Verantwortung: Pierre Eichenberger / Janick Marina Schaufelbühl
Referierende: Benjamin Waterhouse/ Paul Turberg / Grace Ballor
Kommentar: Neil Rollings
Im Zuge immer intensiverer internationaler Wirtschaftsbeziehungen wurden auch die Interessen und die Interessenverbände der Unternehmen globaler. Alte, meist an eine beschränkte geografische Einheit gebundene Interessenverbände wie etwa die Zürcher Handelskammer wurden dabei zwar nicht bedeutungslos, erhielten aber zunehmend Konkurrenz von transnationalen Interessenverbänden, die im Laufe des 20. Jahrhunderts grosse Bedeutung im globalen Machtverhältnis erlangten. Diesen transnationalen Unternehmensnetzwerken widmete sich ein Doppelpanel der 5. Schweizerischen Geschichtstage, wobei nachfolgend der erste Teil thematisiert wird.
BENJAMIN WATERHOUSE (Chapel Hill, North Carolina) thematisierte in seinem Referat die US-Amerikanische Lobbying-Organisation Business Round Table. Gegründet wurde der Business Round Table 1973 von einer Gruppe vor allem aus industriellen Firmen stammenden CEOs, mit dem Ziel der Wiederbelebung der Hegemonie der Industrie innerhalb der Geschäftswelt in den USA. Darin scheiterten die amerikanischen Industriellen aber, ist doch heute eindeutig die Finanzbranche führend. Diesem Scheitern ging Waterhouse in seinem Referat nach. Das Hauptproblem der Vertreter des Business Round Table sieht der Referent in einem Beharren der Industriellen auf veralteten Argumentationsstrukturen, die sich in den 1960er Jahren etabliert hatten. Die Probleme der amerikanischen Industrie wären diesen zufolge durch weniger staatliche Regulierungen, weniger Arbeiterrechte und die Zerschlagung von Gewerkschaften zu lösen, was schliesslich zu einer «industriellen Renaissance» führe. Diese antietatistische Rhetorik beschränkte sich jedoch auf innere Angelegenheiten der USA, wobei internationale Fragen weitgehend unangetastet blieben, sodass der Business Round Table in einem «intellektuellen Container» verharrte. Als schliesslich gegen Ende der 1970er Jahre die internationale Konkurrenz vermehrt auf den amerikanischen Markt trat, konnten sich die Industriellen ihre ideologische Position der von jeglichen Regulierungen befreiten Märkte nicht länger leisten. Die internationale Konkurrenz hatte die amerikanische Industrie an diesem Punkt eingeholt. Die jetzt einsetzenden Rufe nach mehr Regulierungen von Vertretern des Business Round Table wirkten nun unglaubwürdig und dieses intellektuelle Dilemma schwächte die Position des Round Tables nachhaltig.
Im zweiten Referat beschäftigte sich PAUL TURBERG (Lausanne) mit den Strategien der Pharmaindustrie zur Wahrung ihrer Interessen ab den 1960er Jahren. An den Anfang seiner Argumentation stellt Turberg ein Zitat aus dem Jahr 1965 von Etienne Junod, Generaldirektor von Hoffmann-La Roche, in dem dieser die Situation der Pharmaindustrie als «Krieg» bezeichnete. Grund für diese drastische Wortwahl waren zum einen die Bestrebungen diverser Staaten, die Medikamentenpreise zu senken. Dazu strebten die Staaten, inspiriert von im US-Kongress vorgeschlagenen Massnahmen, tiefere Patent- und Markenrechte an, um schliesslich die Gesundheitskosten zu verringern. Zum andern gab es Bestrebungen der World Health Organisation (WHO), die Infrastruktur in Entwicklungsländern mittels eines Zentrums zur Überprüfung von Medikamenten zu verbessern. Diese beiden Bestrebungen überraschten die Pharmaindustrie komplett, obwohl sie beide Teil längerfristiger Entwicklung waren. Das Bedürfnis, sich international zu organisieren und kollektiv zu handeln, wurde nun evident. Dies erwies sich jedoch in der sehr heterogenen Pharmaindustrie als äusserst schwierig, widersprachen sich die Interessen der einzelnen Firmen doch teilweise grundsätzlich. Dennoch gelang 1968 die Gründung der International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations (IFPMA), die die Pharmaindustrie in den Gremien der WHO vertritt. Weiter kam es zur Gründung der INTERPAT, die die Interessen einzelner Pharmamultis, insbesondere der Schutz ihrer Patente, in Entwicklungsländern wahrnehmen sollte. Diese beiden Gründungen deutete Turberg als Teil einer kollektiven Strategie der internationalen Pharmaindustrie, um den eingangs erwähnten Herausforderungen zu begegnen.
Das dritte Referat von GRACE BALLOR (Florenz) behandelte die Einflussnahme der europäischen Autoindustrie in der Europäischen Kommission (EK) während der Schaffung des Binnenmarktes zwischen Ende der 1960er bis in die späten 1990er Jahre. Die Gründung des Lobbyingverbands der europäischen Autoindustrie Comité des Constructeurs du Marché Commun (CCMC) 1972 erfolgte besonders aus einem gemeinsamen Interesse an einheitlichen Standards. Ein Auto in Italien sollte die gleichen Anforderungen erfüllen wie ein Auto in Schweden. Ende der 1970er Jahre änderte sich die Marktsituation für die europäische Autoindustrie mit der vermehrten Konkurrenz, vor allem jener aus Japan. In dieser Zeit wurden die USA und die EU zu Nettoimporteuren von Autos. Das Lobbying des CCMC erzielte 1989 Importquoten auf japanische Autos. Diese Quoten blieben auch nach der Fertigstellung des europäischen Binnenmarkts 1993 aufrecht und hielten sich bis 1996, obwohl Importquoten von der EK nicht vorgesehen waren. Ballor zitierte hier Jacques Delors, Präsident der EK zwischen 1985 und 1995, der auf einer Japan-Reise 1991 sagte, dass die europäische Autoindustrie Zeit benötige, um auf einem unregulierten Markt mithalten zu können. Ballor verwies abschliessend darauf, dass die Einflussnahme der Autorindustrie Ende der 1980er Jahre weitaus erfolgreicher war als noch 20 Jahre zuvor. Sie erklärte diesen Unterschied mit der spezifischeren Herangehensweise der CCMC und der näheren Anbindung an die EK.
Anschliessend kommentierte NEIL ROLLINGS (Glasgow) die Beiträge, wobei er den Referierenden eine vertiefte Kontextualisierung ihrer Forschung vorschlug: So relativiere sich etwa die pessimistische Sichtweise des Business Round Table mit Blick auf ähnliche Organisationen in Grossbritannien. Als Antwort auf Etienne Junods Zitat in Turbergs Vortrag verweis er auf eine grundsätzlich gefühlte Prekarität der Geschäftswelt. Auf Ballors Beitrag eingehend, betonte er die generellen Spannungen zwischen „allgemeinen“ Handelskammern und sektoralen Unternehmerverbänden. Handelskammern seien eher für eine Liberalisierung des Marktes, während sektorale Verbände in der Regel Regulierungen des Marktes zum Schutz ihres Sektors befürworteten. Rollings verweis im Weiteren darauf, dass transnationale Interessenverbände stets damit beschäftigt sind, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Das Panel profitierte auch von Rollings weiteren anregenden Diskussionsbeiträgen: So sei die gänzlich funktionalistische Perspektive auf die erwähnten Verbände irreführend, da diese schliesslich auch von der Handlungsmacht einzelner Personen abhängen. Zudem verwies er abschliessen darauf, dass solche Verbände stets Teil eines übergeordneten Systems sind. In der anschliessenden, angeregten Diskussion kamen diverse Aspekte der Referate zur Sprache, wobei etwa auf die Absenz des Faktors Arbeit, das heisst die Rolle der Gewerkschaften hingewiesen wurde.
Panelübersicht:
Waterhouse, Benjamin: Capital’s Lobbyists: The Business Roundtable and U.S. Manufacturing in the Global 1970s
Turberg, Paul: Lobbying International Health: the International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations (1966-1971).
Ballor, Grace: Business Elites and the European Single Market
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen.