Verantwortung: Joël Floris / Séveric Yersin
Referierende: Chantal Camenisch / Melanie Salvisberg / Séveric Yersin
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JOËL FLORIS (Zürich) eröffnete das Panel mit einer Erläuterung des Titels betreffend der Schnittstelle von Natur und Gesellschaft. Epidemien von Mensch und Tier sind Teil der Natur und üben Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und den Umgang mit Epidemien aus. Die gesellschaftlichen Reaktionen hätten wiederum Einfluss auf den Verlauf und Häufigkeit von Epidemien. Es entstehe so eine wechselseitige Beziehung zwischen beiden Sphären.
CHANTAL CAMENISCH (Bern) beleuchtete im ersten Beitrag die Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie der Pest in den Städten Bern, Rouen und York während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Sie konzentrierte sich dabei auf die Massnahmen, welche die städtischen Obrigkeiten trafen, um die Bevölkerung – und nicht zuletzt sich selbst – zu schützen. Die Städte wurden aufgrund ihrer unterschiedlichen Grössen, geographischen Lagen und Herrschaftsverhältnisse ausgewählt, wobei es absichtlich keine vergleichende Analyse werden sollte. Alle drei Städte weisen für den betrachteten Zeitraum umfassendes Datenmaterial auf. Camenisch gliederte ihren Vortrag mit Hilfe der fünf Massnahmen, die in jeder betrachteten Stadt in unterschiedlichem Masse zur Anwendung kamen: Quarantäne, Pflegeeinrichtungen, Kontaktminimierung, Hygiene sowie Massnahmen betreffend Tieren. Dabei ging sie chronologisch vor und begann mit der Pestwelle des 14. Jahrhunderts.
In allen drei Städten wurden für die von einer Epidemie betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner Quarantänen verhängt. Diese äusserten sich beispielweise darin, dass Türen und Fenster eines betroffenen Haushalts versiegelt wurden und den Kranken sporadisch und nur gegen Bezahlung Nahrung und Trinkwasser vorbeigebracht wurde. Lediglich in Rouen bestand gemäss Camenisch eine Meldepflicht für Seelsorger, wenn diese von Kranken erfuhren. In Rouen und York wurden zudem ausserhalb der Städte Barracken für Kranke errichtet, um möglichst viele Kranke ausserhalb der Stadttore zu bringen. Eine Verlegung in diese Lager habe dabei nicht selten den sicheren Tod bedeutet. Spitäler beziehungsweise Pilgerstätten wurden ebenfalls zu Lagern für Kranke umfunktioniert. Entsprechend sei die Todesrate unter Pflegerinnen sehr hoch gewesen. Für die zumeist aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Kranken habe die Unterbringung in Spitälern allerdings auch eine bessere Verpflegung als in ihrem normalen Alltag bedeutet.
Die Obrigkeiten versuchten Kontakte innerhalb der Bevölkerung zu vermindern, so wurden Messen und Märkte ausgesetzt, Bettelverbote verhängt und die Wachen an den Stadttoren verstärkt. Bern vermochte es, eine Pestwelle nahezu unbeschadet zu überstehen, weil es Thunern und Spiezern den Einlass verweigert habe, als diese beiden Orte von der Krankheit heimgesucht wurden. Betreffend Hygiene wiesen alle Städte eine verstärkte Strassenreinigung und das Ausräuchern von Häusern, Möbeln und insbesondere Kleidern zur Desinfektion vor. Zeitweise wurde der Textilhandel eingeschränkt, damit Kleider von Verstorbenen nicht in Umlauf gebracht wurden.
Da streunende Tiere bisweilen als Verbreiter der Pest betrachtet wurden, sei es zum umfassenden Keulen von Katzen und Hunden gekommen. Ob sich dadurch die Ratten und Flohkonzentration erhöhte und zur Verstärkung der Epidemie beitrug, konnte leider nicht eruiert werden. Camenisch schloss ihren Vortrag damit, dass die spätmittelalterlichen Obrigkeiten durchaus Massnahmen anwandten, die auch heutzutage beispielsweise in der Coronapandemie angewandt wurden und werden. Ausserdem habe ein breiter Austausch stattgefunden, sodass andere Städte sehr genau über den Verlauf der Epidemie und welche Ortschaften bereits betroffen waren, Bescheid wussten.
MELANIE SALVISBERG (Bern) ging anschliessend auf die zahlreichen Flussbegradigungen in der Schweiz Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und wie diese der Malariabekämpfung dienten. So war die Krankheit entlang sumpfiger Gewässer beispielsweise im Rheintal, dem Berner Seeland, um den Thuner- und Brienzersee sowie um die Tessiner Seen weit verbreitet. Der Name stammt von «mal’aria» und bedeutet «schlechte Luft», weil sie vor allem in sumpfigen, moorigen Gegenden verbreitet war. 1898 wurde schliesslich die Ansteckung aufgrund der Anopheles-Mücke nachgewiesen. Erstaunlicherweise habe sich der Name Malaria für die im deutschen Sprachraum früher als Sumpffieber oder Wechselfieber bekannte Krankheit erst ab 1900 eingebürgert, trotz der Entdeckung der tatsächlichen Verbreitungsart.
Zunächst nannte Salvisberg technische Neuerungen im 19. Jahrhundert, die grossflächige Entsumpfungen erst möglich gemacht hätten. Ausserdem hätten erst die veränderten politischen Verhältnisse durch die Gründung des Bundesstaates kantonsübergreifende Grossprojekte und deren Finanzierung ermöglicht. Hinzu kam laut Salvisberg ein neues Naturverständnis, in welchem sich der Mensch durch technische Neuerungen die Natur zum Untertan machen konnte. Innert weniger Jahrzehnte nach den Gewässerkorrekturen und Entsumpfungen war die Malaria aus der Schweiz nahezu verschwunden. Salvisberg schloss damit, dass natürlich auch verbesserte Lebensumstände und medizinische Fortschritte zur Beseitigung der Malaria beigetragen hätten. Die Flussbegradigungen hätten das Verbreitungsgebiet der Anopheles-Mücke aber stark reduziert und seien von Zeitgenossen als die wichtigste Massnahme zur Malariabekämpfung bezeichnet worden. Fraglich bleibt, wie stark andere Interessen, wie etwa die Landgewinnung, zum Entscheid der Gewässerkorrekturen beigetragen hatten.
SÉVERIC YERSIN (Basel) erläuterte im dritten Beitrag die Kontrolle und Bekämpfung von tierischen Infektionskrankheiten durch die staatlichen Institutionen in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Dabei zeigte er auf, wie die Tiere Einzug in die Gesundheitspolitik fanden und welchen Einfluss die Gesetzgebung betreffend Tierseuchen auf die Gesetzgebung über menschlichen Infektionskrankheiten hatte. Sein Vortrag war chronologisch aufgebaut und konzentrierte sich auf die staatspolitischen und gesetzgeberischen Begebenheiten.
Yersin wies darauf hin, dass in erster Linie die Kantone für die Gesundheitspolitik zuständig gewesen seien, sie aber 1848 einige Kompetenzen an den Bund abgegeben hatten. So hatte der Bund neu die Entscheidungsgewalt bei landesweiten Epidemien. Um 1860 hatten die Kantone bereits beträchtliche Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von Epidemien, insbesondere aber bei Tierseuchen, sogenannten Epizootien. Vor allem die Maul- und Klauenseuche in der stark auf Viehhaltung ausgelegten schweizerischen Landwirtschaft bereitete Probleme, weshalb einige Kantone mehr Zentralisierung gefordert hätten. 1865 forderte beispielsweise der Kanton Zürich vom Bund, mehr Massnahmen gegen Blattern, Cholera, Typhus, Lungenseuche, Rinderpest und weitere Krankheiten zu ergreifen. 1872 erliess der Bund schliesslich das «Bundesgesetz über polizeiliche Massregeln gegen Viehseuchen». Dabei wurden umfassende Massnahmen betreffend Transport, Einfuhr und Desinfektion von Tieren sowie Isolation und Desinfektion von betroffenen Stallungen beschlossen. Aufgrund der Erfahrungen mit dem Tierseuchengesetz hätte der Bundesrat erkannt, dass ein ähnliches Gesetz über menschlichen Epidemien erlassen werden musste, das schliesslich 1879 folgte. Ende des 19. Jahrhunderts gab es aufgrund dieser Gesetzgebung an der Landesgrenze sanitäre Grenzkontrollen, Grenzschliessungen und Zugangskontrollen bei Ausbruch von Epidemien. Die schärferen (Grenz-)Kontrollen sollten laut Yersin insbesondere dazu dienen, Epidemien einzudämmen, damit Grenzschliessungen verhindert und der Handel mit dem Ausland aufrechterhalten werden konnte. Abschliessend hob Yersin nochmals die Bedeutung der Tierseuchengesetze auf die Gesetzgebung über menschliche Infektionskrankheiten hervor. So sei Fleisch- und Milchkonsum essenziell für die Verbreitung von Tierseuchen auf den Menschen.
In der abschliessenden Diskussion wurden die Referierenden gefragt, welche Parallelen sie zur Coronapandemie ziehen würden. Yersin hielt einen Vergleich für insofern schwierig, da es keine vergleichbare Krankheitswelle gäbe, bei der innert so kurzer Zeit eine Impfung vorlag, geschweige denn entsprechend umfassende Daten zu deren Einsatz. Camenisch verdeutlichte den Punkt, dass die Isolation während der aktuellen Pandemie als schlecht empfunden wird, da sie zumeist allein und zuhause stattfindet. Während den Pestepidemien seien vor allem arme Bevölkerungsschichten in den Städten erkrankt und hätten in den Spitälern häufig bedeutend bessere Verpflegungs- und Unterbringungsumstände erlebt als in ihrem Zuhause. Die Isolation konnte entsprechend als etwas Gutes wahrgenommen werden. Insgesamt gaben die drei Vorträge eine gute Übersicht, über den Umgang mit Krankheitswellen seit dem Spätmittelalter und insbesondere über deren Wichtigkeit in der Politik des noch jungen schweizerischen Bundesstaates.
Panelübersicht:
Chantal Camenisch: Obrigkeitliche Massnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten in der Frühen Neuzeit am Beispiel von Bern, Rouen und York
Melanie Salvisberg: Die Verbreitung und Bekämpfung der Malaria in der Schweiz im 19. Jahrhundert
Séverin Yersin : Contagions et l’État : parallèles et transferts entre les institutions de contrôle des épizooties et des épidémies en Suisse à la fin du 19ème siècle
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
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