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Panelbericht: «Wider die Natur». Verhaltensauffällige Kinder im Visier der Psychiatrie im 20. Jahrhundert

Autor / Autorin des Berichts: 
Jessica Di Meo
jessica.dimeo@students.unibe.ch
Universität Bern

Citation: Di Meo Jessica: « Panelbericht: «Wider die Natur». Verhaltensauffällige Kinder im Visier der Psychiatrie im 20. Jahrhundert », infoclio.ch comptes rendus, 05.08.2022. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0277>, consulté le 07.11.2024.

Verantwortung: Mirjam Janett / Urs Hafner
Referierende: Emmanuel Neuhaus / Camille Jaccard / Mirjam Janett
Kommentar: Urs Germann

PDF-Version des Berichts

Die schweizerische Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist bisher ein relativ unerforsch­tes Themengebiet. In diesem Panel widmeten sich die Referenten und Referentinnen der Entstehung und Etablierung der Disziplin in der Schweiz, um so eine erste Standortbestimmung des Feldes zu geben. Alle Beiträge brachten die Thematik des Einflusses der Vorstellungen der Natur auf die kin­derpsychiatrische Theoriebildung und auch auf die Praxis zusammen. Der Fokus des Panels lag da­bei stets auf der Kinderpsychiatrie, da sich die Erwachsenenpsychiatrie deutlich von dieser un­terschei­det. Nach einer Einführung zur Thematik von URS HAFFNER (Bern) folgte ein Vortrag über den wich­tigsten Schweizer Begründer der Kinderpsychiatrie sowie zwei Forschungsbeiträge über das Klini­kum Office médico-pédagogique vaudois und das Kinderspital Zürich.
 
EMMANUEL NEUHAUS (Zürich) untersuchte das kinderpsychiatrische Entwicklungsparadigma des Zürcher Kinderpsychiaters Jakob Lutz. Dieser leitete die Kinderpsychiatrie ab 1929 und etablierte hier eine Institution, an der sich nicht nur der Austausch zwischen Ärztinnen und Ärzten, sondern neu auch das Berufsfeld der Kinderpädagogik etablierte. Lutz’ Entwicklungsmodell beginne dabei mit der «animalischen Natur». Das Kind durchlaufe mehrere Stufen bis es schlussendlich zur «Reife» gelangt. Diese beinahe höchste Stufe, die auch zur «Entfaltung des Persönlichkeits­kerns» beitrage, erreiche das Kind im frühen Erwachsenenalter. Die Annahme zur Lehre der psychi­schen Störungen von Lutz charakterisiere sich dadurch, dass lediglich eine normale bzw. natürliche Ent­wicklung bei gesunden Kindern stattfinden könne. Weiter ging man davon aus, dass der Entwick­lungsstand eines jeden Kindes beeinflussbar sowie formbar sei. Habe die Mutter beispielsweise eine psychische Erkrankung, müsse nicht unbedingt auch das Kind zwingend daran erkranken. Durch die neu aufkommende sorgfältige und individuelle Beobachtung der Kinder kam er zum Schluss, dass ein Kind nur eine psychische Störung aufweise, wenn seine Entwicklung bis dahin fehlge­leitet, ge­stört oder gar stehen geblieben sei. Wichtig zu erwähnen sei, dass nicht jedes Kind die Rei­fungsstufe mit demselben Alter erreiche und somit jedes Kind seinen eigenen Reifungsprozess durchmache.
 
CAMILLE JACCARD (Lausanne) behandelte den Umgang mit der Problematik der Vererbung psychi­scher Krankheiten und den verschiedenen zugrundeliegenden wissenschaftlichen Traditionen und Verständnissen. Die Forschungsergebnisse basieren auf Quellen des Klinikums Office médico-péda­gogique vaudois sowie auf wissenschaftlichen Publikationen. Jaccard untersuchte hierfür rund 14'000 Patientinnen- und Patientendossiers aus dem Kanton Waadt von 1942 bis 1950, um die unter­schiedlichen Herangehensweisen und Interventionsmethoden bei der Diagnose und Behandlung ei­ner psychischen Störung von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen zu erfas­sen. Vor allem im Bereich der Kinderpsychiatrie seien sich die unterschiedlichen Fachbereiche, wie die Medizin, die Psychologie oder eben auch die Pädagogik nicht immer einig. Dies sei vor allem in den Sprechstunden ersichtlich geworden, in denen alle Fachpersonen miteinander im stetigen Aus­tausch waren. Aus diesen gemeinsamen Tätigkeiten entstand die Medizinische Psychologie. In den dafür vorgesehenen Sprechstunden wurde das Kind vorerst in seiner natürlichen Umwelt beo­bach­tet. Anschliessend wurden aber auch klinische Tests durchgeführt, mit deren Hilfe herausge­funden wurde, ob Anzeichen für eine psychische Störung vorlägen. Schlussendlich könne dann in einem wei­teren Sinne beobachtet werden, dass die unterschiedlichen Fachpersonen auch unterschiedliche Interventionsmethoden aufzeigten und anwendeten.
 
MIRJAM JANETT (Bern) widmete sich dem Umgang mit Intersexualität im Kinderspital Zürich, wobei sie den Zeitraum von 1945 bis 1970 untersuchte. Das Kinderspital etablierte sich als Behandlungs­zentrum für Kinder, denen kein eindeutiges Geschlecht zugewiesen werden konnte. Während lange die äusserliche Erscheinung entscheidend war, welchem Geschlecht ein Kind als «mehr zuge­hörig» zugewiesen werden konnte, wurde am Kinderspital neu die Psyche als neue Diagnosekatego­rie ge­nutzt. Anhand von psychiatrischen Gutachten untersuchte Janett die Vorgehensweise bei der Zu­schreibung des psychischen Geschlechts. Das psychische Geschlecht konnte so oftmals nur von Ärz­tinnen und Ärzten wie auch Psychologinnen und Psychologen bestimmt werden, weil die Kinder meist noch sehr jung waren. Anhand von Beobachtungen wurde entschieden, welches Geschlecht, dem Kind mehr entspreche.

Hier liessen sich oft stereotypische Entscheidungen beobachten. So wurde beispielsweise einem Kind mit einem undefinierten Geschlecht, das gerne mit Puppen spielte, bei dem aber kein Kinderwunsch zu beobachten war, das weibliche Geschlecht zugeschrieben. Die Natur des Kindes wurde durch diese neue Diagnoseweise neu gesehen und die Vorstellung der Natürlichkeit der Geschlechter be­einflusste die Behandlungsempfehlungen. Die Geschlechtszuschreibungen wurden mit medikamen­tösen und chirurgischen Behandlungen umgesetzt. Medikamentöse Behandlungen waren dabei vor allem von Cortison begleitet, bei chirurgischen Behandlungen wurde hingegen mithilfe einer Opera­tion, nun neu ein «eindeutiges» Geschlecht verliehen.
 
Der Kommentar von URS GERMANN (Bern) zeigte auf, dass es nicht einfach war, Verbindungen zwi­schen den drei Referaten zu finden. Dennoch aber konnte beobachtet werden, dass das Zusammen­spiel und die Wechselwirkung der Anlage und der Umwelt ein sehr wichtiger Aspekt für die Psychiat­rie und viele weitere Forschungsgebiete darstelle. Beim Beitrag von Emmanuel Neuhaus konnte man die doch paradigmatische Betrachtung des Erwachsenwerdens nach einem biologi­schen Programm beobachten. Diese Entwicklung mündet dann schliesslich in das Selbst einer jeder einzelnen Person. Der Vortrag von Camille Jaccard ging auf die Vererbungs- und die Milieutheorie ein, die noch heute eine bedeutende Rolle in der Psychologie spielt. Beim letzten Beitrag von Mirjam Janett wurde der Fokus daraufgelegt, welches Geschlecht einer Person nach bestimmten Beobachtungskriterien «ge­geben» werden sollte.



Panelübersicht:

Emmanuel Neuhaus: «Wohin führt der Entwicklungsvorgang die gesunden Kinder und Jugendlichen? Zur Reife.» Das kinderpsychiatrische Entwicklungsparadigma beim Zürcher Kinderpsychiater Jakob Lutz

Jaccard Camille: La question de l’hérédité au prisme des dossiers de patients de l'Office médico-pédagogique vaudois (1942-1950)

Janett Mirjam: Die «Natur» des Kindes erkennen. Psychiatrie, Geschlechterwissen und medizinische Behandlung von «Intersexualität», Zürich 1945 bis 1970



Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.

Manifestazione: 
6. Schweizerische Geschichtstage
Organizzato da: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Data della manifestazione: 
29.06.2022
Luogo: 
Genf
Lingua: 
d
Report type: 
Conference