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Die Agrarfrage in der Globalisierung. Perspektiven im Lichte der neueren Agrargeschichte

Autor / Autorin des Berichts: 
Sara Müller
sara.mueller@access.uzh.ch
Universität Zürich

Citation: Müller Sara: « Die Agrarfrage in der Globalisierung. Perspektiven im Lichte der neueren Agrargeschichte », infoclio.ch comptes rendus, 14.12.2022. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0294>, consulté le 21.11.2024.

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Das Archiv für Agrargeschichte (AfA) nahm sein zwanzigjähriges Bestehen zum Anlass, nicht nur zu feiern, sondern auch über Inhalte zu diskutieren. Den Abschluss der Jubiläumsveranstaltungen bil­dete der Workshop «Die Agrarfrage in der Globalisierung», der ein Thema aufnahm, das bislang nicht in der gewünschten Systematik untersucht wurde, jedoch von zunehmender Relevanz ist. Die neu eröffneten Perspektiven aus Agrar- und Kolonialgeschichte spannten einen Bogen vom ausge­hen­den 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei verband die Beiträge ein Interesse an der Glo­bali­sierung von Waren und Wissen sowie die Auseinandersetzung mit agrarhistorischen Methoden und Zugängen.
 
JURI AUDERSET (Bern) und PETER MOSER (Bern) erweiterten im Eröffnungsvortrag gewinnbringend ihr Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft1 um dasjenige der commodity frontiers2, wobei hier mit diesem Begriff die Prozesse und Orte der Einbindung von Ressourcen in eine expan­dierende kapitalistische Weltwirtschaft gemeint sind. Das von den beiden Referenten in langjähriger produktiver Zusammenarbeit entwickelte Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft fokussiert die unterschiedliche Ressourcengrundlage der industriellen Produktion (mineralische Res­sourcen aus der Lithosphäre) und der landwirtschaftlichen Produktion (biotische Ressourcen, die reproduziert werden müssen). Charakteristisch für die transnational verflochtene agra­risch-in­dustrielle Wissensgesellschaft war gemäss Peter Moser die Bereitschaft, aus dem Scheitern der im 19. Jahrhundert populären umfassenden Modellierungen der Landwirtschaft nach industrieller Logik zu ler­nen und Modernisierungsversuche vorzunehmen, die Rücksicht auf die Eigenheiten einer Pro­duktion auf Basis biotischer Ressourcen nahmen. So seien arbeitende Tiere, bäuerliche Winterschu­len und mitarbeitende Familienmitglieder nicht etwa als Relikte, sondern vielmehr als Akteure der Moderni­sierung der Agrargesellschaft in der Industrialisierung und Globalisierung zu sehen. Als Aus­blick skiz­zierte Juri Auderset die Konturen eines Konzepts der frontiers agrarisch-industriellen Wis­sens. Durch die Beachtung der raum-zeitlichen Dynamik frage das Konzept danach, wie sich Globa­lisie­rungsprozesse durch die Gebundenheit der Landwirtschaft an den Boden in lokalen Lebens- und Ar­beitswelten materialisierten. Es eigne sich zur Thematisierung von Prozessen konfliktreicher Res­sourcenerschliessung und von asymmetrischen Machtverhältnissen. Und nicht zuletzt gehe es da­rum, wissenshistorische Prozesse in globalhistorischer Erweiterung zu denken und «Kontaktzonen» agrarisch-industriellen Wissens in den Blick zu nehmen.

JUSTUS HILLEBRAND (Maine) lotete am Beispiel der Viehfütterung im Deutschen Reich und in des­sen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent aus, wie sich die agrarisch-industrielle Wissensge­sellschaft global ausbreiten konnte. Der Funktionsweise dieses Prozesses spürte Hillebrand in drei Schritten nach. Zunächst umriss er die Bewegung von agrarischem Wissen durch vier zentrale Ak­teursgruppen: Agrarwissenschaftler, innovationsnahe Landwirte, Akteure des Agrarmarktes und in­novationsferne Landwirte. Ein zweiter relevanter Faktor war gemäss Hillebrand die Überschreitung der energetischen und lithosphärischen Grenzen der eigenen Landwirtschaft, die nach der Extrak­tion von Energie aus (kolonialen) frontiers verlangte. Diese Energie aus den frontiers benötige drit­tens wiederum Wissen. So sei der erprobte Prozess der Wissensbewegung auf den kolonialen Kon­text erweitert, jedoch nicht reflektiert worden. Die fehlende Anerkennung lokaler, indigener Wissen­spraktiken habe zu einer Aneinanderreihung von zum Scheitern verurteilten techno-fixes geführt. Zum Abschluss stellte Hillebrand die These zur Diskussion, dass aufgrund der Konkurrenzsituation keine der Akteursgruppen ihre reaktionäre Wissensglobalisierung infrage zu stellen vermochte.

Der Dialog zwischen den beiden Forschungsbereichen enthalte das Potenzial zu einer «Entexoti­sie­rung» der Kolonialgeschichte und einer Globalisierung der europäischen Agrarge­schichte, so CHRISTOF DEJUNG (Bern), der gleich auch einige Denkanstösse für dieses verheis­sungsvolle Projekt lieferte. Ausgehend von der Plantagenwirtschaft fragte er unter anderem danach, ob sich bei der Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft und der Herausbildung von Monokulturen in Europa und in den Kolonien ähnliche Entwicklungen und personelle Überschneidungen beobach­ten lassen.3 Ebenso sei eine Untersuchung von Standardisierungsprozessen als Resultat der Integra­tion land­wirtschaftlicher Produktionsverhältnisse in globale Märkte vielversprechend.

DAVID RENTSCH (Bern) zeichnete im Anschluss in seiner empirisch reichhaltigen Studie der rubber frontier in Belgisch-Kongo eine Geschichte von grossen Erwartungen, Krisen und kurzfristigen Ent­täuschungen nach. Ausgangspunkt der Untersuchung bildete der Plan der staatlichen Kautschuk-Plantage in Yangambi. Die Plantage spielte gemäss Rentsch eine zentrale Rolle in der Transforma­tion der kongolesischen Kautschukfrontier, war Laboratorium und Knotenpunkt zugleich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die natürlichen Kautschukvorkommen im Kongobecken bis zur Er­schöpfung ausgebeutet und die Zwangsarbeit, auf der die Gewinnung bis anhin basierte, wurde in­folge der erzwungenen Übergabe von König Léo­polds II. Freistaat an die belgische Regierung 1908 eingedämmt. Gleichzeitig erfolgten in Süd­ostasien Investitionen in Plantagenmodelle mit Hevea-Bäumen, die den Weltmarkt in Kürze domi­nieren sollten. Im Kontext dieser Neuausrichtung erfolgte der Aufbau der Plantage von Yangambi in Belgisch-Kongo 1908 als Versuchsstation auf der Basis von landwirtschaftlichen Grundlagen nach südostasiatischem Modell. Überzeugend zeigte Rentsch auf, wie die Transformation des ländlichen Raumes imaginiert wurde und zugleich die von der Kolonial­verwaltung angestrebte Dichotomie zwi­schen agriculture euro­pénne und agriculture indigène in der Praxis verwischte. Im Zuge einer erneu­ten Neuausrichtung wurde Yangambi schliesslich Sitz der ko­lonialen Agrarforschung mit Fokus auf die agriculture in­digène, die zum Ziel hatte, die kongolesi­schen Bäuerinnen und Bauern in die cash crop economy zu integrieren. Was blieb, war die zentrale Bedeutung der Plantage von Yangambi in der Transformation der kongolesischen Kautschukfrontier.

Mit dem Beitrag von INES PRODÖHL (Bergen) verschob sich der Fokus von Kautschuk zu Soja. Ihr Augenmerk richtete Prodöhl auf eine spezifische Quellengattung: die Statistiken des International Institut for Agriculture (IIA) in Rom, die sie für ihr 2023 erscheinendes Buch4 genutzt hatte. Das Insti­tut war 1904 aus einer Kooperation zwischen dem italienischen Staat, damals eine parlamentarische Monarchie, und Akteuren aus der Landwirtschaft entstanden. Während sich die Landwirte Schutz vor Kartellen und Ausbeutung erhofften, lässt sich das Engagement des Monarchen laut Prodöhl mit dem Prestige internationaler Organisationen und dem Interesse Italiens an territorialer Vergrösse­rung erklären. Ausgehend von einer Ausgabe der vom IIA herausgegebenen Studies of the Principal Agricultural Products on the World Markets, die erstaunlicherweise den Oliven gewidmet war, stellte Prodöhl die Frage, weshalb in der Zwischenkriegszeit ausgerechnet in Rom derart viel agrarisches Wissen produziert wurde und inwiefern die Studien des IIA den faschistischen Interessens Italien dienten.

Der Kreis der Tagung schloss sich mit dem Vortrag von ERNST LANGTHALER (Linz, St. Pölten). Der Vor­stand des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten (IGLR) eröffnete seinen anschaulich illustrierten Vortrag mit einer Theoriegeschichte der drei Leitkonzepte Landwirt­schaftsstile5, Nahrungsregime6 und Agrartransitionen7. Während das Konzept der Landwirtschafts­stile den Fokus auf die Mikroebene lege, fokussiere jenes der Nahrungsregime die Makro­ebene. Langthaler rief zu einer Überwindung dieser Mikro-Makro-Trennung auf und argumentierte, dass ihre Verbindung eine transversale Untersuchung von Agrartransitionen leisten könne, die regi­onale und transregionale commodity frontiers in den Bereichen Produktion, Distribution und Konsum umfasse.8 Am Beispiel der Sojabohne führte Langthaler exemplarisch aus, wie ein solches Desiderat einzulösen ist. Insgesamt identifiziert er drei globale Warenketten als Leitmodelle im Welthandel mit Soja: 1870–1929 lenkte Grossbritannien die Güterströme von Ostasien nach Westeuropa, zwischen 1947 und 1973 bewegte das Nahrungsregime mit Zentrum USA die Sojabohnen von Nordamerika nach Westeuropa und ab 1995 wurde der globale Handel mit Soja aus Südamerika nach Ostasien durch die Welthan­delsorganisation (WTO) bestimmt. Die jeweiligen Nahrungsregime liessen sich, so Langtha­ler, ideal­typisch mit bestimmten regionalen Landwirtschaftsstilen verbinden: das britisch zentrierte Regime mit dem bäuerlichen Stil in Nordostchina, das US-zentrierte Regime mit dem unternehme­rischen Stil im Mittleren Westen der USA sowie das WTO-zentrierte Regime mit dem kapitalistischen Stil der brasilianischen Cerrados. Anhand einer Untersuchung von Agrartransitionen im Soja-Prisma wäh­rend der Periode 1929–1947 zeigte Langthaler, wie Soja als Problemlösung für das staatliche Kri­sen- und Kriegsmanagement der USA fungierte und durch eine Vergünstigung der Fleischproduktion an der Konsumentenfrontier dazu beitrug, dass sich Familien ihren Sonntagsbraten leisten konnten.
 
Vier Grundfragen durchzogen diesen Workshop, der Global- und Agrargeschichte in einer ausgewo­genen Mischung aus Empirie und Theorie zusammenbrachte. Zentral wurde erstens die Frage der Wissensproduktion diskutiert: Wer produziert Wissen – und wozu? In den einzelnen Beiträgen wurde deutlich, dass Wissen im agrarischen Kontext bei weitem nicht nur von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern produziert wird. Ein intersektionaler Ansatz könne dabei mit Blick auf die asym­metrischen Machtverhältnisse beleuchten, welches Wissen im Dunkeln geblieben, in den Quellen un­terdrückt und in einer auf Männer und koloniale Akteure fokussierte Historiografie vernachlässigt worden ist. Eine Schnittstelle für den Dialog zwischen Kolonial- und Agrargeschichte identifizierten die Ta­gungsteilnehmenden in der Beschäftigung mit Plantagen. So wurde gemeinsam über die Frage nachgedacht, inwiefern ein Vergleich zwischen Plantagenwirtschaft und kleinbäuerlichen Familien fruchtbar sei, wo die Plantage aufhöre und ob etwa ein Schweizer Weinberg auch eine Plantage sei. Drittens wurde die Frage des Raumes aufgeworfen: Kritisch diskutiert wurde, welchen Raum die so­genannte erste Globalisierung 1870–1914 umfasst und wie sich das angloeuropäisch geprägte Kon­zept der frontier in einen kolonialen Kontext übersetzen lässt. Wie kann eine Verbindung von Mikro- und Makroebene gelingen und die Auswirkungen von globalen Veränderungen auf die jeweilige agra­rische Praxis und das Leben vor Ort sichtbar gemacht werden? Viertens kam die Rolle des Nicht­menschlichen zur Sprache: Verschiedene Voten plädierten dafür, die Eigenlogik von Pflanzen und Tieren ernst zu nehmen. Welche Rolle spielen Sojabohnen, Hevea-Bäume, Ölpalmen und arbeitende Tiere für die Agrarfrage in der Globalisierung?

Einige Punkte blieben indes offen, insbesondere bezüglich Eigentums und Besitz. Weiter zu disku­tieren wäre etwa die von Christof Dejung aufgeworfene Frage, ob die enclosures im Grossbritannien des 16. Jahrhunderts mit dem Übergang von der Subsistenzwirtschaft zu Cash Crops in den Kolonien des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind. Ebenso dürfte die Gleichzeitigkeit der bäuerlichen Integra­tion im Globalen Norden mit der Entrechtung kolonialer Subjekte im Globalen Süden sowie die Aus­einandersetzung mit protektionistischen Massnahmen vielversprechende Forschungsfragen gene­rieren. Gesprächsstoff ist, so wurde klar, genügend vorhanden für einen weiterführenden Dialog zwi­schen Global- und Agrargeschichte. An diesem Workshop wurde dafür ein wichtiger Grundstein ge­legt, was im Tenor der Abschlussdiskussion voller Danksagungen widerhallte.

 


Anmerkungen
1 Auderset, Juri; Bächi, Beat; Moser, Peter: Die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft im 19./20. Jahrhundert: Akteure, Diskurse, Praktiken, in: Brodbeck, Beat; Ineichen, Martina; Schibli, Thomas (Hrsg.), Geschichte im virtuellen Archiv. Das Archiv für Agrargeschichte als Zentrum der Geschichtsschreibung zur ländlichen Gesellschaft (Studien und Quellen zur Agrargeschichte 3), Baden 2012, S. 21-38.
2 Beckert, Sven; Bosma, Ulbe; Schneider, Mindi; Vanhaute, Eric: Commodity frontiers and the transformation of the global countryside. A research agenda, in: Journal of Global History 16/3 (2021), S. 435-450. Für eine kritische Einordnung des Begriffs frontier vgl. Schetter, Conrad; Müller-Koné, Marie: Frontier – ein Gegenbegriff zur Grenze, in: Gerst, Dominik; Klessmann, Maria; Krämer, Hannes (Hrsg.): Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (Border Studies. Cultures, Spaces, Orders 3), Baden-Baden 2021, S. 240-252. Online: <http://www.doi.org/10.5771/9783845295305-240>.
3 Vgl. auch: von Brescius, Moritz; Dejung, Christof: The Plantation Gaze. Imperial Careering and Agronomic Knowledge between Europe and the Tropics, in: Comparativ 31/5-6 (2022), S. 572–590.
4 Prodöhl, Ines: Globalizing the Soybean. Fat, Feed, and Sometimes Food, c. 1900-1950, (im Erscheinen).
5 Van der Ploeg, Jan Douwe: The Genesis and Further Unfolding of Farming Styles Research, in: Historische Anthropologie 20/3 (2012), S. 427–439.
6 McMichael, Philip: Food Regimes and Agrarian Questions, Halifax 2013. 
7 Geels, Frank W: Ontologies, socio-technical transitions (to sustainability), and the multi-level perspective, in: Research Policy 39/4 (2010), S. 495-510.
8 Für ein Beispiel siehe Langthaler, Ernst: Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938-1945 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 38), Wien 2016. 

Programm

Juri Auderset (Bern), Peter Moser (Bern), Jessica Richter (St. Pölten): Begrüssung und Einführung

Juri Auderset (Bern), Peter Moser (Bern): Frontiers agrarisch-industriellen Wissens. Überlegungen zu einer Wissens- und Ressourcengeschichte der Landwirtschaft im Zeitalter der ersten Globalisie­rung, 1870er–1950er Jahre

Justus Hillebrand (Maine): Bewegung von Wissen, Bewegung von Energie: Die Globalisierung der ag­rarisch-industriellen Wissensgesellschaft im späten neunzehnten Jahrhundert in Deutschland und den Vereinigten Staaten

Christof Dejung (Bern), David Rentsch (Bern): Yangambi und die globale Kautschukfrontier. Cash Crops, Ernährung und sozialer Wandel in Belgisch-Kongo

Ines Prodöhl (Bergen): Das Erfassen der Globalisierung in Daten: «Wesentliche landwirtschaftliche Produkte» in der Zwischenkriegszeit

Ernst Langthaler (Linz, St. Pölten): Landwirtschaftsstile, Nahrungsregime, Agrartransitionen: Per­spektiven einer relationalen Agrargeschichte

Schlussdiskussion
 

Evènement: 
Die Agrarfrage in der Globalisierung. Perspektiven im Lichte der neueren Agrargeschichte
Organisé par: 
Archiv für Agrargeschichte (AfA) in Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut der Universität Bern und dem Institut für Geschichte des ländlichen Raumes (IGLR), St. Pölten
Date de l'événement: 
18.11.2022
Lieu: 
Bern
Langue: 
d
Report type: 
Conference