Eine geschichtswissenschaftliche Konferenz zur Zukunft scheint auf den ersten Blick ein Paradox zu sein.1 Wie ENRICO NATALE (infoclio.ch) in seinen Begrüssungsworten jedoch bemerkte, hat auch die Zukunft eine spezifische Geschichte und jede Zeit bringt ihre eigenen, unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen hervor. So sei die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Zukunft, nachdem sie nach den 1980ern etwas aus dem Fokus der Wissenschaft verschwunden war, gerade während der SARS-Cov-2-Pandemie mit den Vorhersagen zu Spitalauslastungen, Infektionsverläufen oder den Auswirkungen einer globalen Pandemie auf das lokale Leben omnipräsent und mache den Einfluss von Prognosen auf die Gestaltung der Gegenwart sehr sichtbar. Aufgrund der engen Verbindung der Geschichte der wissenschaftlichen Vorhersage mit der Geschichte der Informationstechnologien eigne sich dieses Thema hervorragend für eine infoclio.ch-Tagung.
Wie EGLĖ RINDZEVIČIŪTĖ (London) ausführte, galt die Kybernetik in der Sowjetunion aufgrund ihres US-amerikanischen Erfinders Norbert Wiener zunächst als Pseudowissenschaft und wurde als westlich-imperialistische Ideologie abgelehnt. Erst nach Stalins Tod und vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer rasch wachsenden sowjetischen Wirtschaft sowie eines neuen Verständnisses von ‹governance› als Wissenschaft hätten wissenschaftliche Prognosen eine zentrale Stellung innerhalb der sowjetischen Planwirtschaft eingenommen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Partei sei aber aufgrund des Bedarfs nach vollständigen und korrekten (Wirtschafts‑)Daten angespannt geblieben, weswegen vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den scheinbar unpolitischen Gebieten der Mathematik, Informatik und der Umweltwissenschaften bei der wirtschaftlichen Analyse und Planung federführend gewesen seien.
Das Interesse an wissenschaftlichen Wirtschaftsprognosen war aber auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gross, wie LAETITIA LENEL (Berlin) in ihrem Vortrag erläuterte. Sie beleuchtete die Geschichte von Wirtschaftsprognosen in den USA und Westdeutschland und argumentierte am Beispiel des Harvard Committee of Economic Research und des ifo-Konjunkturspiegels, dass durch den Erwartungsaustausch von wirtschaftlichen und politischen Akteurinnen und Akteuren Wirtschaftsprognosen zu einem Instrument zur Verhandlung von Zukunftserwartungen geworden seien. Sie beleuchtete dabei insbesondere den Austausch von Insider-Informationen, der in erster Linie vom Committee betrieben wurde, nachdem sich seine Behauptung einer sich gesetzmässig vorhersagbaren Wirtschaftsentwicklung als falsch herausgestellt hatte. Trotz enttäuschten Erwartungen seien beide Institutionen und ihre Indikatoren zentral für die Entwicklung der Theorie der rationalen Erwartungen gewesen.
ELKE SEEFRIED (Aachen) verdeutlichte in ihrem Beitrag, dass vor dem Hintergrund der engen Verzahnung von Wissenschaft und Politik während des Kalten Krieges neben der Wirtschaft auch die (westdeutsche) Verwaltung von den 1960ern bis zu den 1980ern stark auf wissenschaftliche Modelle zur Zukunftsvorhersage und -planung setzte. Rasch sei aber klar geworden, dass die Politik überhöhte Erwartungen an die Zukunftsforschung stellte und die Zukunftsforschenden trotz ihres Gebarens kaum über relevante Expertise verfügten, sodass sich die ambitionierten Pläne nicht verwirklichen liessen. Als Konsequenz dieses Scheiterns habe in der Zukunftsforschung ein Lernprozess hin zu einer kritischen Selbstbetrachtung begonnen, der explizit auch die Grenzen der Prognostik und die Kontingenz von Entwicklungen miteinschloss: An die Stelle einer linearen Extrapolation der Zukunft aus der Vergangenheit sei ein Methodenpluralismus und eine epistemische Wende hin zu einem methodisch diversifizierten Pragmatismus getreten.
Nach dieser tour d’horizon zur Geschichte der Zukunftsforschung fokussierte die zweite Session auf den Umgang verschiedener Schweizer Bibliotheken mit technischen Neuerungen und einer sich wandelnden Welt. Zuerst diskutierte KARSTEN SCHULDT (Chur) die Nutzung von neuen Technologien in wissenschaftlichen Bibliotheken. Anhand der Beispiele des Computers und interaktiver Videotextsysteme legte er dar, wie Bibliotheken ungeachtet ihres Rufes als träge und innovationsfeindliche Institutionen aufgrund einer Kombination aus konstanter Angst um die eigene Zukunft sowie stets zu knappen (personellen) Ressourcen neue Technologien oft rasch implementierten. Trotzdem würden technologische Neuerungen aber im Bibliotheksalltag oft banalisiert, da die initial an sie gestellten Erwartungen kaum je erfüllt würden. Damit werde auch die den jeweiligen Technologien zugeschriebene Zukunftsfähigkeit nie erreicht, da diese stets aufs Neue in neuen Technologien gefunden werde.
Anschliessend präsentierte MATTHIAS NEPFER (Bern) einen Werkstattbericht aus der Schweizerischen Nationalbibliothek (NB) über ihren Umgang mit einer volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt. Als zentrale Gedächtnisinstitution, die Texte, Bilder und Töne der Schweiz sammelt, erschliesst und vermittelt, wolle die NB eine Brücke von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft bilden und Schweizer Quellen überall und für alle zugänglich machen. Diese Brücke zu schlagen sei aber aufgrund der Unvorhersagbarkeit der Zukunft nicht gerade einfach; da die NB aber ihre Zukunft mitgestalten wolle, betreibe sie ein systematisches Innovationsmanagement und eine konstante Trendanalyse, arbeite kontinuierlich und partizipativ an ihrer Strategie und übe sich im Entscheiden in Unsicherheit durch explizite Risikobereitschaft und Fehlertoleranz. Damit wolle die NB offen für Innovationen bleiben und versuchen, das Richtige zu tun.
In der anschliessenden Podiumsdiskussion, moderiert von TOBIAS HODEL (Bern), diskutierten Nepfer, JEANETTE FREY (Lausanne) und JEAN-FRÉDÉRIC JAUSLIN (SLSP) die Frage, wie sich Bibliotheken in einer zunehmend digitalisierten Medienwelt situieren. Frey betonte, die Kantons- und Universitätsbibliothek Lausanne habe bereits rund 90% ihres historischen Bestandes digitalisiert und die Digitalisierung bliebe auch in Zukunft im Zentrum ihrer Strategie. Jauslin ergänzte, dass Bibliotheken ein zentrales Element für die Zukunft der Schweiz seien, da sie Informationen bereitstellen und so der Innovation dienen. Da bereits mindestens 85% der Forschenden nur noch online recherchierten, sei es von eminenter Wichtigkeit, die gesammelten Informationen dort zur Verfügung zu stellen, wo die Leute ohnehin schon seien, ansonsten könne unglaublich viel verloren und vergessen gehen. Für all das werde aber Geld benötigt, das die Politik aktuell nicht in einem genügenden Ausmass zur Verfügung stelle. Nepfer und Frey schlossen sich ihm an und betonten darüber hinaus die Wichtigkeit von Open Data. Zugleich wiesen sie auf die Relevanz von physischen Orten des Austauschs hin, die Bibliotheken auch in Zukunft sein würden.
Die dritte Session wurde von PETER TURCHIN (Wien) eröffnet, der von allen Anwesenden am stärksten die Auffassung vertrat, dass die Welt als dynamisches und sich nicht-linear entwickelndes System zwar schwierig vorherzusagen sei, Prognosen aber möglich und wichtig seien. Er betonte jedoch, dass auf Erkenntnissen über die Vergangenheit basierende Vorhersagen auch empirisch überprüft werden müssten, um so die Methoden, mithilfe derer Prognosen erstellt würden, laufend zu verbessern. Auf der Basis einer quantifizierenden Betrachtung von zentralen strukturellen Faktoren wie dem Potential zur Massenmobilisierung, der Konkurrenz innerhalb der gesellschaftlichen Elite, der Stabilität bzw. Fragilität von Staaten sowie dem internationalen Umfeld lasse sich auch vorhersagen, dass die von der seit den 1960er Jahren zunehmenden sozialen Ungleichheit bedingte Instabilität in Westeuropa und den USA weiter andauere, bis die Umverteilung von unten nach oben gestoppt bzw. umgekehrt und so die soziale Ungleichheit wieder verringert werde.
Im letzten Referat der Tagung betonte CHRISTIAN PFISTER (Bern) die inhärenten Unterschiede zwischen Natur- und Humanwissenschaften am Beispiel der Klimageschichte: Während Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler das Klima auf einer geologischen Skala untersuchten, die physikalischen Gründe für Klimaveränderungen verstehen wollten und dazu mit Proxy-Daten aus natürlichen Archiven arbeiteten, erforschten die Geisteswissenschaften insbesondere den Umgang von Gesellschaften mit Wetterereignissen und den Einfluss von Wetter und Klima auf Gesellschaften. Er demonstrierte anschliessend die vielfältigen Möglichkeiten zur raum-zeitlichen und thematischen Untersuchung der menschlichen Dimension des Wetters, die die Plattform Euro-Climhist diesbezüglich zur Verfügung stellt, und wie naturwissenschaftliche Klimadaten mit der humanen Dimension des Wetters in Verbindung gebracht werden können.
Auch die dritte Session wurde mit einem Podium abgeschlossen, diesmal moderiert von SACHA ZALA (SGG). Pfister, Rindzevičiūtė und Turchin diskutierten die Frage, inwiefern Geschichte eine prospektive Wissenschaft sei. Rindzevičiūtė betonte, dass die Antwort davon abhänge, ob mit ‘Geschichte’ eher die longue durée oder événements gemeint seien, und wo zwischen Prophezeiung und Mutmassung sich die prediction einreihe. Turchin griff die von Rindzevičiūtė erwähnte Position des logischen Empirismus auf, wonach nicht zutreffende Prognosen Teil des normalen wissenschaftlichen Falsifikationsprozesses sind, und ergänzte, dass wir Prognosen stets vergleichend betrachten sollten, um sie so zu verbessern. Pfister jedoch warnte vor dem Begriff der Prognose, da die uns zur Verfügung stehenden Daten und Methoden es nicht erlauben würden, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Turchin entgegnete, das Glas sei trotz der Unmöglichkeit, die Zukunft vollständig vorherzusagen, halb voll, da wir obgleich einer problematischen und lückenhaften Datengrundlage durchaus einige strukturelle Faktoren kennen würden, die beispielsweise gesellschaftliche Stabilität unterminieren. Auf die Frage, wie wir die Geschichte im digitalen Zeitalter stärken können, entgegnete Pfister, es brauche mehr institutionelle Kooperation zwischen Wirtschafts- und Klimageschichte. Rindzevičiūtė ergänzte, dass wir als Disziplin zwar neue digitale Technologien wie z.B. künstliche Intelligenz besser zu nutzen lernen müssten, die zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft aber nach wie vor eine demokratische sei: Informationen kontextualisieren, Kontext herstellen und Desinformation bekämpfen.
Die Tagung wurde mit einem kurzen Input von GEORGES ROOS (swissfuture) abgeschlossen, der einen Überblick über die Geschichte der institutionalisierten Zukunftsforschung in der Schweiz präsentierte und das aktuelle Mission Statement von swissfuture vorstellte: Zukunft soll vorstellbar gemacht und das methodisch abgestützte Zukunftsdenken in der Schweiz gefördert, vernetzt und selber betrieben werden, weswegen die seit 1967 als Fachgesellschaft der SAGW organisierte Vereinigung mittelfristig auch eine institutionelle akademische Verankerung anstrebe.
Mit diesen vielfältigen Beiträgen, die von der Geschichte der Zukunft bis zur Zukunft der Geschichte reichten, deckte die 14. infoclio.ch-Tagung ein breites Themenspektrum ab und bot den Anwesenden einen spannenden Einblick in aktuelle Problemstellungen der Forschung, Praxis und Wissenschaftspolitik. Insbesondere dank den Praxisberichten aus den Bibliotheken wurde deutlich, dass der Geschichtswissenschaft auch in Zukunft eine zentrale Bedeutung innerhalb von demokratischen Gesellschaften zukommen wird.
Tagungsprogramm
Begrüssung: Enrico Natale (infoclio.ch)
Session 1: Die Zukunftsforschung als Verwaltungsinstrument im 20. Jahrhundert
Eglė Rindzevičiūtė (Kingston University) – Cybernetic Futures: Predictive Knowledge and Governance Across the Iron Curtain
Laetitia Lenel (Humboldt-Universität) – From Forecasting to Coordination: The Transatlantic History of Business Forecasting in the 20th Century
Elke Seefried (RWTH Aachen University) – Experten für die Zukunft? Zukunftsforschung und Politik in der Bundesrepublik der 1960er bis 1980er Jahre
Session 2: Zwischen alten und neuen Medien – die Bibliothek der Zukunft
Karsten Schuldt (Fachhochschule Graubünden) – Zur «Banalisation» neuer Technologien im Bibliotheksalltag
Matthias Nepfer (Schweizerische Nationalbibliothek) – Zukunftsgestaltung in der Schweizerischen Nationalbibliothek: Wie wir uns heute auf das Morgen vorbereiten
Podiumsdiskussion – Die Zukunft der Bibliotheken: Jeannette Frey (Bibliothèque cantonale et universitaire de Lausanne), Jean-Frédéric Jauslin (Swiss Library Service Platform SLSP), Matthias Nepfer. Moderation: Tobias Hodel (Universität Bern)
Session 3: Historische Daten und Modellierung
Peter Turchin (Complexity Science Hub Vienna) – A History of Possible Futures: What Historical Data and Complexity Science Tell Us About Our Age of Discord
Christian Pfister (Universität Bern) – Eine computergestützte Methode zur Rekonstruktion von Wetter- und Klimadaten anhand von Daten aus historischen Quellen
Podiumsdiskussion – Geschichte, eine prospektive Wissenschaft? Christian Pfister, Eglė Rindzevičiūtė, Peter Turchin. Moderation: Sacha Zala (Schweizerische Gesellschaft für Geschichte)
Georges T. Roos (swissfuture) – swissfuture: 50 Jahre Zukunftsforschung in der Schweiz