Il portale professionale svizzero per le scienze storiche

Panelbericht: Fabrikgesellschaft. Kritik am Preis des Wohlstands im «Wirtschaftswunder»

Autor / Autorin des Berichts: 
Andrea Schweizer
andrea.schweizer@hist.uzh.ch
Universität Zürich

Citation: Schweizer Andrea: « Panelbericht: Fabrikgesellschaft. Kritik am Preis des Wohlstands im «Wirtschaftswunder» », infoclio.ch comptes rendus, 09.07.2019. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0200>, consulté le 07.11.2024.
Verantwortung: Sibylle Marti / Brigitta Bernet
Referierende: Adrian Zimmermann / Beat Rathgeb / Sebastian Voigt
Kommentar: Brigitta Bernet

PDF-Version des Berichts


Das von SIBYLLE MARTI (Hagen) und BRIGITTA BERNET (Basel) organisierte Panel begann mit einer kurzen Einführung. Darin ging Sibylle Marti auf die «trente glorieuses» und das Aufkommen der «Normalarbeit» ein, die, ebenso wie die Totalisierung der «Fabrikgesellschaft», bereits von den Zeitgenossen kritisiert worden seien. Diese Kritik, sie kam unter anderem von militanten Betriebsgruppen und Gewerkschaften, sei jedoch sowohl in der kollektiven Erinnerung als auch in der Geschichtsschreibung vergessen gegangen. Die Organisatorinnen des Panels sind aber der Meinung, dass es für die aktuellen Debatten um Arbeit produktiv sei, den zurzeit beklagten Niedergang der «Normalarbeit» mit der in der Vergangenheit daran geäusserten Kritik in einen Dialog zu bringen.

Als ersten Beitrag stellte ADRIAN ZIMMERMANN Max Arnold vor, der als geschäftsleitender Sekretär des Schweizerischen Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) von 1947 bis 1974 ein führender Kopf der Gewerkschaftsbewegung in der Schweiz der Nachkriegszeit war. In den 30 Jahren als Geschäftsführer des VPOD setzte er sich denn auch für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik ein, die nicht aus dem Organisieren von Streiks bestand, sondern sich vor allem in seiner Grundhaltung zeigte. Mit seinen Positionen habe Arnold daher auch in den eigenen Reihen angeeckt und sei oft als «Gewerkschaftsbonze» bezeichnet worden. Zimmermann ging in seinem Beitrag nicht detailliert auf die bereits gut bekannten Aspekte der Biografie Max Arnolds – wie zum Beispiel seine friedenspolitischen Positionen und seine Kritik am Klima der Schweiz im Kalten Krieg – ein. Stattdessen zeigte er die grundlegenden wirtschaftspolitischen Orientierungen Max Arnolds anhand verschiedener Quellen, wie Zitaten von und über ihn, Zeitungsinseraten oder einem äusserst künstlerischen Referatsdispositiv. Anhand der Konjunkturdämpfung von 1964/65 machte der Referent deutlich, welche realpolitischen Züge Max Arnold aus seinem Modell des demokratischen Sozialismus zog und wie er sich damit gegen die offizielle Politik des Bundesrates stellte. Als Fazit hob Zimmermann nochmals hervor, dass für Max Arnold die Kernaufgabe, also die betriebliche Interessensvertretung, und das politische Mandat der Gewerkschaften immer untrennbar verbunden gewesen seien, wenn er sich zum Beispiel für die Friedenspolitik und gleichzeitig die Interessensvertretung des Militärpersonals einsetzte. Darin spiegelt sich auch Zimmermanns These, dass Max Arnold ein Brückenbauer zwischen der «alten» und der «neuen Linken» in der Schweiz gewesen sei.

Ebenfalls auf die Geschichte der Schweiz im Kalten Krieg bezog sich der Beitrag von BEAT RATHGEB (Zürich), der auf Oral History-Interviews basierte, die er im Rahmen seiner Masterarbeit geführt hatte. Einsteigend mit einem Zitat aus einem der Interviews zeigte der Referent zuerst auf, wie die neue Linke zu Beginn der 1970er Jahre die Arbeiterklasse als Mobilisierungsgrund entdeckte und mit dem Konzept der Proletarisierung begann, also Anstellungen in Fabriken zu suchen, um in diesen Agitation von innen zu betreiben. Anschliessend konzentrierte sich Rathgeb auf die Rolle der Migrantinnen und Migranten in den neuen Arbeitskämpfen der 1970er Jahre. Damit wollte er seine These bestätigen, dass sich die neue Linke ohne Migrantinnen und Migranten nicht so stark für die Proletarisierung interessiert hätte. Rathgeb betonte, dass die Idee der Proletarisierung in ganz Westeuropa zirkulierte, vor allem ab 1970, als es verstärkt zu Arbeiterunruhen kam. Als Triebfedern der Streiks in der Schweiz hob der Referent die Italiener und Spanier hervor, die hier als «Menschen zweiter Klasse» lebten, und für die sich die Gewerkschaften nicht interessierten. Dementsprechend identifizierte er die Kämpfe und Streiks der Migranten, die in der Presse heftig diskutiert wurden, als Triggermomente für die Politisierung der neuen Linken und ihr wachsendes Interesse an den Anliegen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Durch den Gang in die Barackensiedlungen und die Fabrik hätten sich die Aktivistinnen und Aktivisten der neuen Linken eine Radikalisierung der Arbeiterschaft und ihre Auflehnung gegen die kapitalistische Rationalisierung erhofft. Aus den von Rathgeb geführten Gesprächen ging jedoch hervor, dass die Aktivistinnen und Aktivisten nicht sehr erfolgreich waren. So wurden sie zum Beispiel von Gewerkschaftsseite heftig kritisiert oder bereits nach wenigen Monaten wieder aus der Fabrik entlassen. Den Grund für den Misserfolg und das anschliessende Verschwinden des Konzepts der Proletarisierung sah Rathgeb im Unvermögen der Aktivisten, sich in der Arbeitsrealität zu Recht zu finden, und der Tatsache, dass es nach der Wirtschaftskrise für die Arbeiterinnen und Arbeiter auch weniger Spielräume gab, um ihre Anliegen durchzusetzen. Mit einem – wie er selbst sagte – überspitzten Fazit schloss Rathgeb seinen Beitrag, in dem er hervorhob, dass nicht die Aktivisten der neuen Linken die Arbeiter politisiert hätten, sondern umgekehrt sei durch die Arbeitskämpfe von politisch aktiven Migranten die neue Linke politisiert und deren Selbstverständnis beeinflusst worden.

Der letzte Beitrag dieses Panels von SEBASTIAN VOIGT (München) öffnete den geographischen Raum und bezog sich auf die «wilden Streiks» und die linksradikale Kritik an den Gewerkschaften in der Bundesrepublik in den späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Der Referent begann mit einer historischen Einordnung seines Beitrags in die Zeit nach dem ersten wirtschaftlichen Einbruch in den Jahren 1966/67, der jedoch in der Bundesrepublik relativ schnell überwunden worden war, auch dank dem Verzicht der Gewerkschaften auf eine Lohnerhöhung. In den sogenannten «wilden Streiks» von 1969 in der ganzen Bundesrepublik habe sich dann jedoch der aufgestaute Unmut vieler Beschäftigter gezeigt, vor allem in Bezug auf die ausbleibende Lohnerhöhung und die mangelnde Unterstützung der Arbeiterinnen und Arbeiter durch die Gewerkschaften. Sogar in der chemischen Industrie, die sich eigentlich durch eine sozialpartnerschaftliche Struktur auszeichnete, brach 1971 ein Flächenstreik aus. Als Verursacher dieses Streiks identifizierte Voigt nicht die Gewerkschaften, sondern die sogenannten K-Gruppen – ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung, die das Proletariat als revolutionäres Subjekt sahen und sich unter anderem auf Mao, Enver Hoxha und Pol Pot bezogen – und linksradikale Gruppen. Diese Gruppen hätten Gewerkschaftspolitik betrieben, da sie gemäss Voigt die offiziellen Gewerkschaften als Verräter der Arbeiterinteressen sahen und sie als «Gewerkschaftsbonzen» bezeichneten. In seinem Fazit fasste Voigt nochmals zusammen, dass die Gewerkschaften seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik in die Hinterposition geraten und bis Mitte des Jahrzehnts die oppositionellen linkssozialistischen Strömungen der Gewerkschaften sowie die dogmatischen K-Gruppen sich für die Anliegen der Arbeiterschaft eingesetzt hätten. Abschliessend machte der Referent einen aktuellen Bezug und legte die Notwendigkeit von gesellschaftskritischen Debatten nach dem Anstieg der Ungleichheit und der Armut nach der Wirtschaftskrise von 2007/08 nahe.

Nach einem kurzen Kommentar von Brigitta Bernet diskutierten die Anwesenden mit den Vortragenden unter anderem die Frage, ob in der BRD – ähnlich wie in der Schweiz – die K-Gruppen in den 1980er Jahren in den Gewerkschaften Karriere gemacht hätten. Sebastian Voigt verneinte dies, da die Gewerkschaften auch in den folgenden Jahrzehnten den kommunistischen Gruppen gegenüber sehr ablehnend gewesen seien. Eine intensiv diskutierte Frage stellte sich auch zur Quellenlage. So verteidigte Sebastian Voigt seinen Zugriff über die Gewerkschaftsgeschichte und betonte, dass auch die Geschichte der K-Gruppen anhand ihrer eigenen Quellenbeständen beleuchtet werden sollte.


Panelübersicht:

Zimmermann, Adrian: Max Arnold: Kämpferische Gewerkschaftspolitik während der Boomjahre

Rathgeb, Beat: „Proletarisierung“. Der Gang der Neuen Linken in die Fabrik

Voigt, Sebastian: „Gegen das System und die Gewerkschaftsbonzen.“ Wilde Streiks und linksradikale Kritik an den Gewerkschaften in der Bundesrepublik in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren



Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen

Manifestazione: 
5. Schweizerische Geschichtstage
Organizzato da: 
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Universität Zürich
Data della manifestazione: 
06.06.2019
Luogo: 
Zürich
Lingua: 
d
Report type: 
Conference