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Über den Wert der Fotografie. Wissenschaftliche Kriterien für die Bewahrung von Fotosammlungen

Autor / Autorin des Berichts: 
Daniela Bär



Zitierweise: Bär, Daniela: Über den Wert der Fotografie. Wissenschaftliche Kriterien für die Bewahrung von Fotosammlungen, infoclio.ch Tagungsberichte, 2012. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0017>, Stand:


Am 23. und 24. März 2012 wurde im Grossratssaal in Aarau die Tagung "Über den Wert der Fotografie" durchgeführt, gemeinsam organisiert vom Staatsarchiv Aargau, vom Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel und von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde. Durch die vielzitierte digitale Revolution sehen sich zahlreiche Archive, Museen und Bibliotheken mit einer Vielzahl neuer Fragen und Probleme konfrontiert. Zudem erhalten vermehrt Institutionen Fotografiebestände, die sich bisher nicht primär den visuellen Quellen gewidmet haben, und die auf eine Hilfestellung beim Erarbeiten einer Strategie im Umgang mit Bildbeständen angewiesen sind. Wie aber kann eine solche Strategie aussehen? Es gilt zu entscheiden, welche analogen Fotografien in welcher Form erhalten und wie viele oder welche Fotografien digitalisiert werden sollen, und all diese Entscheidungen sind nicht unabhängig von den finanziellen, personellen und strukturellen Kapazitäten der jeweiligen Institutionen zu treffen. Wie also steht es mit dem Wert der Fotografie? Anhand welcher Kriterien können diese Entscheidungen getroffen werden? Die Tagung hat zum Ziel, unterschiedliche Perspektiven auf den Wert der Fotografie zu beleuchten, den Prozess der Bewertung zu reflektieren und Varianten im Umgang mit konservierungsbedürftigen Fotografiebeständen zu diskutieren. Verschiedene Institutionen und ein vielseitiges Teilnehmerfeld sollen der Heterogenität des Mediums und seinen unterschiedlichen Verwendungszwecken Rechnung tragen.

Nach einer Einführung von ANDREA VOELLMIN und WALTER LEIMGRUBER eröffneten unter der Leitung der Staatsarchivarin Andrea Voellmin die beiden französischen Restauratorinnen ELODIE TEXIER-BOULTE und MARIE BEUTTER die Tagung. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Erhalten von Kulturgütern im Interesse zukünftiger Generationen, ihre primäre Aufmerksamkeit gilt dem Material und nicht dem Inhalt, womit sich die beiden Referentinnen in einer zu anderen Bewertungsstrategien komplementären Position sehen. Für eine systematische Behandlung eines Fotografiebestandes ist eine umfängliche, interdisziplinär verankerte Analyse unumgänglich, eine Analyse, die Texier-Boulte und Beutter als eine Diagnose verstehen, die, analog zur medizinischen Diagnose, auf dem Dialog mit dem Patienten, dem rettungsbedürftigen Bestand, basiert. Eine ganz andere Perspektive auf den Wert der Fotografie bot der Rechtsanwalt ANDREAS RITTER an, der das Urheberrecht in den Fokus rückte mit dem Ziel, das Publikum für die juristischen Aspekte im Umgang mit Fotografiebeständen zu sensibilisieren. Die Problematik bei der Bewertung von Fotografien tritt gemäss Ritter da auf, wo ein urheberrechtlich geschütztes Bild vorliegt. Eine juristisch zulängliche Kassation ist abhängig von der Werkqualität des einzelnen Bildes, wobei die einzelne Fotografie unabhängig vom Aufwand ihrer Entstehung oder ihrer Rezeption in Wirtschaft, Kultur und Forschung zu beurteilen ist.

PETER PFRUNDER von der Fotostiftung Schweiz erläuterte am Beispiel der Kontaktbögen, wie schnell sich die Wahrnehmung der Fotografie in der Gesellschaft ändert: Einstiger Rohstoff wird plötzlich interessant, aus Arbeitsmaterial wird Artefakt. Das Bewusstsein über diese Relativität muss bei der Bewertung von Fotografien präsent sein. Die tägliche Praxis der Fotostiftung bewegt sich zwischen den beiden Polen Vermittlung und Sicherung: Das Erfassen einzelner Bilder geschieht im Zuge einer Publikation oder einer Ausstellung, sodass sich der Umgang mit dem Bestand massgeblich unterscheidet von klassischen Archiven - was nicht gerade für ein Projekt aufgearbeitet wird, liegt im "Schlafmodus", ein Vorgehen, das den Vorteil mit sich bringt, dass auf allfällige Veränderungen im Bewertungsprozess besser eingegangen werden kann. Als nächster Referent trat JEAN-MARC YERSIN, Mitglied des Kompetenznetzwerks Fotografie von Memoriav, vor das Publikum, um die Vielfalt audiovisueller Kulturgüter zu betonen, die wiederum von einer Vielzahl andersartiger Institutionen behandelt werden. Memoriav nimmt dabei die Rolle der unterstützenden, betreuenden Institution ein, indem sie die Finanzierung von Publikationen, Ausstellungen, Inventarisierungen oder Ressourcen übernimmt. Der Fokus bei der Finanzierung liegt auf der Geschichte der Fotografie, wobei die Fotografie als Medium, nicht als Kunst verstanden wird. Den finanziellen Aspekt bedenkend hält Yersin gerade im Bereich der Pressefotografie das Bewerten für legitim, da Pressefotografien selten einzigartig seien.

Am Nachmittag übernahm MARKUS SCHÜRPF, Leiter des Fotobüro Bern, die Moderation und erinnerte an den Morgen, indem er Memoriav als letzte nationale Institution, die das audiovisuelle Kulturgut unterstützt, heraushob. Schürpf begrüsste den deutschen Historiker JENS JÄGER, welcher den Austausch zwischen praktischer Forschung den Archiven lobte, zugleich aber an ein stärkeres Bewusstsein für die diskursive Quelle appellierte, die das Visuelle darstellen kann. Aufgrund der Quellenflut, die dieses Verständnis vom Bild als Quelle mit sich bringt, sei auch der Historiker von einer Selektion der Archive abhängig. Aus dieser Ausgangslage heraus äusserte Jäger zwei Wünsche: Einerseits müssen die Arbeitspraxis und die Selektionskriterien der Archive für den Forschenden nachvollziehbar sein, andererseits ist eine konsistentere und konsequentere Verschlagwortung und das Versehen des Bildes mit so vielen Metadaten wie möglich essentiell für den Forschungserfolg. Gleichzeitig warnte er vor dem falschen Glauben, dass ein grösserer Bestand mehr Wissen mit sich bringt: "Wer mehr isst, wird nicht sätter, sondern fetter." Die französische Kunsthistorikerin DELPHINE DESVEAUX berichtete im Anschluss von ihrer Tätigkeit als Direktorin der Sammlung Roger-Viollet in Paris und betonte dabei vor allem den Unterschied zwischen einem klassischen Archivbestand und einer Sammlung, die als Erbe verstanden werden muss. Die Sammlung Roger-Viollet hat den Auftrag, so viel wie möglich zu erhalten, weshalb keine Fotografien kassiert werden, sondern Desveaux' Arbeit sich auf das Umpacken und das Herstellen einer Ordnung innerhalb des Bestandes konzentriert. Zum Abschluss äusserte sie sich detailliert zu den verschiedenen Finanzierungsquellen der Sammlung und leitete so eine finanzpolitische Diskussion im Anschluss an ihr Referat ein.

OLIVIER LUGON, einziger Lehrstuhlinhaber für Fotografie in der Schweiz, widmete sich dem Verhältnis zwischen ästhetischem und inhaltlichem Wert einer Fotografie. Lugon versteht die Geschichte der Fotografie als Geschichte der Verwischung der Grenzen zwischen den beiden Definitionen, wobei sich diese auch auf institutioneller Ebene zeigt: Während Kunstwerke nach ästhetischen Kriterien fürs Museum geschaffen werden, sind Dokumente, die im Archiv landen, keineswegs für das Archiv gemacht worden. Lugon vertritt den Ansatz, dass Archive ihre kollektive Dichtheit bewahren und die Entscheidungskriterien bei der Bewertung sichtbar machen sollen. Nicht sichtbar sollen diese Selektionsentscheidungen hingegen im Bestand selbst sein: Mit einer globalen, umfassenden Lösung könne die Vollständigkeit eines Bestandes sichergestellt werden. Für das Ringier Bildarchiv formulierte Lugon den Vorschlag, den Bestand um Zeitungen und Publikationen des Verlags zu erweitern, um mit diesem neuen Archivgut und der damit einhergehenden Kontextualisierung den Bildern ihre Lesbarkeit zurückzugeben. Schlusspunkt des offiziellen Tagungsprogramms am Freitag setzte RUDOLF GSCHWIND, Leiter des Imaging and Media Lab, mit seiner These, dass die digitale Revolution im Bereich der Fotografie weitreichende Konsequenzen für die Archive mit sich bringe: Die Fotografie des 20. Jahrhunderts wird gleichgestellt mit der Fotografie des 19. Jahrhunderts, was die Masse des zu konservierenden und bewertenden Materials vervielfacht. Gschwinds Prognose lautet, dass die Nutzung der Fotografie in Zukunft eine Digitalisierung des fotografischen Originals verlange - kann aber das Digitalisat das fotografische Original ersetzen? Gschwind bejaht dies für herkömmliche Negative, anerkennt aber die unersetzliche Materialität eines mit zahlreichen Informationen versehenen Negativs oder aber den nicht zu digitalisierenden Wert älterer Verfahren, beispielsweise einer Daguerreotypie.

Der Samstagmorgen begann unter der Leitung von WALTER LEIMGRUBER mit NORA MATHYS, Initiantin der Tagung und Projektleiterin des Ringier Bildarchivs. Mit ihrem Referat bot sie einen detaillierten Einblick in das im Ringier Bildarchiv praktizierte Bewertungsverfahren und zeigte auf, wie die bereits mehrmals angesprochene Kontextualisierung der Bilder aussehen kann: Durch Interviews mit ehemaligen Betreuern des Archivs, Journalisten und Fotografen, die für das Medienhaus arbeiteten, gelingt es, wichtige Informationen zu früheren Inventarisierungsversuchen im Archiv, zum Arbeitsprozess auf den Redaktionen oder zur Entstehung der Fotografien zu sammeln - das Archiv ist mehr als nur die Summe seiner Bilder. Auch Mathys appelliert an eine engere Zusammenarbeit mit anderen Institutionen - muss jedes Bild in jedem Archiv vorhanden sein? - und wünscht sich ausserdem von den Universitäten mehr Forschung im Bereich der Pressefotografie. Eine ähnliche Strategie im Umgang mit der Bildmenge schlägt die Fotografiehistorikerin und Kuratorin CAROLE SANDRIN vor. Als Vertreterin des Musée de l'Elysée begibt auch sie sich stets auf die Suche nach Ausgewogenheit zwischen Konservation und Nutzbarmachung und vertritt im Sinne Pfrunders die Ansicht, dass die Nutzbarmachung im musealen Kontext einer Form der Bewertung entspricht. Sandrin erläuterte ausserdem den Wert studentischer Beteiligung bei der Aufarbeitung des Bestands von Hans Steiner und bot damit ein konkretes Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Museum und Forschung.

Für den deutschen Autor und Gutachter BERND WEISE setzt sich der Wert der Fotografie zusammen aus der Bildleistung, die bereits umfänglich erforscht ist, und dem Wirtschaftsgut, dessen Bedeutung noch nicht bekannt ist. Mit diesem Fokus öffnet er eine wirtschaftlich-kommerzielle Klammer, indem er darauf hinweist, dass nicht nur aus archiv- und forschungstechnischer, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht zu bewerten sei, und hält in Anlehnung an Mathys fest, dass es nicht die Summe eines Bildbestandes ist, die den ruhenden Bestand ausmacht, sondern vielmehr der Nutzen des geordneten Archivs. Ein Kommentar aus dem Publikum macht im Anschluss an Weises Referat darauf aufmerksam, dass Betreuer von Fotografiebeständen sich in Zukunft mit einer doppelten Entscheidung befassen müssen: Es gilt nicht nur zu entscheiden, was konserviert wird, sondern auch, was digitalisiert wird. Das Abschlussreferat dieser Tagung hielt GILBERT COUTAZ, Direktor der kantonalen Archive Waadt. Er versteht die Fotografie als ein Medium unter vielen anderen, weshalb er gerade bei der Pressefotografie dringend dazu rät, diese nur mit den entsprechenden Zeitungsartikeln aufzubewahren. Coutaz vertritt die Überzeugung, dass Fotografien Teil eines Entstehungsprozesses sind und die einzelne Fotografie erst durch die Zeitung gerechtfertigt wird - mit der Konsequenz, dass die Fotografie alleine nicht evaluiert werden kann. Der Archivar wird so zum Akteur, der den Forscher bei seinen Untersuchungen unterstützen kann, gefordert wird ein pragmatisches, nicht ein ideologisches Vorgehen, womit erneut der Wunsch nach einer engeren Partnerschaft der verschiedenen Berufsständen im Raum steht.

Diesem Wunsch wurde denn auch in der Schlussdiskussion verstärkt Ausdruck verliehen: Die nähere Zusammenarbeit verschiedener Institutionen soll keine einheitliche Lösung zu Tage bringen, sondern einen Raum schaffen, in welchem Varianten diskutiert und die jeweilig eigenen Bewertungsverfahren optimiert werden können. Das nähere Zusammenstehen dient aber nicht nur dem internen Austausch, es ermöglicht weiter das Senden wichtiger Signale in Richtung Politik, wobei von einem Kulturerhaltungsgesetz bis hin zu einem grösseren finanziellen Zugeständnis an den Wert der Fotografie verschiedene Ansätze denkbar sind. Die Tagung markiert erst den Anfang einer Diskussion, die es unbedingt weiterzuführen gilt.

Veranstaltung: 
Über den Wert der Fotografie. Wissenschaftliche Kriterien für die Bewahrung von Fotosammlungen.
Organisiert von: 
Nora Mathys (Ringier Bildarchiv/Staatsarchiv Aargau), Walter Leimgruber (Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie Universität Basel) und Andrea Voellmin (Staatsarchiv Aargau)
Veranstaltungsdatum: 
23.03.2012 bis 24.03.2012
Ort: 
Aarau
Sprache: 
d
Art des Berichts: 
Conference