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Panelbericht: Die globale Zirkulation von Repressionswissen im 19. und 20. Jahrhundert

Autor / Autorin des Berichts: 
Pascal Hurni, Universität Bern



Zitierweise: Hurni, Pascal: Panelbericht: Die globale Zirkulation von Repressionswissen im 19. und 20. Jahrhundert, infoclio.ch Tagungsberichte, 2013. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0043>, Stand:


Verantwortung: Stephan Scheuzger
Referentinnen: Nina Elsemann / Nadin Heé / Stephan Scheuzger / Andreas Stucki
Moderation: Urs Germann

Die verbreitete Einsicht, dass im 19. Jahrhundert ein reger Ideentransfer über die verschiedenen Repressionsmassnahmen stattgefunden hat, steht in Kontrast zur mangelnden empirischen Aufarbeitung desselben. Während die Thematik der Konzentrationslager bereits einige Aufmerksamkeit erfuhr, blieben andere Aspekte der Geschichte des Repressionswissens im Dunkeln. Das Panel sollte die Gelegenheit zu einem vertieften Nachdenken über den Begriff der Repressionswissenschaften ermöglichen.

STEPHAN SCHEUZGER präsentierte in „Die globale Zirkulation des Wissens über Gefängnishaft, 1830–1930: Perspektiven der Forschung“ Thesen über die Modernisierung des Repressionswissens. Der Begriff der Repression wurde von der Gefängnisforschung der 1990er Jahre in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Untersuchungen über Lateinamerika, Asien und Afrika zeigten auf, wie der Wandel des Strafparadigmas – von der körperlichen Züchtigung hin zu einer Regulierung der Seele – einen starken nordatlantischen bzw. europäischen Aspekt beinhaltete, welcher durch die staatlichen Institutionen des Strafvollzugs und des Strafrechts in den Kolonien lediglich eine eingeschränkte globale Gültigkeit hatte. Die Gefängniskunde des 18. und 19. Jahrhunderts enthielt bereits den Aspekt des Wissenstransfers, beschränkte sich jedoch auf die Zirkulation innerhalb Europas. Die Beispiele des vor der Londoner Strafanstalt Pentonville (1842) und dem Eastern Penitentiary in Philadelphia (1829) erbauten, ebenfalls radialen Casa de Corecao (1824) in Rio de Janeiro und die Entwicklung der Daktyloskopie in England, Indien, Japan und Argentinien zeigen, dass Repressionswissen nicht dem Norden vorbehalten war. Besonders einfach reiste technisches Wissen zwischen Kulturräumen, da es multifunktional und leicht einsetzbar sei. Im Wissenstransfer nahmen gerade politische Gefangene eine spannende Doppelfunktion als Wissensübermittler ein, indem sie zuerst Opfer des Repressionswissens wurden und später sowohl Institutionen und Techniken weiterverwendeten.

NADIN HEÉs Vortrag „Wissenschaftlicher Kolonialismus und Strafrechtsreformen im imperialen Japan. Globaler Wissenstransfer und lokale Ausprägungen“ zeigte das Spannungsfeld auf, worin sich Japans Modernisierung und Kodifizierung des Strafrechts befand.
Japan stellte sich der Kolonisierung durch Modernisierungsbestrebungen entgegen. Die europäischen Mächte und die USA hatten durchgesetzt, dass ihre BürgerInnen durch die Klausel der Extraterritorialität der japanischen Gerichtsbarkeit und den am häufigsten angewandten Bestrafungsformen Folter, Kreuzigung und Enthauptung entzogen waren. Indem das Strafrecht kodifiziert und der Freiheitsentzug als Strafe etabliert wurde, versuchte Japan, dies wieder rückgängig zu machen. Da sich die japanische Gesetzgebung an China orientiert hatte, verweigerte sich der Westen diesen Bestrebungen, vorgeblich um seine BürgerInnen vor der ‚Ostbarbarei‘ zu schützen. In der Folge wurden unter französischer Beratung asiatische und europäische Ansätze vermischt und die Prügelstrafe und Folter abgeschafft. Das britische Gefängnis in Hong Kong diente dabei als Inspiration neuer Gefängnisbauten, welche als Prestigeobjekte fungierten. Zwar führte Japan die Prügelstrafe später wieder ein, wandte diese jedoch nicht länger auf die eigenen BürgerInnen, sondern ausschliesslich auf die Indigenen in ihren Untertanengebieten an.
Anhand der Bestrafung unter der Meiji-Regierung konnte nachgewiesen werden, wie in Japan eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Repressionswissen einsetzte und wissenschaftliche Methoden zu deren Weiterentwicklung angewendet wurden. Der Wissenstransfer verlief jedoch nicht von Westen nach Osten, sondern war ein komplexes Zusammenspiel.

„Zwischen Transfer und Strukturphänomen: Zwangsumsiedlung an der imperialen Peripherie“ lautete der Titel ANDREAS STUCKIs Präsentation, worin er seine Überlegungen über die Etablierung von Konzentrationslagern in Kuba, Afrika und auf den Philippinen vorstellte. Dabei versuchte er eine Annäherung an das Thema der Zwangsumsiedlung als Repressionsmassnahme und explorierte mögliche Gründe für die Verbreitung des Phänomens.
Den Zwangsumsiedelungen auf Kuba, in den afrikanischen Kolonien und auf den Philippinen lagen spezifische Motive zugrunde. Dabei bildeten die personellen Kontinuitäten des Militärpersonals, aber auch des begleitenden Medientrosses eine verbindende Klammer.
Inwiefern ein Wissenstransfer geltend gemacht werden kann, ist für Stucki unsicher. Weder die biographischen Verknüpfungen noch die Rolle der Medien als Wissensvermittler würden für ein solches Fazit ausreichen, da sie keine Kausalitäten aufzuzeigen vermöchten. Deswegen sei, solange keine vertiefte, empirisch gestützte Auseinandersetzung mit dem narrativen Schema „Kuba → südliches Afrika → Philippinen → Welt“ stattgefunden habe, die überzeugendste These, dass die ähnlichen Problemstellungen asymmetrischer Konflikte zu ähnlichen Lösungen geführt hätten. Eine abstrakte Diffusion sei zwar denkbar, jedoch empirisch schwierig festzumachen.

NINA ELSEMANN stellte im Vortrag „Das Verschwindenlassen von Personen im 20. Jahrhundert: Zwischen ‚argentinischer Erfindung’ und globalen Wissenstransfers“ einen Teilaspekt ihrer Dissertation vor. Dabei zeigte sie auf, dass das Verschwindenlassen eine weit verbreitete Methode der Einschüchterung und Unterdrückung darstellte und weniger eine argentinische Erfindung, sondern die Weiterentwicklung einer bewährten Strategie war, die erst 2006 als Verstoss gegen die Menschenrechte klassifiziert wurde.
Bekannt ist die Praxis des Verschwindenlassens etwa aus dem Spanischen Bürgerkrieg und dem nationalsozialistischen Nacht-und-Nebel-Erlass, jedoch war es die französische und amerikanische Doktrin der Aufstandsbekämpfung, welche den direktesten Einfluss ausübte. Die in Algerien, Indochina, Korea und Panama gewonnenen Erkenntnisse über Folter- und Ermittlungsmethoden wurden über die in Panama gelegene School of the Americas von Frankreich und den USA weitergegeben. Dabei fungierte Lateinamerika als Labor, wo die Techniken zusammengeführt und perfektioniert wurden. Die Praxis des Verschwindenlassens stellt folglich ein Beispiel dar, wie ein Nord-Süd-Transfer zu einer Süd-Süd-Zirkulation von Repressionswissen wurde. Im Spiegel des aktuellen Kampfes gegen den Terror dränge sich jedoch auch die Frage auf, inwiefern Wissen wieder zurück in den Norden floss.

Die Schlussdiskussion explorierte die Frage, inwiefern das Repressionswissen dem Panel einen einheitlichen Rahmen gebe, da unter demselben Begriff zwei zu unterscheidende Kontexte vermischt worden waren: nämlich ausserordentliche Zwangssituationen (Umsiedlungen und Verschwindenlassen) und verhältnismässige Normalität (Gefängnis, Strafrecht). Jedoch herrschte Einigkeit, dass durch den gemeinsamen Rahmen ein Mehrwert geschaffen worden sei, da die individuellen Limiten des möglichen Wissens über globale Transferströme nur in Kollaboration zu sprengen seien. Dabei biete die entangeled history einen geeigneten Rahmen, müsse jedoch um den Aspekt des Peripherie-Peripherie- und des Zentrum-Zentrum-Transfers ergänzt werden.

Panelübersicht:

Stephan Scheuzger: Die globale Zirkulation des Wissens über Gefängnishaft, 1830–1930: Perspektiven der Forschung

Nadin Heé: Wissenschaftlicher Kolonialismus und Strafrechtsreformen im imperialen Japan. Globaler Wissenstransfer und lokale Ausprägungen

Andreas Stucki: Zwischen Transfer und Strukturphänomen: Zwangsumsiedlung an der imperialen Peripherie

Nina Elsemann: Das Verschwindenlassen von Personen im 20. Jahrhundert: Zwischen "argentinischer Erfindung" und globalen Wissenstransfers

Evènement: 
3. Schweizerische Geschichtstage 2013
Organisé par: 
Departement für Historische Wissenschaften der Universität Freiburg / Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG)
Date de l'événement: 
08.02.2013
Lieu: 
Fribourg
Report type: 
Conference