Verantwortung: Joachim Eibach
Referierende: Dominik Erdmann / Joachim Eibach / Thomas Nehrlich
JOACHIM EIBACH (Bern) begann mit einführenden Worten zu Alexander von Humboldt als dem Naturforscher des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. Seine Schriften würden darüber hinaus sowohl in Lateinamerika, Frankreich und der USA breit rezipiert. Diese unterschiedliche Rezeption führe zu anderen «Humboldts». So wurde Humboldt in den jeweiligen Kontexten nicht nur als Naturforscher, sondern auch Sozialwissenschaftler, Sozialanthropologe, Historiker, Stilist, Essayist und «Meister der kleinen Form»1 rezipiert. Um Alexander von Humboldt zu verstehen, müsse er in seinen multiplen Kontexten gesehen werden. Für seine Forschung waren die globalen und lokalen Einordnungen ebenso wichtig, wie seine Betrachtung der Natur als ästhetischer Raum. Abschliessend beschrieb Eibach die Ausgangsthese des Panels: Es gäbe sehr viele verschiedene Ansätze bei Humboldt, einige plurale Perspektiven und differente zeitgenössische Diskurse. Dabei gehe es im Panel nicht um die Suche nach einer grossen Idee oder Innovation, sondern um die Beschreibung der Pluralität von Humboldt, in seinen jüngeren wie auch älteren Jahren.
DOMINIK ERDMANN (Berlin) beleuchtete das heute umstrittene Verhältnis Humboldts zur Romantik- und Naturforschung. Erdmann verwies als Quelle auf die frühen Arbeiten Humboldts und seine grossen Werke wie Ansichten der Natur und Kosmos. Um die Jahrhundertwende erlebte das nature writing eine Blütezeit. In diesem Genre, ebenso wie in der Romantik, vereinigten sich naturwissenschaftliche, -historische und -philosophische Ansätze in einem die Natur beschreibendes und empfindendes Subjekt. Erdmann wies aber darauf hin, dass die romantische Natur nicht nur ein literarischer Gegenstand sei, sondern ein multimediales und interdisziplinäres Projekt. Dem Vortrag lag die These zugrunde, dass Humboldt ein ambivalentes Verhältnis zur Romantik hatte. Auf der einen Seite spielte er in seinen Werken explizit und implizit immer wieder auf romantische Themen und Stilphänomene an, zum anderen grenzte er seine empirischen Beschreibungen wiederholt gegen eine Naturforschung ab, die sich spekulativer Methoden und apriorischer Prinzipien bediente. Daraus leitete Erdmann die These ab, dass Humboldt in seinen Schriften romantische Stilelemente benutzte, um seine eigenen empirischen Weltanschauungen bei seinen Zeitgenossen durchsetzungsfähig zu machen. Im Werk Ansichten der Natur gäbe es einige Bezugnahmen zur Romantik. Hier handele es sich vor allem um thematische und stilistische Bezüge. Nach Erdmann wollte Humboldt mit diesen Bezügen auf die Romantik seinen Leserinnen und Lesern die Natur als Ganzheit präsentieren. Nach Humboldt sei eben nur ein Teil der Natur subjektives Empfinden, der andere sei die objektive Erkenntnis der Natur. Dies drücke sich in Ansichten der Natur einerseits durch den literarisch durchformten Hauptteil aus und anderseits durch die dazugehörigen Endnotenapparate in denen Humboldt die Ergebnisse empirischer Naturforschung referiert. Zum Schluss fasste Erdmann diese Ambivalenz in der Kunstform des Panoramas zusammen, worin sich Naturerkennen und Naturempfinden vereinen.
Joachim Eibach setzte die Schriften Humboldts in den Kontext der zeitgenössischen Diskurse und etikettierenden Begriffe, wie beispielsweise den Begriff des «edlen Wilden», der nicht nur dazu diente Indigene zu kategorisieren, sondern auch in den zeitgenössischen Diskurs zu setzen. Humboldt beschrieb in seinen Reiseberichten viele verschiedene Menschen, sowohl indigene, aber auch andere Akteure und Akteurinnen in ihren natürlichen, sozialen und kulturellen Kontexten von Südamerika. Eibach ging in seinem Vortrag auf verschiedene Quellentexte ein: Ausschnitte aus verschiedenen Briefen, Essays und aus Humboldts Reisetagebuch seiner Amerikareise. Die schriftliche Auseinandersetzung Humboldts mit der indigenen Bevölkerung fände mit gegensätzlichen Begriffen statt. So wechsele seine Beschreibung zwischen Empathie und Distanzierung, zwischen Akkumulation und Alteritätserfahrung, zwischen Verstehen wollen und Verunsicherung. Es stelle sich für Humboldt das Problem der Einordung dieser Beobachtungen in die etablierten Denkmodelle seiner Zeit. Charakteristisch für ihn, so Eibach weiter, sei die Falsifizierung verbreiteter Vorstellungen, die oft mit spürbarer Leidenschaft formuliert wurden. Diese Ambivalenz fände ihren Ursprung in dieser Hin- und Hergerissenheit zwischen zeitgenössischem Begriffskorpus und eigener Betrachtung. Es stelle sich die Frage wie Humboldt mit den Menschen, denen er begegnet war, auseinandersetzte. Eibach vertrat dabei die These, dass Humboldt seine Begegnungen zwar immer aus Sicht seiner Zeitgenossen wahrnahm, diese Sicht aber auch immer wieder kritisch hinterfragte.
Nicht nur die Wahrnehmung von Menschen wurden in Humboldts Schriften thematisiert, sondern ebenfalls deren Wissen und Praktiken. Obwohl er oft magische Vorstellungen und unglaubwürdige Mythen der indigenen Bevölkerung kritisiert hätte, stelle er dieselben Vorstellungen oft auch auf Seiten christlicher Missionare und im europäischen Diskurs fest. Indigene Mythen hätten für Humboldt aber auch einen Reiz und Erkenntniswert. Mythen ermöglichten Rückschlüsse auf Veränderungen der Natur in früherer Zeit oder gäben den Denkanstoss zu sonstigen naturwissenschaftlichen Ansätzen. Im Vortrag wurde dafür das Beispiel der Guácharo Höhle in Venezuela herangezogen. Hier scheinen religiöse Mythen verhindert zu haben, dass die Nachtvögel, welche in dieser Höhle nisteten und für die Menschen als Nahrungsquelle dienten, ausgestorben seien. Der religiöse Mythos verhinderte nämlich, dass die Indigenen zu tief in die Höhle vordrangen und retteten damit den Bestand der Vögel. Natur, schloss Eibach sein Referat, war ein zentraler Begriff für Humboldt und könne Verschiedenes bedeuten. Nicht unerheblich dabei sei, dass für den Forscher nicht normative Begriffe oder europäische Entwicklungsmodelle im Vordergrund standen, sondern es vielmehr um die Frage ging, mit welchem Wissen, Erkenntnissen und Praktiken die indigenen Bevölkerungen ihr Überleben sicherten.
THOMAS NEHRLICH (Bern) versuchte Alexander von Humboldt in seiner späteren Lebensphase anhand seiner Selbstbeschreibung und seiner Forschung einzuordnen. Entscheidend im Vortrag war die Selbstbeschreibung Humboldts im fortgeschrittenen Alter. Nehrlich stützte sich hierbei auf die veröffentlichten Briefe, die vielfach bereits zu Lebzeiten weltweit veröffentlicht wurden. Humboldt war sich dieser Verwendung bewusst und nutzte die Korrespondenz für seine Selbstdarstellung in einer breiteren Öffentlichkeit. Nehrlich benannte die Selbstbeschreibung von Humboldts «antediluvianischem» Alter als Ausgangspunkt seines Vortrages. So beschreibe Humboldt sein Alter immer wieder unterschiedlich, wie beispielsweise mit den Begriffen «vorsündfluthlich», «greis» oder «Uralter». So handele es sich bei der öffentlichen Erwähnung verschiedener Altersbegriffe scheinbar um selbstironische Demutsgesten, die seinem sarkastischen Humor ebenso zugeschrieben werden könnten wie seiner Einsicht, in manchen Forschungsgebieten überholt geworden zu sein. Die Selbsteinordnung in ein historisches «antediluvianisches» Zeitalter weise darauf hin, dass er sich selbst als epochalen Gegenstand wahrnahm. Im Bewusstsein seines Alters, versuchte sich Humboldt an der Erforschung der Gründe für das hohe Alter von Drachenbäumen und anderen Gewächsen. Er untersuchte unterschiedliche Drachenbäume hinsichtlich deren Wachstum und Grösse, kam aber letztendlich nicht zu einer abschliessenden Antwort. Sein Alter war ebenfalls für andere Forschungsansätze ein wichtiger Motivator. Nehrlich beschrieb die Forschung Humboldts auf dem Gebiet des Vulkanismus. Dabei ging es dem alternden Forscher um die Entstehung und Lebenszeit der Erde selbst. Seine Erkenntnisse trugen dazu bei, dass sich der Plutonismus durchsetzte, demzufolge sich Gestein ursprünglich auf vulkanischen Aktivitäten zurückverfolgen lassen. Humboldts Selbsthistorisierung und Selbstgeologisierung, verstand Nehrlich schlussendlich als den Versuch, eine Strategie zu entwerfen, um mit der eigenen Sterblichkeit umzugehen und seinen Übergang in den Tod als Übergang in das Reich der Geologie zu beschreiben.
Alle drei Vorträge zeigten besonders gut auf, wie vielseitig, ambivalent und teils auch widersprüchlich die historische Figur Alexander von Humboldt war. Dabei ging es in den Vorträgen mehr um die Person Humboldt und seine Auseinandersetzung mit sich selbst, seiner Umwelt und der indigenen Bevölkerung und nicht um die Beziehung zwischen Indigenen und ihrer Umwelt an sich. Trotzdem gab eine eindeutige Kontinuität. Ob es nun um die literarische Verwertung von romantischen Stilarten, den Umgang mit zeitgenössischen Diskursen und Etikettierungen oder die Selbstbeobachtung und Selbsthistorisierung ging, Humboldt zeigte sich immer als Naturforscher und Denker.
1 Zitat von Joachim Eibach im Vortrag nach Oliver Lubrich, vgl.: «Meister der kleinen Form», in: Universität Bern, Media Relations, Alexander von Humboldt geht online, 14.9.2021, https://www.unibe.ch/aktuell/medien/media_relations/medienmitteilungen/2..., Stand: 02.07.2022.