Verantwortung: Mirjam Janett / Urs Hafner
Referierende: Emmanuel Neuhaus / Camille Jaccard / Mirjam Janett
Kommentar: Urs Germann
Die schweizerische Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist bisher ein relativ unerforschtes Themengebiet. In diesem Panel widmeten sich die Referenten und Referentinnen der Entstehung und Etablierung der Disziplin in der Schweiz, um so eine erste Standortbestimmung des Feldes zu geben. Alle Beiträge brachten die Thematik des Einflusses der Vorstellungen der Natur auf die kinderpsychiatrische Theoriebildung und auch auf die Praxis zusammen. Der Fokus des Panels lag dabei stets auf der Kinderpsychiatrie, da sich die Erwachsenenpsychiatrie deutlich von dieser unterscheidet. Nach einer Einführung zur Thematik von URS HAFFNER (Bern) folgte ein Vortrag über den wichtigsten Schweizer Begründer der Kinderpsychiatrie sowie zwei Forschungsbeiträge über das Klinikum Office médico-pédagogique vaudois und das Kinderspital Zürich.
EMMANUEL NEUHAUS (Zürich) untersuchte das kinderpsychiatrische Entwicklungsparadigma des Zürcher Kinderpsychiaters Jakob Lutz. Dieser leitete die Kinderpsychiatrie ab 1929 und etablierte hier eine Institution, an der sich nicht nur der Austausch zwischen Ärztinnen und Ärzten, sondern neu auch das Berufsfeld der Kinderpädagogik etablierte. Lutz’ Entwicklungsmodell beginne dabei mit der «animalischen Natur». Das Kind durchlaufe mehrere Stufen bis es schlussendlich zur «Reife» gelangt. Diese beinahe höchste Stufe, die auch zur «Entfaltung des Persönlichkeitskerns» beitrage, erreiche das Kind im frühen Erwachsenenalter. Die Annahme zur Lehre der psychischen Störungen von Lutz charakterisiere sich dadurch, dass lediglich eine normale bzw. natürliche Entwicklung bei gesunden Kindern stattfinden könne. Weiter ging man davon aus, dass der Entwicklungsstand eines jeden Kindes beeinflussbar sowie formbar sei. Habe die Mutter beispielsweise eine psychische Erkrankung, müsse nicht unbedingt auch das Kind zwingend daran erkranken. Durch die neu aufkommende sorgfältige und individuelle Beobachtung der Kinder kam er zum Schluss, dass ein Kind nur eine psychische Störung aufweise, wenn seine Entwicklung bis dahin fehlgeleitet, gestört oder gar stehen geblieben sei. Wichtig zu erwähnen sei, dass nicht jedes Kind die Reifungsstufe mit demselben Alter erreiche und somit jedes Kind seinen eigenen Reifungsprozess durchmache.
CAMILLE JACCARD (Lausanne) behandelte den Umgang mit der Problematik der Vererbung psychischer Krankheiten und den verschiedenen zugrundeliegenden wissenschaftlichen Traditionen und Verständnissen. Die Forschungsergebnisse basieren auf Quellen des Klinikums Office médico-pédagogique vaudois sowie auf wissenschaftlichen Publikationen. Jaccard untersuchte hierfür rund 14'000 Patientinnen- und Patientendossiers aus dem Kanton Waadt von 1942 bis 1950, um die unterschiedlichen Herangehensweisen und Interventionsmethoden bei der Diagnose und Behandlung einer psychischen Störung von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen zu erfassen. Vor allem im Bereich der Kinderpsychiatrie seien sich die unterschiedlichen Fachbereiche, wie die Medizin, die Psychologie oder eben auch die Pädagogik nicht immer einig. Dies sei vor allem in den Sprechstunden ersichtlich geworden, in denen alle Fachpersonen miteinander im stetigen Austausch waren. Aus diesen gemeinsamen Tätigkeiten entstand die Medizinische Psychologie. In den dafür vorgesehenen Sprechstunden wurde das Kind vorerst in seiner natürlichen Umwelt beobachtet. Anschliessend wurden aber auch klinische Tests durchgeführt, mit deren Hilfe herausgefunden wurde, ob Anzeichen für eine psychische Störung vorlägen. Schlussendlich könne dann in einem weiteren Sinne beobachtet werden, dass die unterschiedlichen Fachpersonen auch unterschiedliche Interventionsmethoden aufzeigten und anwendeten.
MIRJAM JANETT (Bern) widmete sich dem Umgang mit Intersexualität im Kinderspital Zürich, wobei sie den Zeitraum von 1945 bis 1970 untersuchte. Das Kinderspital etablierte sich als Behandlungszentrum für Kinder, denen kein eindeutiges Geschlecht zugewiesen werden konnte. Während lange die äusserliche Erscheinung entscheidend war, welchem Geschlecht ein Kind als «mehr zugehörig» zugewiesen werden konnte, wurde am Kinderspital neu die Psyche als neue Diagnosekategorie genutzt. Anhand von psychiatrischen Gutachten untersuchte Janett die Vorgehensweise bei der Zuschreibung des psychischen Geschlechts. Das psychische Geschlecht konnte so oftmals nur von Ärztinnen und Ärzten wie auch Psychologinnen und Psychologen bestimmt werden, weil die Kinder meist noch sehr jung waren. Anhand von Beobachtungen wurde entschieden, welches Geschlecht, dem Kind mehr entspreche.
Hier liessen sich oft stereotypische Entscheidungen beobachten. So wurde beispielsweise einem Kind mit einem undefinierten Geschlecht, das gerne mit Puppen spielte, bei dem aber kein Kinderwunsch zu beobachten war, das weibliche Geschlecht zugeschrieben. Die Natur des Kindes wurde durch diese neue Diagnoseweise neu gesehen und die Vorstellung der Natürlichkeit der Geschlechter beeinflusste die Behandlungsempfehlungen. Die Geschlechtszuschreibungen wurden mit medikamentösen und chirurgischen Behandlungen umgesetzt. Medikamentöse Behandlungen waren dabei vor allem von Cortison begleitet, bei chirurgischen Behandlungen wurde hingegen mithilfe einer Operation, nun neu ein «eindeutiges» Geschlecht verliehen.
Der Kommentar von URS GERMANN (Bern) zeigte auf, dass es nicht einfach war, Verbindungen zwischen den drei Referaten zu finden. Dennoch aber konnte beobachtet werden, dass das Zusammenspiel und die Wechselwirkung der Anlage und der Umwelt ein sehr wichtiger Aspekt für die Psychiatrie und viele weitere Forschungsgebiete darstelle. Beim Beitrag von Emmanuel Neuhaus konnte man die doch paradigmatische Betrachtung des Erwachsenwerdens nach einem biologischen Programm beobachten. Diese Entwicklung mündet dann schliesslich in das Selbst einer jeder einzelnen Person. Der Vortrag von Camille Jaccard ging auf die Vererbungs- und die Milieutheorie ein, die noch heute eine bedeutende Rolle in der Psychologie spielt. Beim letzten Beitrag von Mirjam Janett wurde der Fokus daraufgelegt, welches Geschlecht einer Person nach bestimmten Beobachtungskriterien «gegeben» werden sollte.
Panelübersicht:
Emmanuel Neuhaus: «Wohin führt der Entwicklungsvorgang die gesunden Kinder und Jugendlichen? Zur Reife.» Das kinderpsychiatrische Entwicklungsparadigma beim Zürcher Kinderpsychiater Jakob Lutz
Jaccard Camille: La question de l’hérédité au prisme des dossiers de patients de l'Office médico-pédagogique vaudois (1942-1950)
Janett Mirjam: Die «Natur» des Kindes erkennen. Psychiatrie, Geschlechterwissen und medizinische Behandlung von «Intersexualität», Zürich 1945 bis 1970
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
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