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Panelbericht: An der Schnittstelle von Natur und Gesellschaft. Epidemien von der Frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert in Europa

Autor / Autorin des Berichts: 
Markus Meier
markus.meier24@outlook.com
Universität Bern

Citation: Meier, Markus: Panelbericht: An der Schnittstelle von Natur und Gesellschaft. Epidemien von der Frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert in Europa, infoclio.ch-Tagungsberichte, 23.08.2022. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0286>, Stand: 07.11.2024.

Verantwortung: Joël Floris / Séveric Yersin
Referierende: Chantal Camenisch / Melanie Salvisberg / Séveric Yersin

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JOËL FLORIS (Zürich) eröffnete das Panel mit einer Erläuterung des Titels betreffend der Schnitt­stelle von Natur und Gesellschaft. Epidemien von Mensch und Tier sind Teil der Natur und üben Ein­fluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und den Umgang mit Epidemien aus. Die gesellschaft­li­chen Reaktionen hätten wiederum Einfluss auf den Verlauf und Häufigkeit von Epidemien. Es ent­stehe so eine wechselseitige Beziehung zwischen beiden Sphären.
 
CHANTAL CAMENISCH (Bern) beleuchtete im ersten Beitrag die Bekämpfung von Infektionskrankhei­ten wie der Pest in den Städten Bern, Rouen und York während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Sie kon­zentrierte sich dabei auf die Massnahmen, welche die städtischen Obrigkeiten tra­fen, um die Bevöl­kerung – und nicht zuletzt sich selbst – zu schützen. Die Städte wurden aufgrund ihrer unterschied­lichen Grössen, geographischen Lagen und Herrschaftsverhältnisse ausgewählt, wobei es absicht­lich keine vergleichende Analyse werden sollte. Alle drei Städte weisen für den be­trachteten Zeit­raum umfassendes Datenmaterial auf. Camenisch gliederte ihren Vortrag mit Hilfe der fünf Mass­nahmen, die in jeder betrachteten Stadt in unterschiedlichem Masse zur Anwendung kamen: Quarantäne, Pflegeeinrichtungen, Kontaktminimierung, Hygiene sowie Massnahmen betref­fend Tie­ren. Dabei ging sie chronologisch vor und begann mit der Pestwelle des 14. Jahrhunderts.

In allen drei Städten wurden für die von einer Epidemie betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner Quarantänen ver­hängt. Diese äusserten sich beispielweise darin, dass Türen und Fenster eines be­troffenen Haus­halts versiegelt wurden und den Kranken sporadisch und nur gegen Bezahlung Nah­rung und Trink­wasser vorbeigebracht wurde. Lediglich in Rouen bestand gemäss Camenisch eine Meldepflicht für Seelsorger, wenn diese von Kranken erfuhren. In Rouen und York wurden zudem ausserhalb der Städte Barracken für Kranke errichtet, um möglichst viele Kranke ausserhalb der Stadttore zu brin­gen. Eine Verlegung in diese Lager habe dabei nicht selten den sicheren Tod be­deutet. Spitäler be­ziehungsweise Pilgerstätten wurden ebenfalls zu Lagern für Kranke umfunktio­niert. Entsprechend sei die Todesrate unter Pflegerinnen sehr hoch gewesen. Für die zumeist aus ärmlichen Verhältnis­sen stammenden Kranken habe die Unterbringung in Spitälern allerdings auch eine bessere Verpfle­gung als in ihrem normalen Alltag bedeutet.

Die Obrigkeiten versuchten Kontakte innerhalb der Bevölkerung zu vermindern, so wurden Messen und Märkte ausgesetzt, Bettelverbote verhängt und die Wachen an den Stadttoren verstärkt. Bern vermochte es, eine Pestwelle nahezu unbeschadet zu überstehen, weil es Thunern und Spiezern den Einlass verweigert habe, als diese beiden Orte von der Krankheit heimgesucht wurden. Betreffend Hygiene wiesen alle Städte eine verstärkte Strassenreinigung und das Ausräuchern von Häusern, Möbeln und insbesondere Kleidern zur Desinfektion vor. Zeitweise wurde der Textilhandel einge­schränkt, damit Kleider von Verstorbenen nicht in Umlauf gebracht wurden.

Da streunende Tiere bisweilen als Verbreiter der Pest betrachtet wurden, sei es zum umfassenden Keulen von Katzen und Hunden gekommen. Ob sich dadurch die Ratten und Flohkonzentration er­höhte und zur Verstärkung der Epidemie beitrug, konnte leider nicht eruiert werden. Camenisch schloss ihren Vortrag damit, dass die spätmittelalterlichen Obrigkeiten durchaus Massnahmen an­wandten, die auch heutzutage beispielsweise in der Coronapandemie angewandt wurden und wer­den. Ausserdem habe ein breiter Austausch stattgefunden, sodass andere Städte sehr genau über den Verlauf der Epidemie und welche Ortschaften bereits betroffen waren, Bescheid wussten.
 
MELANIE SALVISBERG (Bern) ging anschliessend auf die zahlreichen Flussbegradigungen in der Schweiz Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und wie diese der Malariabekämpfung dienten. So war die Krank­heit entlang sumpfiger Gewässer beispielsweise im Rheintal, dem Berner Seeland, um den Thuner- und Brienzersee sowie um die Tessiner Seen weit verbreitet. Der Name stammt von «mal’aria» und bedeutet «schlechte Luft», weil sie vor allem in sumpfigen, moorigen Gegenden verbreitet war. 1898 wurde schliesslich die Ansteckung aufgrund der Anopheles-Mücke nachgewiesen. Erstaunlicher­weise habe sich der Name Malaria für die im deutschen Sprachraum früher als Sumpffieber oder Wechselfieber bekannte Krankheit erst ab 1900 eingebürgert, trotz der Entdeckung der tatsächli­chen Verbreitungsart.

Zunächst nannte Salvisberg technische Neuerungen im 19. Jahrhundert, die grossflächige Ent­sump­fungen erst möglich gemacht hätten. Ausserdem hätten erst die veränderten politischen Ver­hält­nisse durch die Gründung des Bundesstaates kantonsübergreifende Grossprojekte und deren Fi­nan­zierung ermöglicht. Hinzu kam laut Salvisberg ein neues Naturverständnis, in welchem sich der Mensch durch technische Neuerungen die Natur zum Untertan machen konnte. Innert weniger Jahr­zehnte nach den Gewässerkorrekturen und Entsumpfungen war die Malaria aus der Schweiz nahezu verschwunden. Salvisberg schloss damit, dass natürlich auch verbesserte Lebensumstände und me­dizinische Fortschritte zur Beseitigung der Malaria beigetragen hätten. Die Flussbegradigungen hät­ten das Verbreitungsgebiet der Anopheles-Mücke aber stark reduziert und seien von Zeitgenossen als die wichtigste Massnahme zur Malariabekämpfung bezeichnet worden. Fraglich bleibt, wie stark andere Interessen, wie etwa die Landgewinnung, zum Entscheid der Gewässerkorrekturen beigetra­gen hatten.
 
SÉVERIC YERSIN (Basel) erläuterte im dritten Beitrag die Kontrolle und Bekämpfung von tierischen Infektionskrankhei­ten durch die staatlichen Institutionen in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Dabei zeigte er auf, wie die Tiere Einzug in die Gesundheitspolitik fanden und welchen Einfluss die Gesetz­gebung betreffend Tierseu­chen auf die Gesetzgebung über menschlichen Infektionskrankheiten hatte. Sein Vortrag war chro­nologisch aufgebaut und konzentrierte sich auf die staatspolitischen und gesetzgeberischen Bege­benheiten.

Yersin wies darauf hin, dass in erster Linie die Kantone für die Gesundheitspolitik zuständig gewesen seien, sie aber 1848 einige Kompetenzen an den Bund abgegeben hatten. So hatte der Bund neu die Entscheidungsgewalt bei landesweiten Epidemien. Um 1860 hatten die Kantone bereits beträchtli­che Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von Epidemien, insbesondere aber bei Tierseuchen, soge­nannten Epizootien. Vor allem die Maul- und Klauenseuche in der stark auf Viehhaltung ausgelegten schweizerischen Landwirtschaft bereitete Probleme, weshalb einige Kantone mehr Zentralisierung gefordert hätten. 1865 forderte beispielsweise der Kanton Zürich vom Bund, mehr Massnahmen ge­gen Blattern, Cholera, Typhus, Lungenseuche, Rinderpest und weitere Krankheiten zu ergreifen. 1872 erliess der Bund schliesslich das «Bundesgesetz über polizeiliche Massregeln gegen Viehseuchen». Dabei wurden umfassende Massnahmen betreffend Transport, Einfuhr und Desinfektion von Tieren sowie Isolation und Desinfektion von betroffenen Stallungen beschlossen. Aufgrund der Erfahrungen mit dem Tierseuchengesetz hätte der Bundesrat erkannt, dass ein ähnliches Gesetz über menschli­chen Epidemien erlassen werden musste, das schliesslich 1879 folgte. Ende des 19. Jahrhun­derts gab es aufgrund dieser Gesetzgebung an der Landesgrenze sanitäre Grenzkontrollen, Grenz­schlies­sungen und Zugangskontrollen bei Ausbruch von Epidemien. Die schärferen (Grenz-)Kontrol­len soll­ten laut Yersin insbesondere dazu dienen, Epidemien einzudämmen, damit Grenzschliessun­gen ver­hindert und der Handel mit dem Ausland aufrechterhalten werden konnte. Abschliessend hob Yersin nochmals die Bedeutung der Tierseuchengesetze auf die Gesetzgebung über menschliche Infekti­onskrankheiten hervor. So sei Fleisch- und Milchkonsum essenziell für die Verbreitung von Tierseu­chen auf den Menschen.
 
In der abschliessenden Diskussion wurden die Referierenden gefragt, welche Parallelen sie zur Corona­pandemie ziehen würden. Yersin hielt einen Vergleich für insofern schwierig, da es keine ver­gleich­bare Krankheitswelle gäbe, bei der innert so kurzer Zeit eine Impfung vorlag, geschweige denn entsprechend umfassende Daten zu deren Einsatz. Camenisch verdeutlichte den Punkt, dass die Isolation während der aktuellen Pandemie als schlecht empfunden wird, da sie zumeist allein und zuhause stattfindet. Während den Pestepidemien seien vor allem arme Bevölkerungsschichten in den Städten erkrankt und hätten in den Spitälern häufig bedeutend bessere Verpflegungs- und Un­terbringungsumstände erlebt als in ihrem Zuhause. Die Isolation konnte entsprechend als etwas Gu­tes wahrgenommen werden. Insgesamt gaben die drei Vorträge eine gute Übersicht, über den Um­gang mit Krankheitswellen seit dem Spätmittelalter und insbesondere über deren Wichtigkeit in der Politik des noch jungen schweizerischen Bundesstaates.



Panelübersicht:

Chantal Camenisch: Obrigkeitliche Massnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten in der Frühen Neuzeit am Beispiel von Bern, Rouen und York
 
Melanie Salvisberg: Die Verbreitung und Bekämpfung der Malaria in der Schweiz im 19. Jahrhundert
 
Séverin Yersin : Contagions et l’État : parallèles et transferts entre les institutions de contrôle des épizooties et des épidémies en Suisse à la fin du 19ème siècle



Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.

Event: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organised by: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Event Date: 
29.06.2022
Place: 
Genf
Language: 
d
Report type: 
Conference