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Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier

Autor / Autorin des Berichts: 
Zitierweise: Maas, Julia: Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier, infoclio.ch Tagungsberichte, 2016. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0108>, Stand:


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Ins Schweizerische Literaturarchiv (SLA), räumte dessen Leiterin IRMGARD WIRTZ (Bern) zu Beginn ein, sei die Tagung durch einen Anstoss von aussen gekommen: von einer 2012 veranstalteten Konferenz in Romainmôtier unter dem – durch Bruno Latour inspirierten – Titel paperworks. Wo liessen sich, gestützt durch die seit einem guten Jahrzehnt geleistete Forschung zu0r Materialität des Schreibens, die pratiques du papier (Antoine Compagnon) besser untersuchen als hier, an reichlich papiernen Beständen, hatte man sich dort gefragt. Hier sollten nun, am Übergang ins digitale Zeitalter, systematisch und in Fallstudien solche Praktiken beleuchtet werden, in denen das Trägermaterial der Literatur als Objekt, mitunter sogar als ‹Quasi-Objekt› (Michel Serres), zur Geltung kommt – Praktiken, mit anderen Worten, von ‹Papierarbeitern›. MAGNUS WIELAND (Bern), Mitveranstalter der Tagung, plädierte eingangs dafür, deren aus der Editionsphilologie stammendes Profil zu nuancieren. Den ‹Papierarbeiter› unterscheidet vom ‹Kopfarbeiter›, dass er seinen Text nicht vor, sondern während der Niederschrift gedanklich ausfertigt. Womöglich kennzeichne ihn darüber hinaus das stärkere Materialbewusstsein: Der paperworker verwende sein Medium nicht als beliebige Aufzeichnungsfläche, sondern er lasse sich von ihr stimulieren oder stören – und greife nicht zuletzt zu Schere und Leim, um «dreidimensional zu schreiben». –– Mit der Tagung zum Schneiden und Kleben wurde im SLA die Reihe Beide Seiten fortgesetzt, in der mit grosser Resonanz bereits das Streichen als produktive, materialbezogene Praktik im Schreibprozess erarbeitet worden ist.1 Dem Format der Reihe entsprechend wurden auch bei der diesjährigen Veranstaltung Autoren und Wissenschaftler ins Gespräch gebracht. Am Donnerstag profitierte die Diskussion von den Gästen Dieter Bachmann und Felix Philipp Ingold, deren Papierarbeiten – ein Tageklebebuch von Bachmann und Ingolds auf dem Tagungsplakat abgebildete Collage – unter anderen in der begleitenden Kabinettausstellung gezeigt waren. Am Freitagnachmittag war ebenfalls Urs Engeler im Publikum, dessen Verlagsarchiv unlängst ins SLA gekommen ist. Lesung und Gespräch mit EUGEN GOMRINGER sowie eine Performance der Wort-und-Bild-Künstlerin BIRGIT KEMPKER rundeten das Programm ab.

Im ersten Vortrag legte UWE WIRTH (Giessen) nicht nur die kulturtechnischen Wurzeln des Cut and Paste im Pfropfen (frz. greffer) frei. Die Praktik, die er seinem papieraffinen Publikum als «botanische bricolage» zu erklären wusste, war bereits von Jean Paul als Allegorie für das Abschreiben verwendet, dann von Jacques Derrida als Metapher für das Schreiben generell eingeführt worden. Mit seiner Eröffnung erhellte Wirth darüber hinaus die poetologischen und politischen Implikationen einer «greffe materielle»: einer Schreib- und Papierpraxis, die anders als die greffe citationelle (Derrida) nicht nur Schriftzeichen kopiert, sondern die das Geschriebene mitsamt Trägermaterial in einen neuen Kontext bewegt. Am Beispiel von Herta Müllers Gedicht-Collagen führte er vor, wie durch solche Bewegung, durch cut and paste, Alltags- in Kunstworte (Zeitungsschnipsel in Literatur) transformiert werden und wies auf die Nobilitierung, aber mehr noch auf die Demokratisierung des Materials hin, die hier wie in Collagen der klassischen Avantgarde ansichtig werde. –– Um die Bewegung von Material und Zeichen, um «Papier- und Buchstabenkreisläufe» ging es auch im anschliessenden Vortrag von GISELA STEINLECHNER (Wien). Aus der Heidelberger Sammlung Prinzhorn präsentierte sie beeindruckende und berührende Papierarbeiten, die um 1900 in psychiatrischen Anstalten entstanden sind. Sie zeigte, wie feinsinnig die Patienten auf Material aus zweiter Hand – Aktenpapiere, Briefe, Kalenderblätter oder Zeitungsseiten – antworteten: von seriellen Arbeiten auf seriellen Formaten zur monumentalen Buchcollage aus Zeitungsworten, die den ideologisch durchsetzten Wortschatz der Presse als Bollwerk der Mächtigen sinnfällig macht. Eine besondere Affinität der Art brut zum paperwork führte die Referentin auf die Bedeutung des Papiers als Medium der Mitteilung und Kommunikation zurück. Im Schneiden und Kleben – in der Gestaltung von Unikaten v.a. aus Massenkommunikationsmitteln, wie Ingold anmerkte – habe sich eine «performative Autorschaft» derer realisieren lassen, die als Subjekte der Rede stillgestellt waren.

Mit der kleinen Karte und der leeren Seite standen am Nachmittag zwei papierne Phänomene zur Untersuchung. Zuerst wendete sich MARKUS KRAJEWSKI (Basel) den Spiel-, Visiten-, Katalog- und Karteikarten zu, deren Formversprechen er anhand von zwölf Eigenschaften zu ergründen ansetzte. Mobilität, Portabilität, Flexibilität, Modularität, Transitivität, Unscheinbarkeit, Handhabbarkeit, Erneuerungsnotwendigkeit, Austauschbarkeit, Les- und Kombinierbarkeit attestierte er ihnen; ihre Macht gründe v.a. in ihrer Repräsentativität. Die Karte sei stets Stellvertreter (eines symbolischen Wertes, einer Person oder des Wissens), der sich – anschaulich in der Besuchs- oder Visitenkarte, die im 19. Jh. zum «gleichwertigen Pappkamerad» ihres Eigentümers avancierte – zum acteur im Latour’schen Sinn wandeln könne. –– Der leeren Seite spürte anschliessend ANDREAS LANGENBACHER (Bern) nach – nicht jedoch dem weissen Blatt als «Himmel, Hölle, Spiegel und Abgrund im Schreibprozess», sondern der Leerseite im gedruckten Buch. In fünf ‹Lektüren› dieser «dunklen Materie der Literatur» führte er sie vor als Extremfall literarischer Unbestimmtheit in Laurence Sternes Tristram Shandy; als spirituell-didaktische Allegorie für eine fremde, auf Erden unbegreifliche Dimension in Edmond A. Abbotts Flatland; als Fläche, auf der ein einzelnes Wort (nach-)leuchten kann bei Clarice Lispector; als zur Zensur führendes, regimekritisches Gestaltungselement in Wladimir Sorokins Die Schlange und zuletzt als den idealen, deshalb sprachlich nie zu realisierenden Text in László Krasznahorkais Erzählungen Die Welt voran.

Nachdem der Blick somit über die deutschsprachige Literatur, ja über den Sprachraum überhaupt ausgeweitet worden war, stand die Abendveranstaltung im Zeichen des Konkreten und dessen Spuren vor Ort. Im Wechsel aus Lesung und Gespräch begaben sich Irmgard Wirtz und Eugen Gomringer auf einen Parcours durch dessen Werk, berührten die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Formen darin und suchten den Anfang der konkreten Poesie. Eindrücklich war, wie sie ihn im Dialog fanden: Während des Militärdienstes in Bern, erinnerte der Autor, habe ihn sein General zur Erkenntnis geführt, dass ein Schriftsteller seine Pflichten gegenüber dem Dichten nicht vernachlässigen dürfe. Die Frage der Forscherin, ob diese Erkenntnis seine Hinwendung zu einer Poesie initiiert habe, die strengen Formen, Gesetzen und Regeln gehorcht, zu einer gleichsam «kommandierten Poesie» (Wirtz), bejahte der Autor augenblicklich – überrascht von der noch nie so treffend formulierten Wendung für seinen «Ursprung des Konkreten» (Gomringer) in Bern.

Am zweiten Tagungstag wurden Schnitttechniken und Klebeverfahren fallweise untersucht. Mit Exemplaren aus dem Konvolut der Mikrogramme von Robert Walser machte WOLFRAM GRODDECK (Zürich/Basel) den Anfang und demonstrierte die Dynamik des Produzierens, die sorgfältig halbiertes Papier beim Autor auslöste. Darüber hinaus zeigte er graphische und semantische Interferenzen mit dem Material: Walsers Handschrift kommuniziere mit der auf dem Papier befindlichen Schrift und seine Texte auf Makulatur, beispielsweise der Entwurf zur Halbweltlerin auf der Rückseite eines halben Kalenderblattes, spiegelten vielfach Impulse der Vorderseiten. –– MARIE MILLUTAT (Berlin) setzte anschliessend 46 weniger sorgfältig zerschnittene Manuskriptstreifen des Walter Benjamin-Archivs wieder zusammen – mit einem beeindruckenden Ergebnis. Minuziös rekonstruierte sie eine bislang unbekannte Fassung von Benjamins Kafka-Essay. Diese Fassung unterzog sie mitsamt der Zeichensysteme neben dem Lauftext einer erhellenden Analyse und abstrahierte aus ihren Befunden eine Typologie des Trennens, die das Zerschneiden, Einkleben, Entfernen oder Umstellen als klassische Verfahren der Textkonstitution benannte.

Die folgenden vier Vorträge brachten Material aus dem SLA ans Licht. BETTINA MOSCA-RAU (Zürich) präsentierte mit Ludwig Hohl einen Autor, der sein Material aufhängte, vernähte, versengte, zerschnitt und mehr. Seine Verfahren gegen die «Glattheit des Papiers» führte sie einerseits auf das Berufsethos des Schriftstellers zurück, der das Lesen und Schreiben «im Bereich des Handwerklichen» ansiedelte. Andererseits erkannte sie in der Radikalität im Umgang mit Papier und Büchern seinen Protest gegen einen konformistischen Literatur- und Kulturbetrieb, der die schöpferische Tätigkeit niederhielt. –– WALTER MORGENTHALER (Basel) gewährte im Anschluss Einblicke in die laufende Erschliessung des lyrischen Nachlasses von Kuno Raeber. Durch das Dickicht von 901 Gedichten in 4760 Niederschriften auf 6978 Seiten, ein «Eldorado für Editoren», bahnten ihm materiale Ordnungskategorien des Archivs den Weg: mit Notizbuch, Manuskript und Typoskript seien im Gedichtnachlass des Autors konsequent unterschiedliche Werkstufen markiert. Die elektronische Edition wird demnächst online zugänglich sein. –– REGULA BIGLER (Bern) stellte Erica Pedrettis Schrift-Bild-Zyklus Heute. Ein Tagebuch vor: Zeitungsblätter, mit weisser Farbe übertüncht, darüber die Handschrift der Autorin. Diese Papierarbeit mit drei Ebenen differenzierte die Referentin gegenüber der modernen Collage und dem antiken Palimpsest, denn Pedretti schneide und klebe nicht, noch habe sie die Schrift auf dem Material getilgt. Gerade die gleichzeitige Sichtbarkeit der historisch-politischen und der persönlichen Gegenwart sei für dieses Werk entscheidend, das es im Sinne von Maurice Merleau-Ponty dem Leser anheimstelle, das Unvereinbare zusammenzusetzen. –– Den letzten Blick in die Bestände warf STEPHAN KAMMER (München), der einer vielversprechenden Kollation nachgegangen war und unter dem Titel Günter Eich, Unter Wasser, 1959 im Archiv Matthias Zschokke (SLA) eine «eher literaturwissenschaftliche als literarische Appropriation» auftun sollte. Zschokke hat Fotokopien des skurrilen Marionettenspiels von Eich mit Typoskripten collagiert, die andere Werke des Autors zitieren. Er stelle somit auf Papier jenes «poetologische Prinzip der Wiederaufnahme und Wiederholung» her, durch das sich Eichs Œuvre seit den späten 1950er-Jahren organisierte. Ob diese gänzlich allographe Klebemontage nun zum Werk Zschokkes gerechnet werden dürfe, konnte Kammer nur mit Blick auf ihre Rückseite problemlos beantworten: Die verwendeten Blätter gehörten allesamt zum Entstehungs- und Publikationskontext von dessen Debutroman Max.

Vom Schneiden sei nicht zu sprechen ohne das Kleben, bilanzierte als letzte Referentin JULIANE VOGEL (Konstanz): Materiell wie poetologisch sei das Trennen mit Verknüpfungsvorgängen verbunden. Im Spiegel seiner Werbestrategien vollzog sie die Produktgeschichte des (auch für Dada relevanten) Klebstoffs Syndetikon seit 1880 nach und zeigte drei Etappen einer Mentalitätsgeschichte des Klebens auf. Das früheste Narrativ der Fügung und der Wiederherstellung des Zerbrochenen wurde durch die Vorstellung gezielter Festsetzung abgelöst, um in den 1920er-Jahren letztlich in Vorstellungen zu münden, die eine kontingente und transitorische Fixierung betonten. –– Eine eigens auf die Veranstaltung zugeschnittene Performance von Birgit Kempker (Basel) beendete sie stimmungsvoll.

Dass die Reflexion über den «Papierkram» – deutsch für paperwork und Sinnbild des behördlichen Alltags – mit der Tagung im Schweizerischen Literaturarchiv auch «im Herzen der schweizerischen Bundesbürokratie» angekommen war, im Gebäude der Nationalbibliothek nämlich und somit unter einem Dach mit dem Eidgenössischen Department des Innern, hatte Magnus Wieland eingangs angemerkt. Im Lauf der Tagung sollte sich zeigen, dass auch diese Montage überraschende Effekte erzeugt: Denn nicht wenige der literarisch-künstlerischen Papierarbeiten – seien es die Bausteine von Benjamin oder die Journale von Pedretti – erwiesen sich als Akte des Ordnens oder der Dokumentation. Immer wieder stand auch der allfällig mit paperworks assoziierte Zeitaufwand zur Debatte: Be- oder entschleunigt die Arbeit mit Schere und Leim den Schreibprozess? Ist der Papierarbeiter nicht bereits im 20. Jahrhundert ein «medientechnischer Nachzügler» (Wirth), dem andere, teils effizientere Praktiken zu Gebote stehen – und warum? Antworten und Impulse der Tagung erscheinen im Frühjahr 2017 zu Papier. Die Autoren- und Forschungsbeiträge mit Abbildungen versammelt ein Band der Reihe Beide Seiten im Verlag Wallstein/Chronos.

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Anmerkungen
1 Gisi, Lucas Marco; Thüring, Hubert; Wirtz, Irmgard M. (Hg.): Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produk-tiver Negativität in literarischen Schreibprozessen und Textgenesen, Göttingen / Zürich 2011.


Tagungsübersicht:
Donnerstag, 19. November 2015
Irmgard Wirtz, Magnus Wieland (SLA, Bern) - Begrüssung und Einleitung

Uwe Wirth (Giessen) - Greffe materielle: Die kulturtechnischen Wurzeln des Cut and Paste
Juliane Vogel (Konstanz) - Syndetikon: Der Klebstoff und die Avantgarden

Markus Krajewski (Basel) - Spiel. Visite. Wissen. Zur Macht der kleinen Karten
Andreas Langenbacher (Bern) - Das grosse Leuchten: Eine kleine Poetik der leeren Seite

Abendveranstaltung
Eugen Gomringer - «Bern ist mein Ursprung des Konkreten»
Lesung und Gespräch (Moderation: Irmgard M. Wirtz)

Freitag, 20. November 2015
Wolfram Groddeck (Zürich/Basel) - «Halb–Welt» – Zur Rolle der Papiere in Robert Walsers mikrographischem Werk
Marie Millutat (Berlin) - Walter Benjamins Papierbausteine. Rekonstruktion einer frühen Fassung des Kafka-Essays

Bettina Mosca-Rau (Zürich) - Ludwig Hohl gegen die «Glattheit des Papiers»
Walter Morgenthaler (Basel) - Papier fürs Archiv? Zu Kuno Raebers Gedichtnachlass

Regula Bigler (Bern) - «Alles, Schönes und Grausames, gleichzeitig»: Zu Erica Pedrettis Journal Heute. Ein Tagebuch von 2001
Stephan Kammer (München) - «Unter Wasser» schneiden und kleben. Womit/worauf Matthias Zschokke schreibt

Gisela Steinlechner (Wien) - Aus zweiter Hand. Papier- und Buchstabenkreisläufe in der Art brut
Birgit Kempker (Basel) - Schere, Leim, Papier und die Vier

Veranstaltung: 
Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier
Organisiert von: 
Schweizerisches Literaturarchiv
Veranstaltungsdatum: 
19.11.2015 bis 20.11.2015
Ort: 
Bern
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference