Verantwortung: Riccardo Rossi / Fynn Holm
Referierende: Stéphane Gal / Riccardo Rossi / Fynn Holm
Kommentar: Perrine Camus-Joyet
Im Zentrum der Beiträge stehe die Frage, was mit unserer Konzeption des ‹Alpinen› geschehe, wenn interkontinentale Perspektiven mitbedenkt würden, eröffnete RICCARDO ROSSI (Zürich) das Panel. PERRINE CAMUS-JOYET (Grenoble) ergänzte, dass es das gemeinsame Ziel der Vortragenden sei, die Konstruktion des Alpinen zu hinterfragen. Im Zuge des europäischen Imperialismus seien die mitteleuropäischen Alpen zu einer Referenzkategorie geworden, an der andere Berge gemessen wurden. Hier stelle sich die Frage, was eine Region zu einer ‹alpinen› Region mache und auf welchen Netzwerken und Faktoren eine solche ‹Alpinisierung› begründe.
Der erste Vortrag von STÉPHANE GAL (Grenoble) zeigte auf, inwiefern die Alpen auch in Europa fremd sein konnten und wie ihre ‹Entdeckung› zur Bildung verschiedener Identitäten beitrug. Gal beleuchtete am Fall der französischen Alpenexpeditionen im 16. Jahrhundert und an einer ideologischen Stellungnahme des Autoren Jean Menenc aus der Region Haute-Savoie, dass die Alpen nicht nur einen landschaftlichen, sondern auch einen politischen und kulturellen Raum darstellten.
Gal begann mit der Erläuterung der französischen Königsexpeditionen in die italienischen Alpen. Die französischen Könige aus dem Loiretal seien per Definition nicht alpin gewesen. Über ein Einführungsritual für neue Könige, seien die Alpen aber trotzdem zu einer identitätsstiftenden Kategorie für die Monarchen geworden: Begleitet von einem grossen Heer begaben sich neu ernannte Könige auf eine abenteuerliche Reise durch die Alpen. Diese stellten für sie ein exotisches Universum, die steilen Bergwände eine zu bezwingende Sperre dar. Zum einen hätten die Könige auf diesen langen Märschen ihre Macht zur Schau gestellt, zum andern sei damit auch ein erster Krieg gewonnen worden, der Krieg gegen die widrige Bergwelt. Gal unterstrich sein Argument mit Bildern aus der königlichen Ikonografie.
Die Alpen seien jedoch auch von lokalen Akteuren als identitätsstiftende Kategorie in Anspruch genommen worden, wie Gal am Beispiel des Savoyarden Jean Menenc aufzeigte, der im Kontext der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts in einem Text Tal und Berg gegenüberstellte. Laut Gal repräsentierten die Alpen darin den Katholizismus. Menenc hätte hier den Angriff aus dem Tal angeprangert und die Alpen als Ort der Tugend portraitiert, indem er das einfache und arme Leben der montagnards mit Stolz assoziierte. In diesem Kontext seien Höhe und Vertikalität zum Massstab von Tugend avanciert. Die Alpen hätten im 16. und 17. Jahrhundert verschiedenen Gruppen – den Königen sowie der lokalen Bevölkerung – als Flagge ihres Stolzes und ihrer Tugenden gedient. Gal beendete seine Ausführungen mit dem Ausblick, dass sich die Rolle des Alpinen aber in den darauffolgenden Jahrhunderten wandelte, womit er die Dynamik identitärer Prozesse hervorhob.
Im zweiten Vortrag begann Riccardo Rossi mit einem ausführlichen historiographischen Überblick über die zwei wirtschaftshistorischen Forschungsfelder, an denen sich sein Projekt orientiert: zum einen die Literatur, die die alltagsgeschichtlichen Einflüsse interregionalen Handels untersucht, und zum andern die Literatur zur Wirtschaftsgeschichte der Alpen. In seiner Untersuchung richtete Rossi den Blick auf die Seidenindustrie in den Tessiner und norditalienischen Alpen. Im 16. Jahrhundert seien in Valtellina und Valchiavenna Seidenindustrien entstanden, die schliesslich alle Produktionsschritte organisierten – vom Pflanzen der Maulbeerbäume bis zum Weben der Stoffe.
Rossi betonte, dass bestehende transalpine Handelsrouten eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung spielten. Wissen aus China sei von einer breiten Reihe von Akteuren importiert und adaptiert worden, bevor es über Handelsrouten in die Alpen gelangte, wo das Wissen und die Praktiken der Seidenproduktion von der lokalen Bevölkerung in ihre Arbeit integriert wurden. Rossi präzisierte am Ende seines Vortrages, die transalpinen Handelsrouten und ihre Verbindungen zu grösseren norditalienischen Städten der alpinen Seidenindustrie hätten auch insofern als Infrastruktur gedient, dass sie an Migration geknüpfte Geldflüsse ermöglichten. Er nannte das Beispiel einer nach Venedig migrierten Tessiner Familie im Süsswarengeschäft, die sich finanziell an der Seidenproduktion beteiligte.
Im Anschluss präsentierte FYNN HOLM (Harvard/Zürich) einen dritten Vortrag zur Konstruktion der Japanischen Alpen, einer im Zentrum des Inselstaates gelegenen Bergregion. Holms Präsentation begann mit der Gegenüberstellung zweier aktueller Fotografien: Ein Bild zeigte in Schweizer Trachten gekleidete Alphornspieler an der jährlichen Eröffnungsfeier der Japanischen Alpen, das zweite Shinto Priester an derselben Zeremonie, die jeweils im Frühling die Wandersaison einläutet. Holms zielte mit diesem Beispiel auf den überraschenden Befund, dass von diesen zwei Traditionen das Alphornspiel die länger etablierte sei. Holms stellte sich in seiner Untersuchung die Fragen, wie eine japanische Landschaft alpin wurde und welche Konsequenzen aus einer solchen Zuschreibung erfolgen.
Sein zentrales Argument legte Holms gleich zu Beginn dar. Dienten die Alpen im Kontext des europäischen Imperialismus als Referenzkategorie für die wissenschaftliche und industrielle Erschliessung anderer Bergregionen, so habe sich die Situation in Japan anders gestaltet. Das einzige nicht-europäische ‹moderne› Empire habe mehr agency darüber besessen, wie und welche Ideen es importierte. Daher seien die Japanischen Alpen nicht als Kopie, sondern als adaptierte Auffassung des Alpinen zu verstehen.
Holms illustrierte dies am Beispiel der Kamikōchi Region. Noch bis 1927 seien diese Berge als unberührte Wildnis beschrieben worden – insofern wahr, dass zur Edo-Zeit keine Siedlungen existierten, aber dahingehend falsch, dass Waldarbeiter in Kamikōchi Holz fällten. In der Meiji-Periode wurden Versuche unternommen, die Berge zu kolonisieren; darunter das Projekt einer Rinderfarm im Schweizer Stil. Dies sei relevant, da diese Kühe die Landschaft mit der Zeit zu verändern begannen und sie visuell den Schweizer Alpenwiesen – da das Alpwirtschaftsmodell imitierend – annäherten.
Als alpine Landschaft wurde Kamikōchi im späten 19. Jahrhundert vom Briten Walter Weston ‹entdeckt›. Er verbreitete die Idee Japanischer Alpen in Europa genauso wie in Japan selbst. Die anschliessende Betitelung Nihon Arupusu sei als Akt des japanischen nation building zu lesen.
Japanische Bergsteiger, beobachteten auf Reisen in der Schweiz, wie die Alpen wirtschaftlich genutzt werden. Nach dem Modell von Zermatt und Chamonix wurden in Kamikōchi Resorts gebaut, um den ästhetischen Wert der Berge zu kommerzialisieren. Holms schloss mit der Bemerkung, dass bis heute jährlich über eine Million Touristinnen und Touristen nach Kamikōchi reisen – ein Phänomen, das zunehmend zu einem Umweltproblem werde, da der Tourismus die lokale Biodiversität bedrohe.
Nach einem Kommentar von Perrine Camus-Joyet zu den Beiträgen öffnete sich das Panel für Fragen aus dem Publikum. Besonders interessant war Holms Entgegnung auf die Nachfrage, wie denn die Japanischen Alpen vor dieser Zuschreibung genannt wurden: Sie hätten keinen Namen in diesem Sinne gehabt. Jedes Dorf habe die Berge jeweils anders benannt – eine Herausforderung für Kartografen im 19. Jahrhundert. Betonten alle drei Vorträge die Bedeutung politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Eliten, war Perrine Camus-Joyets abschliessende Aufforderung sehr relevant, auch die Teilnahme der lokalen Bevölkerungen an diesen Konstruktionen hervorzuheben.
Panelübersicht:
Stéphane Gal: Les Alpes: une identité à l’époque moderne?
Riccardo Rossi: Mountains in the Shape of the Globe: Social and Economic Impacts of Transoceanic Exchanges on the Southern Valleys of the Three Leagues
Fynn Holm: Creating a Swiss Mountain Valley: The Transformation of the Kamikōchi Valley in the Japanese Alps.
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.