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Panelbericht: Die «natürliche» Liebe. Elitevorstellungen und lokale Praktiken (1700 – 1850)

Autor / Autorin des Berichts: 
Andrey Burnashev
andrey.burnashev@stud.uni-bamberg.de
Universität Bamberg

Citation: Burnashev Andrey: « Panelbericht: Die «natürliche» Liebe. Elitevorstellungen und lokale Praktiken (1700 – 1850) », infoclio.ch comptes rendus, 20.09.2022. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0289>, consulté le 22.11.2024.

Verantwortung: Arno Haldemann / Loraine Chappuis
Referierende: Aline Johner / Loraine Chappuis / Sandro Guzzi-Heeb
Kommentar: Margareth Lanzinger

PDF-Version des Berichts

ARNO HALDEMANN (Basel) verortete das Panel in seiner Einleitung in der Sattelzeit, einer Epoche zahlreicher Umwälzungen. Die politischen Auseinandersetzungen zwi­schen dem aufstrebenden Bür­gertum und der Aristokratie spiegelten sich auch in der Frage nach der «Natur» der Liebe wider. In bildungsbürgerlichen Texten wurden die Gefühle und die sexuellen Praktiken der ländlichen Bevöl­kerung oft als besonders natürlich idealisiert. Zugleich wurde die «na­türliche Liebe» von progressi­ven Kräften auch als Argument der gesellschaftlichen Emanzipa­tion aufgeführt. Haldemann führte aus, dass zwischen 1700 und Mitte des 19. Jahrhunderts verschie­dene, sich auch verändernde Vor­stellungen sowohl von der «Natürlichkeit» als auch von «Liebe» vor­herrschten. Die vielfältigen Vor­stellungen wurden in den drei Beiträgen des Panels deutlich. Die Referierenden gin­gen dabei auch der Frage nach, in welcher Beziehung diese Konzeptionen mit den tatsächlichen po­pulä­ren Bezie­hungspraktiken standen.
 
Im ersten Beitrag stellte ALINE JOHNER (Lausanne) die Kernpunkte ihres Dissertationsprojekts vor, in dem sie die Zusammenhänge zwischen Sexualität und politischem Milieu untersuchte. Ihr Fokus lag auf der Sattelzeit, die durch Umbrüche und Veränderungen gekennzeichnet ist. Vielschichtig verändert hät­ten sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch die sogenannten «relations naturelles», d.h. die sexu­ellen Beziehungen ausserhalb der Ehe. Während bisherige Forschungsansätze diesbezüglich entwe­der den im Säkularisierungsprozess schwindenden Einfluss der Kirche auf die Sexualität be­tonten oder in einer foucaultschen Perspektive die Machtausübung des Bürgertums hinsichtlich der mora­lischen Vorstellungen und sexuellen Praktiken anderer sozialer Schichten untersuchten, brachte Johner einen weiteren Interpretationsansatz ein: die Selbstkontrolle. Anhand ihrer Untersu­chungen des Kantons Waadt zwischen 1750 und 1850 zeigte sie, dass Paare, die vor der Ehe sexuelle Enthalt­samkeit übten, die Zahl ihrer Kinder auch nach der Heirat tendenziell begrenzten. Weder ausserehe­liche Kinder noch die voreheliche Empfängnis seien in der untersuchten Zeitspanne  aussergewöhn­lich gewesen: In Payerne etwa seien 43 Prozent der Frauen noch vor ihrer Heirat schwanger gewor­den. Mit der Geburtenbeschränkung sei die Hoff­nung des sozialen Aufstiegs verbunden gewesen. Insbesondere für das liberal-protestanti­sche Milieu sei die Kontrolle über die «relations naturelles» eine Möglichkeit der sozialen Distinktion gewesen. 
 
LORAINE CHAPPUIS (Genf) thematisierte anschliessend die Vorstellungen von Liebe, Sexualität und der «weiblichen Natur» im 17. und 18. Jahrhundert. Im Ancien Régime waren sexuelle Beziehungen nur im Rahmen der Ehe legitim, die allerdings nicht vorrangig auf der gegenseitigen Liebe der Ehe­leute beruhte. Die Sexualität der Frau sei primär als Pflicht verstanden und nicht mit Hingabe in Ver­bindung gebracht worden, erläuterte die Referentin. Weiter betonte sie, dass Leidenschaft gesell­schaftlich verurteilt worden sei. 

Das Ideal der «Liebesheirat» geht auf die bourgeoisen Eliten im 18. Jahrhundert zurück, bevor sie sich im 19. Jahrhundert sozial ausbreitete, wie Chappuis weiter ausführte. Dass Gefühle innerhalb von Beziehungen auftraten, sei allerdings nicht neu gewesen, wohl aber, dass sie als Wert hinsicht­lich der Ehe verstanden wurden. Chappuis untersuchte Prozesse zur sogenannten paillardise, d.h. recht­liche Verfahren aufgrund von ausserehelichen Schwangerschaften in Genf zwischen 1670 und 1794. Hier­bei seien die Frauen gezwungen gewesen, glaubhaft darzulegen, dass die Initiative für die Be­ziehung nicht von ihnen ausging. In den Rechtsquellen würden primär das Heiratsversprechen – das aller­dings nach Eintreten der Schwangerschaft gebrochen wurde – oder die männliche Gewalt als Recht­fertigung für das vorgeworfene sexuelle Fehlverhalten auftauchen. Gegen Ende des 18. Jahr­hunderts seien diese beiden etablierten Begründungen allerdings durch eine weitere ergänzt wor­den: Immer häufiger sei in den Quellen auch von Gefühlen die Rede. Der Ausdruck von Liebesge­fühlen sei also nicht nur im Bürgertum zu beobachten, sondern auch bei Männern und Frauen ande­rer sozi­aler Schichten, die eine Heirat zumindest beabsichtigten.
 
SANDRO GUZZI-HEEB (Lausanne) beschäftigte sich im dritten Beitrag mit Vorstellungen über die «Natur» der Gefühle und des sexuellen Verlangens. Der Verweis auf die Natürlichkeit in Diskussionen um die sexuelle Orientierung sei heute ein politisches Statement. Konzeptionen der Liebe und des sexuellen Verlangens in der Natur zu verankern, sei aber tatsächlich spätestens seit dem Mittelalter politisiert worden. Guzzi-Heeb verglich anschliessend solche historischen Konzeptionen mit den konkreten Sexualpraktiken in Westschweizer Gemeinden im 18. Jahrhundert, um die Grenzen der Legitimität hinsichtlich einer akzeptierten Sexualität auszuloten. Ab dem Mittelalter hätten morali­sche Kategorien als Regelwerke der Sexualität gedient, so sei etwa die Abtreibung als «Sünde gegen die Natur» gewertet worden. Thomas von Aquins Vorstellung folgend, so der Referent weiter, werde die Natur verletzt und Gott dadurch beleidigt. Insbesondere die Katholische Kirche orientierte sich weiterhin an der Natur als Schöpfung: Während die Ehe als natürlich galt, sei die Enthaltung als gött­lich beschrieben worden, hielt Guzzi-Heeb pointiert fest. Im Gegensatz dazu habe Martin Luther die Sexualität als Gottes Werk angesehen. Die Diskurse der Intellektuellen und Geistlichen hätten Aus­wirkungen auf die Sexual- und Beziehungspraktiken gehabt.

Erst im 18. Jahrhundert habe eine Reinterpretation der Natur stattgefunden, was der Referent an­hand von Albrecht von Hallers Idee einer natürlichen Liebe im Gedicht «Die Alpen» verdeutlichte. Dieser Vorstellung folgte auch Denis Diderot: Was natürlich ist, kann nicht falsch sein. Guzzi-Heeb ging anschliessend auf die verschiedenen Milieus ein, die im 18. Jahr­hundert aufkamen. Das Spekt­rum reichte von sexuell tolerant bis zu diszipliniert. Der Referent kam zum Schluss, dass die Spann­breite der verschiedenen Auslegungen Spielraum für sexuelle Praktiken eröffnete, die allerdings nicht mit einer wie auch immer verstandenen «Natürlichkeit» zu­sammen­hingen, sondern immer in einen spezifischen sozialen und kulturellen Rahmen eingebettet waren. 
 
Abschliessend ergänzte MARGARETH LANZINGER (Wien) mit einem Kommentar das Panel. Sie ging auf die «stumme Sünde» ein, wie verschiedene «widernatürliche» Sexualpraktiken im Mittelalter zusammenfassend genannt wurden. Aufgrund der Tabuisierung sei es allerdings schwierig, den Dis­kurs zu fassen. Eine grössere Bandbreite sexueller Praktiken lasse sich erst in der Reformation aus­machen, wobei die Protestantinnen und Protestanten offener gewesen seien als das katholische Mi­lieu. Ein Gegenmodell dazu sei der Topos der «freien Insulaner» gewesen, die ohne gesellschaftliche Grenzen hätten leben können, wohingegen in Europa die «Kanalisierung durch die Ehe» als Garant für gesellschaftliche Ordnung gegolten habe. Ein Paradigmenwechsel sei allerdings beim Naturge­danken festzustellen.
 
Das Themenspektrum des Panels war genauso heterogen wie die Antworten auf die offenen Fragen. Wohl kein anderer Bereich im Leben der Menschen wurde so stark von Religion oder Moralvorstel­lungen dominiert, wie die Sexualität, mit der auch Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle der Frau einhergingen. Die Referierenden haben auf diese komplexen und vor allem auch kontrovers disku­tierten Fragestellungen je eine eigene Sichtweise entwickelt – für eine Zeit, die für gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklung Europas massgebend war.



Panelübersicht:

Aline Johner : La domestication de la sexualité « naturelle » comme expression d’une identité reli­gieuse et politique dans le canton de Vaud durant le « Sattelzeit »

Loraine Chappuis : Amour, sexualité et « nature » féminine dans les discours des femmes accusées de « paillardise » (Genève, 1670 – 1794)

Sandro Guzzi-Heeb : La nature des désirs. Théories et pratiques locales de la sexualité légitime au XVIIIe siècle



Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.

Evènement: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organisé par: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Date de l'événement: 
30.06.2022
Lieu: 
Genf
Langue: 
d
Report type: 
Conference