konzept des „commodity racism“5 nach den Zusammenhängen zwischen Konsumkultur, Kolonialismus und Geschlechternormen in der Schweiz der 1930er Jahre. Die Einbindung der Schweizer Hausfrau vermittels der Konsumkultur in ein „koloniales Imaginäres“ sei ein wichtiges Element im Prozess der Konstituierung der Geschlechterordnung in der Schweiz gewesen, so Purtscherts Kernthese. Als anschauliche Quellenbeispiele führte sie Werbeanzeigen für Konsumgüter (beispielsweise Waschmittel) aus populären Illustrierten an. Anregend – wenn im Detail wohl schwer zu belegen (etwa durch ergänzende schriftliche Quellen) – war der Gedanke, bei der Bildanalyse auch das Nichtdargestellte, das „unsichtbare Andere“ zu bedenken. Bei Anzeigen für weisse Wäsche beispielsweise sei der Exotismus als Kontrastfolie sozusagen mit im Bild, ohne explizit dargestellt zu sein.

Mit dem Beitrag von ARIANE KNÜSEL zu den wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen der Schweiz und China von 1950 bis 1980 langte das Panel schliesslich in der Zeitgeschichte an. Die Schweiz anerkannte die Volksrepublik China als eines der ersten europäischen Länder bereits 1950 offiziell. Knüsel zeigte auf, wie ökonomische Interessen in der Beziehung zwischen der Schweiz und China politisch-ideologische Differenzen stets überlagerten, obschon das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern in der Untersuchungsperiode stets vernachlässigbar gering war. Wichtige Akteure in der Entwicklung der schweizerisch-chinesischen Beziehungen waren neben staatlichen Institutionen auch Vereine, Verbände sowie private Firmen wie die Pharmakonzerne Sandoz und Ciba-Geigy oder der Hersteller von Aufzuganlagen Schindler.

Das Panel profitierte von der zeitlichen Spannweite seiner Beiträge. Gerade die Referate zum 18. und 19. Jahrhundert im ersten Teil des Panels, die etwas von den postkolonialen Ansätzen – insbesondere vertreten von Purtschert und JAIN ROHIT, der den zweiten Teil kommentierte – wegführten, öffneten Felder, die über die reine Untersuchung des kolonialen Gehalts wirtschaftlicher Verflechtungen hinausreichten und – wie im Programm angekündigt – auch deren „globale Gestaltungskraft“ in den Blick nahmen. Diese „Gestaltungskraft“ blieb insgesamt jedoch leider wenig konkret. Anregend war diesbezüglich der Kommentar von MARTIN DUSINBERRE, der vorschlug, die verwendete Terminologie genau zu reflektieren. Er fragte danach, wann man von „hegemonialen“ Beziehungen sprechen könne. Wann von einer „globalen“ und wann von einer „kolonialen“ Schweiz? Sind es analoge – oder gar synonyme – Begriffe? Oder stehen sie in einer diachronen Abfolge zueinander? Und wenn ja, wann und wie hat sich der Übergang vollzogen? Etwas zugespitzt liesse sich also fragen: Ist eine globale Schweiz immer gleichzeitig auch eine (post)koloniale Schweiz? Einige Differenzierungen diesbezüglich scheinen – gerade für das 20. Jahrhundert – noch offen.


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Anmerkungen
1 http://www.transnationalhistory.ch; auf der Website als Download verfügbar das programmatische Diskussionspapier Beyond Switzerland. Reframing the Swiss Historical Narrative in the Light of Transnational History, von Pierre Eichenberger (in Zusammenarbeit mit Lea Haller, Christa Wirth, Thomas David, Matthieu Leimgruber und Bernhard Schär).
2 Vgl. Abstract im Tagungsprogramm.
3 Insbesondere Harries, Patrick, Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford 2007.
4 Der Beitrag von Valentina Sebastiani „Marketing the ‘New World’ for Protestants. Visual Strategies among 16th century Basel printers“ entfiel.
5 Vgl. Purtschert, Patricia; Lüthi, Barbara; Falk, Francesca, Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Ko-lonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2012, konkret zum “commodity racism” S. 37-39.


Panelübersicht:

Siebenhüner, Kim: Indienne revisited. Eine Schweizer Industrie im Fahrwasser frühneuzeitlicher Globalisierung

Schwarzenbach, Alexis: Rohseide, Katagami & Co. Schweizerisch-japanische Transferbeziehungen zwischen Macht und Ohnmacht, ca. 1860–1914

Bornet, Philippe: Switzerland in the mirror of Karnataka: Periodicals of a Swiss evangelical mission as loci of exchanges (1918-1928)

Purtschert Patricia: „Weisse Waren“: Commodity Racism und bürgerlicher Haushaltskult in der Schweiz der 1930er Jahre

Knüsel, Ariane: 'Business, not trade agreements'. Wirtschaftspolitische Beziehungen zwischen der Schweiz und China, 1950-1980

Veranstaltung: 
4. Schweizerische Geschichtstage 2016
Organisiert von: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Universität Lausanne
Veranstaltungsdatum: 
09.06.2016
Ort: 
Lausanne
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference