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Panelbericht: Von Bäumen, Tafeln und Dokumenten: Natur und Natürlichkeit in Verwandtschaftsdarstellungen

Autor / Autorin des Berichts: 
Saadet Tuerkmen
saaturkmen@gmail.com


Citation: Tuerkmen Saadet: « Panelbericht: Von Bäumen, Tafeln und Dokumenten: Natur und Natürlichkeit in Verwandtschaftsdarstellungen », infoclio.ch comptes rendus, 15.08.2022. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0283>, consulté le 22.11.2024.

Verantwortung: Stéphanie Prieto / Julian Miguez
Referierende: Stéphanie Prieto / Julian Miguez / Laura Stocker
Kommentar: Sabine Stettler

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Verwandtschaft, Abstammung und Genealogien würden zwar mit dem Mittelalter in Verbindung ge­bracht, hätten aber einen hohen Aktualitätsbezug, eröffnete STÉPHANIE PRIETO (Zürich) das Pa­nel. Soziale und biologische Verwandtschaften würden vermarktet, kapitalisiert und je nach Kontext un­terschiedlich verwendet. JULIAN MIGUEZ (Zürich), der ebenfalls an der Organisation des Panels be­teiligt war, stellte die Fragen, weshalb sich schriftliche und bildliche Darstellung von Genealogien häufig an Baumstrukturen orientieren und wie andere Kulturen Genealogien konstruiert haben. In drei Vorträgen wurden solche «Bäume, Tafeln und Dokumente» behandelt.
 
Stéphanie Prieto beleuchtete im ersten Beitrag, wie frühmittelalterliche und reformatorische Theo­logen und Rechtsgelehrte Baumdiagramme verwendeten und welche Rolle die arbores-Terminolo­gie dabei spielte. Sie zeigte anhand von Illustrationen, wie die Darstellung der arbores als naturalisierte Bäume im Spätmittelalter dominierte, während solche Bäume und Baumdiagramme in den protes­tantischen Schriften abrupt verschwanden. Baumdiagramme hätten seit dem Mittelalter die Funk­tion gehabt, Verwandtschaftsbeziehungen zu quantifizieren, zu systematisieren und in Graden zu messen, und so auch bei der Auslegung von verbotenen Verwandtschaftsbeziehungen geholfen. Ab dem 15. Jahrhundert sei jedoch zwischen tatsächlichen Bäumen – im botanischen Sinne – und Ver­wandtschaften eine Verbindung hergestellt worden. Verwandtschaft sei als ein dynamisch wachsen­der Organismus fassbar gemacht worden, der sich aus den Wurzeln der Urahnen speise und dessen Stammlinie mit jeder Generation in die Höhe wachse. Dadurch sei der naturalisierte Baum zu einem sozialen Werkzeug avanciert. Verwandtschaftsdarstellungen wurden genutzt, um z.B. Ämter und Pri­vilegien zu erlangen und Dynastien zu festigen, wie Prieto darlegte.

Im Weiteren schilderte die Referentin, wie die bildliche Darstellung des Baums mit der Reformation radikal zurückgewiesen wurde. Die arbores-Diagramme seien aus den Ehe- und Inzestschriften der frühen Reformatoren verschwunden und durch eine arbores-Terminologie, d.h. durch Analogien und Metaphern des Baums, ersetzt worden. Anhand von Texten dreier frühreformatorischer Schriftge­lehrter legte Prieto dar, wie dies geschah: In Martin Luthers Glaubensverständnis sei die natürliche Abfolge vom Baum zur Frucht ein zentrales Element, während sie bei Erasmus Sarcerius zum Symbol für Fruchtbarkeit, Fortpflanzung und zur Erklärung der Ehe als natürlichste Form protestantischen Zusammenlebens von Mann und Frau werde. Philipp Melanchthon habe die arbores-Terminologie, etwa Begriffe wie «Ast» und «Stamm», verwendet, auf Verwandtschaftsdiagramme jedoch ver­zich­tet. Prieto argumentierte, sowohl die naturalisierten Baumdiagramme des Spätmittelalters wie auch der sprachlich beschriebene Baum der Protestanten seien komplexreduzierend gewesen und beleg­ten als Praxis der Verwandtschaftssystematisierung eine beträchtliche Beständigkeit christ­lich-eu­ropäischer Wissensformierung. Sie schlussfolgerte, der Baum sei als analoges Konzept für Ver­wandtschaft über die Kirchenspaltung hinweg kontinuitätsstiftend gewesen.
 
Julian Miguez thematisierte anschliessend verschiedene genealogische Analysetechniken und ihre historischen Bezüge. Klassifizierungen, Kategorisierungen und Ahnenforschung seien mit unter­schiedlichen Konzepten des Körpers verbunden und hätten heute wie gestern unterschiedliche Funktionen. Dies verdeutlichte er anhand der seit dem Spätmittelalter verbreiteten Humoraltheorie, nach der die Zusammensetzung der Körpersäfte die Physiognomie, die Gesundheit und die Charak­tereigenschaften eines Menschen bestimmen. Diese Merkmale gelten nicht als primär biologisch und damit fest, sondern würden auch durch Klima, Sterne, Nahrung und andere Umweltfaktoren be­einflusst und seien für den menschlichen Körper sowohl in biologischer wie auch sozialer Hinsicht verantwortlich.

Um die unterschiedlichen Ziele genealogischer Konstruktionen zu veranschaulichen, zog Miguez ei­nen Vergleich zwischen den Ahnenproben aus dem frühneuzeitlichen Spanien und dem kolonialen His­panoamerika: Im frühneuzeitlichen Spanien seien Blutreinheitsproben im Herkunftsort der Per­son durchgeführt worden, wobei die Erzählungen der Anwohnerinnen und Anwohner über die Vor­fahren, die Reputation und den Habitus der jeweiligen Person wichtigster Bestandteil der Untersu­chung war. Auf diese Weise seien die religiöse Abstammung offenbart und infolgedessen verschie­dene sozioökonomische und politische Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung legitimiert worden. Im kolonialen Hispanoame­rika seien ab dem 16. Jahrhundert Abstammungsklassifizierungen zwar mit denselben Methoden durchgeführt worden, im Vordergrund habe aber nicht mehr die Bestäti­gung der «christlicher Reinheit» ge­standen. Die über Ahnenproben erzielte Kategorisierung inner­halb der komplizierten kolonialen Ge­sellschaften hätten andere Ziele und Funktion gehabt, z.B. die Festlegung ihrer juristischen und fis­kalischen Behandlung. Mit vielfältigen Beispielen machte Miguez deutlich, wie Abstammungsproben an die kolonialen Umstände angepasst wurden, um Rechte, Pflichte, Zwänge sowie Verbote legiti­mieren zu können. Abschliessend bemerkte er, die gegenwär­tige Kategorisierung von Menschen mit vermeintlich fixen, biologisch-äusserlichen oder inneren ge­netischen Merkmalen hätte im frühneu­zeitlichen Hispanoamerika keinen Sinn ergeben. Während im ersten Fall von stabilen Entitäten aus­gegangen würde, sei die Natur des Körpers aus frühneuzeitli­cher spanischer Perspektive in konstan­ter Veränderung.

LAURA STOCKER (Neuchâtel) thematisierte Entstehungsprozesse von Nationalstaaten zwischen 1850 und 1950 und die Folgen dieser Entwicklung für das verwandtschaftliche und lokalpolitische Alltagsleben der nomadischen Beduinengruppen im «Nahen Osten». Trockenheit, instabile ökologi­sche und wirtschaftliche Bedingungen sowie Machtverhältnisse führten zu einer flexiblen Lebens­weise der Beduininnen und Beduinen. Diese Lebensweise erfordere ständige physische Mobilität, um ungleich verteilte Ressourcen, z.B. Wasser und Weidegebiete, zu erreichen. Stocker legte mit­hilfe von Quellenhinweisen dar, wie Trockengebiete im 19. Jahrhundert rund um den Globus zu einem bevorzugten Schauplatz für die sozioökonomische und kulturelle Neuerfindung der imperialen und kolonialen Herrschaft wurden. Neue Landnutzungssysteme und Bemühungen, nomadische Gruppen anzusiedeln und sie in die wachsenden imperialen Bürokratien zu integrieren, hätten sich durchge­setzt. Dabei dienten hochgradig fluide und hybride soziale Strukturen und verwandtschaftliche Bin­dungen als wichtigster Bezugspunkt und stellten dabei auch einen stabilisierenden Faktor dar. Die Expansion moderner Staaten in die Wüsten- und Steppenregionen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts habe zu einer Reihe radikaler Veränderungen im politischen, sozialen und wirt­schaftlichen Leben der nomadischen Beduinengruppen im «Nahen Osten» geführt. Ihr Lebensraum gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zum Osmanischen Reich und stand anschliessend bis zum Zweiten Weltkrieg unter der Kolonialherrschaft von England und Frankreich. In dieser Zeit seien familiäre- und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Beduininnen und Beduinen neu ausgehandelt wor­den, was wiederum eine Herausforderung in den Staatsbildungsprozessen dargestellt habe.

Vor diesem Hintergrund erläuterte Stocker, wie Stammbäume nach dem 19. Jahrhundert konstru­iert wurden, um die Beduinengruppen zu beschreiben, mit ihnen zu verhandeln und sie in die koloni­ale Verwaltung einzubinden. Dabei zeigte sich, wie soziale Wirklichkeiten durch die neue, erstmals schriftliche Technik der Genealogie erzeugt und von der kolonialen Verwaltung und den Beduinen­gruppen selbst unterschiedlich wahrgenommen und gehandhabt wurden.

Schliesslich reflektierte Stocker die gängige Forschungspraxis: Da es bei den Beduinengruppen keine Tradition der schriftlichen Dokumentation gibt, sei in der Forschung wenig über die äusserst komplizierten soziopolitischen Wandlungsprozesse und ihren Einfluss auf diese Gesellschaften be­kannt. Stocker zufolge hatten diese Prozesse erhebliche Auswirkungen auf die Identitäten dieser Gesellschaften und die Verwandtschaftsbeziehungen. Bis zum 19. Jahrhundert habe es kaum Gene­alogien in Form von linearen und hierarchisierten Bäumen gegeben, die für diese Region unge­wöhn­lichen Baumdarstellungen seien erst später entstanden. Die Referentin schlussfolgerte, dies sei auf­grund der Familienstrukturen und einer unkritischen Adaptation an den westlichen Kontext nicht unproblematisch.
 
Aufgrund von Sabine Stettlers Abwesenheit las Miguez abschliessend ihren Kommentar vor. Gene­tisch betrachtet könne man sagen, die «Natur» der Menschen habe sich nicht verändert, aber «Ge­netik» sei nur eine Form von «Natur». Was uns als Menschen ausmacht, könne sehr verschieden und sehr wandelbar sein. «Natur» sei als Ausdruck kultureller Aushandlungsprozessen und infolge der Etablierung neuer Ordnungen entstanden. Stammbäume wären daher eine Möglichkeit, durch Natu­ralisierung kultureller Verhältnisse ein Naturkonzept zu entwerfen.
 
Die Vorträge aus drei verschiedenen Zeiten und komplexen soziopolitischen Kontexten stellten Ver­wandtschaft als zentrale Organisation der Gesellschaft vor, die Natur und Kultur verbindet. Mit drei unterschiedlichen Präsentationen wurde die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise gelenkt, in der Verwandtschaftsbildung unter anderem als Mechanismus sozialer Öffnung und Schliessung sowie als Sanktion und als legitimierende Instanz fungiert(en). Aus dem Panel geht hervor, dass interdis­ziplinäre und kritische Perspektiven, aber auch reflexive Ansätze von grosser Bedeutung für die Ver­tiefung des Themas sind. Dabei ist die Verwendung von selbstverständlich geltenden historischen Konzepten, Begriffen und Argumentationen kritisch zu hinterfragen.



Panelübersicht:

Stéphanie Prieto: Von Bäumen sprechen – Naturalisierungen in den protestantischen arbores des 16. Jahrhunderts

Julian Miguez: «Reine» Spanier/innen, «altchristliche» Mestizos/as und «unbefleckte» Negros/as: Natur und Natürlichkeit von Abstammungsproben im spanischen Kolonialreich

Julia Stocker: Trees or Rhizomes? Tribal and Kinship Identities and Relations among Bedouin Groups in the Modern Middle East


Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.

Evènement: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organisé par: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Date de l'événement: 
29.06.2022
Lieu: 
Genf
Langue: 
d
Report type: 
Conference