Verantwortung: Christian Koller / Daniel Nerlich
Referierende: Trudy Huskamp Peterson / Urs Kälin
Archive beherbergen für die historische Forschung unerlässliche Ressourcen und beeinflussen damit auch das Selbstbild einer Gesellschaft. Aber was kommt überhaupt ins Archiv und wer erhält Zugang dazu? Mit diesen Fragen setzte sich das Panel Archive der Macht – Archive der Ohnmacht auseinander. DANIEL NERLICH, stellvertretender Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH, machte zwei gegenläufige Trends aus: Einerseits habe mit der Verbreitung des Öffentlichkeitsprinzips in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Demokratisierung stattgefunden, andererseits beobachtet er einen Rückbau bei den Zugangsrechten. Gerade der Zugang zu nichtstaatlichem Archivmaterial sei oft schwierig. Weltweit sei das Problem der Bewahrung von Archivmaterial in Krisengebieten akut.
TRUDY HUSKAMP PETERSON amtierte in den 1990er Jahren als höchste Archivarin der USA. Seither engagiert sie sich in internationalen Organisationen und unterstützt NGOs bei der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, etwa in Guatemala, Südafrika oder vor kurzem auf den Marschallinseln. Dort arbeitete sie mit dem Nuclear Claims Tribunal zusammen, das die Prozessakten von Opfern der Atomtests archiviert; ein Projekt, das auch von der Schweiz unterstützt wird. Aus der Arbeit in diesem Projekt brachte sie auch das Motto ihres Referats mit: No Closure without Disclosure. Historisches Unrecht könne nur verarbeitet werden, wenn die Opfer wüssten, was wirklich passiert sei – und dabei spielten Archive eine wichtige Rolle, so Huskamp. Archivare und Archivarinnen hätten eine gewisse Macht, zum einen wenn sie darüber entscheiden, was bewahrt wird; zum andern beim Informieren über die Inhalte der Archive. Allerdings führten sie dabei meistens nur Regeln aus, die von den aktenbildenden Institutionen aufgestellt worden sind. Huskamp stellte in ihrem Referat die vom Internationalen Archivrat (ICA) propagierten Prinzipien zum Archivzugang vor, die sie als Vorsitzende der Arbeitsgruppe mit ausgearbeitet hatte. Die zehn Prinzipien stellen internationale Leitlinien für Gesetze zum Archivzugang dar.
Das erste Prinzip besagt, dass Archive, auch private, soweit wie möglich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Huskamp erläuterte jedes der Prinzipien anhand von Beispielen aus ihrer internationalen Tätigkeit. So etwa Artikel 2, der besagt, dass die Existenz von Archiven, auch von solchen, die nicht öffentlich zugänglich sind, bekannt gemacht werden müsse. Die Wichtigkeit dieses Grundsatzes zeigte sich in Guatemala, als Verantwortliche erklärten, die Polizeiarchive aus der Zeit des Bürgerkriegs seien vernichtet worden. Als die Archive später wieder auftauchten, konnten anhand der Akten mehrere Menschenrechtsverletzungen belegt und gerichtlich aufgearbeitet werden. Als kontroversester Artikel stellte sich der sechste heraus, demzufolge Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen oder deren Hinterbliebene ein Recht auf Zugang zu Akten auch aus nichtöffentlichen Archiven haben, um eine Anklage vorzubereiten. Dasselbe gilt für mutmassliche Täter, die ein Recht auf Verteidigung haben.
Allgemein sei es bei der Ausarbeitung sehr schwierig gewesen, die verschiedenen Archivtraditionen zu vereinen. Nach Huskamps Einschätzung korrelieren die unterschiedlichen Archivzugänge vor allem mit der jeweiligen gesellschaftlichen Einstellung zur eigenen Regierung. So sei in den USA, wo Misstrauen gegenüber der Staatsmacht verbreitet ist, vieles öffentlich, während etwa in Frankreich lange Sperrfristen die Norm sind. Wie Huskamps Ausführungen zeigten, sind Archive gerade in Konfliktsituationen nicht nur für Historiker und Historikerinnen relevant, sondern haben auch eine direkte politische Bedeutung.
Haben die Forschenden erst einmal Zugang zu den Archiven erhalten, wessen Überlieferungen finden sie dort? Danach fragte URS KÄLIN, der stellvertretende Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs im zweiten Referat. Archive übten als Orte der Wissensproduktion auf allen Ebenen Macht aus, von der Auswahl der Bestände über die Findmittel bis zu den Öffnungszeiten. Leider finde darüber hierzulande keine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit statt, bedauerte Kälin. Ganz anders sei dies in den angelsächsischen Ländern. Kritische Diskussionen gehen dort nicht nur von den Rändern der Archivcommunity aus, sondern auch von den etablierten Verbänden. In der Schweiz stand die politische Bedeutung von Archiven mit dem Fichen-Skandal und der Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen vor rund 20 Jahren in der Öffentlichkeit. Gerade im Zuge der Digitalisierung gebe es nun aber viele neue, noch offene Fragen. Kälin zufolge haben Archive eine ethische Verantwortung, da sie für die Überlieferungsbildung einer Gesellschaft entscheidend sind. Historikerinnen und Historiker möchten zwar, dass die Archive möglichst alles aufbewahren und ihnen die Entscheidung über die historische Bedeutung überlassen wird, dies sei aber nicht praktikabel.
Kälin unterschied drei Kategorien von Archivbeständen, die er als Archive der Macht, der Ohnmacht und der Gegenmacht bezeichnete. Damit sind nicht die Archive als Institutionen gemeint, die meist Akten unterschiedlicher Provenienz beherbergen, sondern die einzelnen Bestände. Archive der Macht sind etwa die Unterlagen staatlicher Akteure, aber auch solche von Firmen oder supranationalen Organisationen. Archive der Ohnmacht beinhalten demgegenüber Hinterlassenschaften der Opfer von Unterdrückung oder Verfolgung. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Ringelblum-Archiv aus dem Warschauer Ghetto. Auch Selbstzeugnisse von Flüchtlingen oder Arbeiterinnen und Arbeitern fallen darunter, genauso wie Unterlagen von Selbsthilfegruppen. Solche Bestände finden sich zwar auch in städtischen Archiven, sie werden jedoch oft als Ergänzungsüberlieferung behandelt. Als dritte Kategorie, Archive der Gegenmacht, beschrieb Kälin die Unterlagen von sozialen Bewegungen oder Organisationen. Hier gibt es eine breite Spannweite, genannt wurden etwa die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, die sich bereits im 19. Jahrhundert für Gefängnisreformen einsetzte, oder die Kommunistische Partei der Schweiz. Bei dieser zeigte sich jedoch ein spezielles Problem der Überlieferung: Als die Partei ihre Bestände dem Sozialarchiv übergab, forderte ein Aktivist die Vernichtung der Akten mit der Begründung, die Archivierung sei für eine revolutionäre Bewegung nicht akzeptabel. Viele soziale Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben eigene Archive angelegt, etwa in Infoläden oder Autonomen Zentren, die aber der Öffentlichkeit kaum zugänglich sind. In der Schweiz fehle es nicht nur an Bewusstsein für das Archiv als Kulturgut, sondern auch an gesetzlichen Regelungen für die Aufbewahrung von nichtstaatlichen Unterlagen. Alle Arten von Archiven seien für die Überlieferungsbildung relevant; es brauche eine gesellschaftliche Debatte über die Auswahl von Archivgut, forderte Kälin.
Seine Ausführungen fanden im Publikum nicht nur Zustimmung. Ein Zuhörer hinterfragte die praktische Bedeutung der drei Kategorien. Bei einigen der genannten Beispiele, wie etwa dem Firmenarchiv von Nestlé auf der einen und den Unterlagen der Kampagne „Nestlé tötet Babys“ auf der anderen Seite, seien die Rollen zwischen Macht und Gegenmacht vielleicht klar verteilt. Wo aber wären etwa die Akten der Denkmalpflege einzuordnen? Andere der Anwesenden, unter denen Archivare und Archivarinnen eine Mehrheit zu bilden schienen, begrüssten die vorgestellten Ideen jedoch ausdrücklich. Gerade auch für Historikerinnen und Historiker sind die aufgeworfenen Fragen sicherlich relevant. Die beiden Referierenden beleuchteten zwar verschiedene Aspekte des Themas, in beiden Vorträgen wurde aber deutlich, dass es wichtig ist, sich sowohl grundsätzlich als auch im Detail mit der Funktionsweise und den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Archivwesens zu befassen.
Panelübersicht:
Huskamp Peterson, Trudy: Principles of Access to Archives (of Power[lessness])
Kälin, Urs: Ohnmacht und Gegenmacht in Schweizer Archiven