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Zugänge zur ländlichen Gesellschaft

Autor / Autorin des Berichts: 
Rezia Krauer, St. Gallen



Zitierweise: Krauer, Rezia: Zugänge zur ländlichen Gesellschaft, infoclio.ch Tagungsberichte, 2011. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0007>, Stand:


Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lebte und arbeitete die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land. Im Jahr 2009 wurde die Schweizerische Gesellschaft für ländliche Geschichte (SGLG) gegründet; sie fördert die Forschung zur ländlichen Geschichte und vernetzt Forschende aus verschiedenen Disziplinen, die sich mit der ländlichen Geschichte in verschiedenen Zeitepochen auseinandersetzen.

Am 30. April 2011 fand in St.Gallen die erste öffentliche Arbeitstagung dieser Gesellschaft statt. Im Zentrum stand die Frage, wie Forschende aus den Bereichen Geschichte, Ethnologie, Soziologie und Literaturwissenschaft die ländliche Gesellschaft verstehen, mit welchen Methoden sich die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Fachgebiete der ländlichen Gesellschaft nähern und welche Erkenntnisinteressen in Vergangenheit und Gegenwart die Forschenden leiten.

PETER MOSER (Bern), Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für ländliche Geschichte (SGLG), stellte einleitend die Frage, wie sich die ländliche Gesellschaft und der ländliche Raum definieren lassen und welche auf den ersten Blick eher städtisch geprägten Elemente ebenfalls als Aspekte der ländlichen Gesellschaft wahrgenommen werden können. Er plädierte für eine stetige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Begriffen. Gerade weil die bäuerliche Welt als Thema und Topos häufig in die öffentliche politische Diskussion Eingang finde, sei es Aufgabe der Wissenschaften, nach Antworten auf Fragen zu suchen, wer zur ländlichen Gesellschaft gehöre und wo der ländliche Raum beginne.

Das erste Panel, das von ANNE-LISE HEAD (Genf/Basel) moderiert wurde, galt der ländlichen Gesellschaft als Thema in der Geschichtsforschung. STEFAN SONDEREGGER (St.Gallen) widmete sich den Quellengrundlagen und den methodischen Zugängen. Für die Zeit des Spätmittelalters gab er einen Überblick über die nicht-schriftlichen und schriftlichen Quellen, die einen Zugang zur ländlichen Gesellschaft erlauben. Er regte an, die vielfach noch unedierten und noch zu wenig berücksichtigten Quellenbestände in den Archiven, insbesondere spätmittelalterliche Privaturkunden, Zinsbücher, Jahrzeitbücher und Wunderberichte, auch hinsichtlich ihrer Informationen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte und zur ländlichen Gesellschaft des Spätmittelalters auszuwerten.

PETER HERSCHE (Bern) bot einen historiographischen Rückblick über die Forschungsarbeiten zur ländlichen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die ländliche Gesellschaft kein Thema der Geschichtswissenschaft, sondern eher der Volkskunde. Auch die für die deutschsprachige Geschichtsforschung bedeutende ‚Historische Sozialwissenschaft’ brachte kaum Impulse für die Erforschung der ländlichen Gesellschaft vor 1750. Vielmehr waren es die Antipoden dieser Bielefelder Schule, die, beeinflusst von der französischen Ecole des Annales, mit neuen methodischen Ansätzen (Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte, Historische Anthropologie, Historische Demographie, Geschlechtergeschichte) auch die ländliche Gesellschaft in den Blick nahmen und Regionalstudien zur frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft hervorbrachten. Heute ist die ländliche Gesellschaft zumindest als Begriff in der Forschung präsent. Trotzdem schloss Peter Hersche mit einem getrübten Ausblick, nicht zuletzt deshalb, weil die Entwertung der Landwirtschaft innerhalb der Ökonomie mit einer Entwertung der Agrargeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaften einhergehe und sich heutige Studierende aus städtischen Gebieten immer weniger mit dem bäuerlichen Leben identifizieren könnten.

MARTIN STUBER (Bern) widmete sich in seinem Referat den lokalen Ressourcen der ländlichen Gesellschaft nach 1750 am Beispiel des Waldes. Obwohl der Wald bis weit ins 19. Jahrhundert integraler Bestandteil des agrarischen Biotops war, wurde die Forstgeschichte von der allgemeinen Geschichtsforschung bis in die 1990er-Jahre nur beschränkt wahrgenommen. Dazu trug auch die Ausrichtung der älteren Forstgeschichte bei, von der Thesen zur seit dem 18. Jahrhundert herrschenden Holznot und zum Schutz vor Überschwemmungen erwartet wurden. Martin Stuber präsentierte Zugangsweisen der aktuellen Forstgeschichte zu den historischen Formen der gesellschaftlichen Waldnutzung, so z.B. mit Untersuchungen zur Energieversorgung im hölzernen Zeitalter und der Transformation ins fossile Zeitalter oder zur Waldnutzung als Ausgangspunkt sozialer Konflikte. Zur gesellschaftlichen Nutzung des Waldes liefere gerade auch die oral history wichtige Forschungsresultate.

Im Anschluss stellte CLAUDIO BIFFI (Bern) die in Zusammenarbeit mit der SGLG entstandene interaktive Bibliographie iBib vor, die eine umfangreiche Recherchemöglichkeit zu Publikationen aus dem Bereich der ländlichen Gesellschaft bietet (www.ruralhistory.ch/bib).

Das zweite Panel beschäftigte sich mit der ländlichen Gesellschaft in der Volkskunde, Soziologie und Germanistik und wurde moderiert von MARTIN SCHAFFNER (Basel). MARIUS RISI (Chur) befasste sich mit den Aneignungen des Modernen im ländlichen Raum im 20. Jahrhundert. Er betonte, dass die Aneignung des Modernen ein aktiver und kein passiver Prozess sei. Aus der Sicht des Volkskundlers illustrierte er an drei Beispielen, wie in der ländlichen Gesellschaft Elemente des Modernen aufgenommen wurden: am Einzug der Fotografie im traditionellen katholischen Totengedenken, an der Verbreitung der Skiclubbewegung im ländlichen Raum und an den im ländlichen Raum vielfältig übernommenen Elementen des amerikanischen Lebensstils.

Die Soziologin SANDRA CONTZEN (Bern) erläuterte, aus welchen Blickwinkeln die ländliche Soziologie die ländliche Gesellschaft betrachtet und analysiert. Im Zentrum der ländlichen Soziologie stehe die Analyse des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens in der bäuerlichen Gesellschaft. Dabei interessieren die Formen des Zusammenlebens, beispielsweise die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auf den bäuerlichen Betrieben, der soziale Wandel, so u.a. die Frage nach der bäuerlichen Identität an sich, aber auch die gängigen sozialen Normen, z.B. die Generationenkonflikte in bäuerlichen Familien, und die soziale Ungleichheit. Um die institutionelle Verankerung der ländlichen Soziologie in der Schweiz zu fördern, wurde 2007 die Plattform ‚ländliche Soziologie’ gegründet mit dem Ziel, die ländliche Soziologie und deren Beitrag zum Verständnis der ländlichen Gesellschaft im Allgemeinen und der bäuerlichen Gesellschaft im Besonderen besser bekannt zu machen.

Die Literaturwissenschaftler MARIANNE DERRON (Bern) und NORBERT WERNICKE (Bern) widmeten sich der Frage nach Realität und Fiktion im erzählerischen und publizistischen Werk Jeremias Gotthelfs bzw. Albert Bitzius’. Sie warnten davor, Gotthelfs Erzählungen zur Beschreibung von realen Lebenswelten heranzuziehen, ohne den Status des jeweiligen Textes genau überprüft zu haben. Von der älteren Forschung wurde oft übersehen, dass die Detailfülle in Jeremias Gotthelfs Schilderungen des Alltagslebens und der gesellschaftlichen Zusammenhänge eine narrative Funktion habe. Gerade in der Auseinandersetzung mit anderen Textsorten wie den Zeitungsartikeln zeige sich, dass ein sicher vorhandener Realismus bei Gotthelf der Erzählfunktion untergeordnet wird und dass Gotthelf Ironie, Übertreibung, Umkehrung und Stilisierung zur Charakterisierung von seinen Romangestalten benutzte.

Das dritte Panel, moderiert von SANDRO GUZZI (Lausanne), bot eine Gesprächsrunde über den Stellenwert der Geschichte der ländlichen Gesellschaft im europäischen Wissenschaftsbereich. STEFAN BRAKENSIEK (Duisburg-Essen) gab einen Überblick über die neueren Forschungsarbeiten zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland. Er stellte fest, dass die deutsche Forschung im europäischen Vergleich im Bereich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eher abfalle. Erfreulicherweise stelle sich die Situation hinsichtlich der Projektdichte und des wissenschaftlichen Nachwuchses für das späte 18. und 19. Jahrhundert besser dar. Bei Forschungen zum 20. Jahrhundert dominiere weiterhin der Primat der Politik. Stefan Brakensiek konstatierte zwei grundlegende Probleme in der Erforschung der ländlichen Gesellschaft in Deutschland: Zum einen der Verlust von Wissen im Bereich der Demographie und der quantitativen Methoden, zum anderen ein regionales Ungleichgewicht. Grundsätzlich herrsche bei der Erforschung der ländlichen Gesellschaft zudem ein narratives Problem; es müsse nach Antworten auf die Frage gesucht werden, wie sich die Ergebnisse der Detailstudien der Geschichtsforschung in einem erzählerischen Plot fassen liessen.

MARKUS CERMAN (Wien) befasste sich ausgehend von der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Agrargeschichte mit der Frage, ob die Abkehr von malthusianisch-ricardianischen Zugangsweisen, also von Studien, die von der Bevölkerungsentwicklung als wesentlicher Determinante der wirtschaftlichen Entwicklung ausgehen, vollzogen sei. Er kritisierte, dass in der deutschsprachigen Forschung die von Wilhelm Abel geprägte agrarverfassungsgeschichtliche Sichtweise immer noch einen breiten Platz einnehme. Er präsentierte drei mögliche alternative Zugänge, um die von Abel geprägten Vorstellungen über die vorindustrielle ländliche Welt zu überwinden: die Ansätze der new institutional economics, das Studium des Lebensstandards der ländlichen Bevölkerung in langfristiger Perspektive und das Studium der Etablierung und des Wachstums der ländlichen Faktormärkte.

Als Ersatz für den geplanten Beitrag von ERICH LANDSTEINER (Wien) diskutierte SANDRO GUZZI (Lausanne) Probleme, die sich bei der Erforschung der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft in Berggebieten stellen. Zwar verdanke die Forschung zu den alpinen Gebieten viele Kenntnisse der Anthropologie, jedoch sei darauf zu achten, dass die Bäuerinnen und Bauern nicht einfach ‚anthropologisiert’ würden. Zudem herrsche immer noch eine Sichtweise vor, bei der die Bergregionen als ewige Peripherie betrachtet werden. Sandro Guzzi erinnerte daran, dass die Zuschreibungen der Kategorien ‚Modernität’ und ‚Tradition’ oft subjektiv geprägt und die Bergregionen deshalb nicht per se fern von Modernität seien.

Anschliessend präsentierte GERHARD SIEGL (Innsbruck) das Internetprojekt Kultur.Land.(Wirt)schaft – Strategien der Kulturlandschaft der Zukunft (KuLaWi). Das Projekt will die Veränderungen in der Kulturlandschaft in Tirol und Südtirol sichtbar machen und fragt, welche wirtschafts- und sozialhistorischen Prozesse Einfluss auf das Landschaftsbild nehmen, welche Landschaft sich die heutige Gesellschaft wünscht und wie individuelle Strategien der Betriebe mit den gesellschaftlich gewünschten Vorstellungen in Übereinstimmung gebracht werden können.

Stefan Sonderegger zeigte sich im Schlusswort erfreut über den regen interdisziplinären und epochenübergreifenden Austausch; eine längerfristige Zusammenarbeit zwischen HistorikerInnen der verschiedenen Epochen und Vertretern der Volkskunde, Germanistik und Soziologie im Themenbereich der ländlichen Gesellschaft sei in jedem Fall gewinnbringend. Er erinnerte noch einmal daran, dass die Forschungszugänge wesentlich von den verfügbaren Informationen abhängig seien, weshalb die Aufarbeitung von noch unbekanntem Quellenmaterial als Grundlage für die Erforschung der ländlichen Gesellschaft und des ländlichen Raumes gefördert werden sollte.

Evènement: 
Zugänge zur ländlichen Gesellschaft
Organisé par: 
Schweizerische Gesellschaft für ländliche Geschichte (SGLG); Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen
Date de l'événement: 
30.04.2011
Lieu: 
St. Gallen
Langue: 
d
Report type: 
Conference