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Fakten mit Gefühl: Geschichtsvermittlung durch historische Romane

Die Leidenschaft war schon immer da: fürs Lesen, fürs Eintauchen in ent­fernte Welten, für alte Häuser und die Lebensweisen früherer Jahrhunder­te, im Studium auch für die gründliche Auseinandersetzung mit alten Texten.

Seit einigen Jahren kann ich diese Leidenschaften in einem Romanprojekt bündeln: eine Trilogie über Graubünden im 17. Jahrhundert. Der erste Band über die Zeit der Bündner Wirren erschien 2019, der zweite ist in Arbeit.

 Buchcover
«Bergünerstein: I. Der Krieg»

Mit der «Bergünerstein»-Reihe will ich einer­seits unterhalten, andererseits möglichst viele Menschen mit meiner Faszination für die Vergangenheit anstecken – und historisches Wissen vermitteln.

Seriöse Geschichtsvermittlung steht nicht bei allen Vertretern des Genres «histo­rischer Ro­man» im Vordergrund. Entspre­chend zweifel­haft ist dessen Ruf im Feuilleton, in der Literatur- oder der Geschichts­wissenschaft. Und natürlich will ich dem entgegenwirken.

Mit diesem Blogbeitrag möchte ich ein Gespräch anregen: darüber, was gute historische Romane ausmacht, was sie leisten können und was nicht, wie wissenschaftlich sie sind, sein können oder sollen.

Eine erste Klärung dieser Fragen versuche ich hier in einem Gespräch mit mir selbst.

Warum findest du historische Romane gut für die Geschichtsvermittlung?

Menschen lieben Geschichten. Die Erlebnisse einer Romanfigur, mit der sie sich identifizieren, prägen sich stärker ein als Informationen, die ohne emo­tionales Engagement präsentiert und aufgenommen werden.

Aber die Wissenschaft muss sich an Fakten halten. Ein Kitschroman ist keine Geschichtsvermittlung.

Es geht nicht um Kitsch. Ich versuche, Fakten so zu vermitteln, dass auch die Gefühle der Lesenden angesprochen werden. Die Romanfiguren ma­chen realistische Erfahrungen und reagieren emotional darauf, und die Lesenden mit ihnen. Ich betreibe sozusagen die Fortführung der Wissen­schaft mit erzählerischen Mitteln.

Aha. Schauen wir uns zuerst den wissenschaftlichen Aspekt an. Wie kommst du zu deinen Fakten?
Ganz klassisch: Ich studiere die Quellen und die Forschungsliteratur zu meinen Themen, pro Buch mindestens ein Jahr in Vollzeit.

Und nach einem Jahr weisst du genug, um alles wahrheitsgetreu darzustellen?

Nein, das wäre illusorisch. Ich kenne weder alle Ereignisse der Zeit, über die ich schreibe, noch die Motivationen der beteiligten Personen, noch alle Details des damaligen Alltagslebens. Und natürlich habe ich kaum Einblick in die Gefühle und privaten Gedanken der damaligen Menschen.

Und das nennst du Geschichtsvermittlung? Das ist doch unseriös.
Naja – die seriöse Wissenschaft würde auch nie behaupten, alles zu wissen. Zudem: Wenn ich Bücher über die Gegenwart schreiben würde, wäre es nicht anders. Ich weiss kaum etwas über die wahren Beweggründe und inneren Erlebnisse anderer Menschen, verstehe die Politik nur bruch­stückhaft, etc. Ein Roman ist immer ein Gewebe aus Fakten, subjektiver Interpretation und Fiktion, egal in welcher Zeit er spielt.

Hm. Überlassen wir das besser der Literaturwissenschaft. Erzähl lieber etwas über deine Recherchen. Laufen die gleich ab wie z.B. bei einer historischen Dissertation?

Grundsätzlich ja: Ich arbeite so gründlich und ausführlich wie möglich, ich behandle Quellen nach dem Motto von Miss Marple «Ich glaube nie, was man mir sagt», ich lese Dissertationen, Habilitationsschriften und Fachartikel, ich vernetze mich mit anderen Forschenden.

Dazu geniesse ich aber einige Freiheiten, die in der Wissenschaft nicht üblich sind.

Was denn?

Der grösste Unterschied ist vielleicht, dass ich nicht unter Druck stehe, neue Erkenntnisse zu gewinnen oder eine These zu belegen. Wenn ich etwas Neues finde, z.B. über lokale Ereignisse im Dorf, die bisher schlicht niemand recherchiert hat, dann ist das schön – wenn nicht, ist es egal.

Klingt entspannt. Weitere Freiheiten?

Ich kann bzw. muss sogar beliebig viele Themen anschneiden, auch unzu­sammenhängende. Ich kann also meinem Jagdtrieb freien Lauf lassen und jeder noch so abseitigen Fussnote bis ans glückliche Ende nachgehen. Je grösser die Vielfalt, desto spannender wird der Roman.

Verlierst du dabei nicht den Überblick?

Doch, immer wieder. Macht aber nichts: Was ich vergesse, war offenbar nicht interessant genug für den Roman.

Noch etwas?

Der dritte grosse Unterschied ist natürlich der Moment, wo die Arbeit ins Erzählerische wechselt. Wann immer ich will, aber besonders dann, wenn die Wissenschaft nicht weiterkommt, weil gewisse Informationen einfach fehlen, kann ich offene Fragen entscheiden und/oder aus meiner Phantasie weiterarbeiten.

Kannst du ein Beispiel machen?

Sicher! In meinem ersten Buch gibt es einen Skandal bei der Bergüner Landammannwahl von 1610. Meine Schilderung basiert auf erhaltenen Akten der darauffolgenden Verhandlung vor dem Bundstag in Chur. Wenig über­raschend widersprechen sich die Depositionen der beiden Parteien diametral – unmöglich zu wissen, was wirklich geschehen ist! Als Wissen­schaftlerin müsste ich es bei diesem Befund belassen. Als Autorin kann ich bzw. muss ich mich für eine Variante entscheiden und den Wahlverlauf so und nicht anders darstellen.

… dann wird es ab hier unwissenschaftlich?

In dem Sinne, dass in einem Roman natürlich fiktive Elemente vorkommen, könnte man das so sagen. Wichtig ist aber, dass die Ergänzungen und Erfin­­dungen im Rahmen des Realistischen bleiben: Wir wissen nicht, ob es so war, aber es hätte so sein können. Im Fall des Wahlskandals gibt es über den einen Kandidaten zahlreiche weitere Quellen, die zudem auf einen streitsüchtigen Charakter schliessen lassen. Der andere Kandidat hingegen war ein Nobody. Dies habe ich bei meiner Entscheidung berücksichtigt.

Wenn ich dein Buch lese, weiss ich also nie, was erfunden ist und was nicht.

Ja, und ich hoffe, du merkst den Übergang nicht! Gleichzeitig will ich natürlich, dass du dir diese Frage stellst beim Lesen. Ich selbst will auch immer mehr wissen, wenn ich historische Romane lese.

Und? Wie können deine Leser*innen mehr herausfinden?

Parallel zum Buch habe ich eine Website mit weiterführenden Informa­tionen aufgebaut. Jede Figur hat beispielsweise ihren real-biographischen Eintrag mit den zugehörigen Quellen. Meine Lesungen leite ich immer durch eine halbstündige Präsentation ein, sodass die Leute die Fakten kennen, auf denen die danach gelesene Romanpassage aufbaut.

Erzähl noch etwas über das Erzählen. Wie entstehen deine Geschichten?

Die Geschichten ergeben sich grösstenteils aus der Recherche. Aus Ereig­nissen, Zusammenhängen, Verwandtschaftsbeziehungen und kuriosen Details entsteht einerseits das Gerüst der Geschichte, andererseits das nötige Hintergrundwissen. Die Geschichte ändert sich dabei fortlaufend. Hier halte ich es mit Hercule Poirot: Wenn die Geschichte nicht zu den Fakten passt, muss sie angepasst werden.

Die Poirot-Methode scheint riskant. Bitte entschärfe meine Bedenken mit je einem kurzen Satz.

Ok.

1: Der Plot wird so oft umgebaut, dass er am Ende nicht mehr aufgeht.

«Kill your darlings!» Elemente, die nicht mehr passen, müssen weg.

2: Das Ganze wird zu einer langweiligen Auflistung von Einzelheiten.

Kill your darlings. Weniger ist mehr. Vereinfachung ist zulässig, sofern sie nicht zur Verfälschung gerät.

3: Du hast eine tolle Idee, findest aber zu wenig Information dazu und schreibst aus reiner Phantasie.

Kill your darlings. Ideen, die sich überhaupt nirgends an die Quellen oder bestehende Forschung anbinden lassen, müssen weg.

Gut gut, ich habs verstanden. Mach lieber ein Beispiel. Wann und wie hast du zuletzt die Geschichte den Fakten angepasst?

Vor Kurzem habe ich etwas ganz Wunderbares entdeckt, das zudem eine symbolische Bedeutung für die ganze Geschichte hat. Um dies integrieren zu können, habe ich den Beginn der Haupthandlung um ein Jahr vorverlegt und eine komplette neue Nebenhandlung eingeführt.

Hast du eine Lieblingsquelle?

Am liebsten mag ich Quellen, in denen die Menschen von damals einfach als Menschen erscheinen. Ich arbeite zum Beispiel mit einem Rechnungsbuch aus der Familie Planta-Salis in Malans, das über Besitz und Einkünfte dieser Familie in Bergün Auskunft gibt – eine sehr wichtige und reichhal­tige Quelle. Am meisten liebe ich daran aber den Tassenabdruck (Kaffee?) auf dem Umschlag. Wer den wohl hinterlassen hat? Und wann?

Und gibt es etwas, was du weniger toll findest?

Ich wünschte, die Kurrentschrift wäre nie erfunden worden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview ist hiermit beendet – das Gespräch aber hoffentlich nicht. Schreiben Sie mir, wenn Sie Fragen oder Einwände haben, aber auch, wenn Sie sich an der Ehrenrettung des historischen Romans beteiligen möchten.

Besonders freuen würde ich mich über interessierte Personen, die mit mir Qualitätskriterien für historische Romane diskutieren und entwickeln möchten, sei es per E-Mail oder im Rahmen eines Workshops oder Webinars. Gerne komme ich auch in einen bestehenden Kurs an einer Hochschule.

Zentral scheint mir für eine solche Diskussion das im Interview ange­sprochene Verhältnis zwischen Fakten, realistischer Ergänzung und freier Erfindung. Dazu kommt die Herausforderung, wie mit prominenten historischen Persönlichkeiten umgegangen werden soll, und natürlich – ganz wichtig – die angemessene Sprache.

Ich freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

Cudesch Grond da Malans
Quelle mit Kaffeefleck: «Cudesch grond da Malans»
Rechnungsbuch der Familie Planta-Salis, 17. Jahrhundert. Staatsarchiv Graubünden, StAGR D VII B 33