Die Provenienz ihrer Sammlungen ist für Museen zu einer brisanten Frage geworden. Auch Historikerinnen und Historiker erforschen zunehmend die Herkunftskontexte der Objekte, die Umstände ihrer Beschaffung und Zirkulation sowie ihre Musealisierung. infoclio.ch organisierte am 8. November 2019 in Bern eine Tagung, an der der Stand der Provenienzforschung in der Schweiz und ihre Wechselwirkung mit den Geschichtswissenschaften diskutiert wurde. Dabei wurde auch die Rolle digitaler Informationssysteme für die Aktualität dieser Fragen hervorgehoben.
Moderation: Andreas Kellerhals (Opendata.ch)
Moderation: Anna Schmid (Museum der Kulturen Basel)
Vor einem Jahr wurde der Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr veröffentlicht. Er löste Restitutionen von Museumsobjekten aus, rüttelte die europäischen Museen wach und setzte die Frage nach ihrer Verantwortung als Besitzerinnen von afrikanischem Kulturerbe auf die Tagesordnung. Am Puls dieser brisanten Debatten widmete infoclio.ch, ein Fachportal für Geschichtswissenschaften, seine Jahrestagung der historischen Provenienzforschung in der Schweiz und zielte auf die Frage des Beitrages der Geschichtswissenschaften für die Provenienzforschung ab.1
Die Kunsthistorikerin NOÉMIE ETIENNE (Bern) eröffnete die Tagung und das Panel Aufkommen und Aktualität der Provenienzforschung. Sie formulierte die These, dass die Provenienzforschung innerhalb der Kunstgeschichte um interdisziplinäre Ansätze erweitert werden muss, damit sie zu einer neuen Geschichte der Museumssammlungen führen kann. Laut Etienne sollten dabei folgende drei Ansätze fruchtbar gemacht werden: Erstens erlaubten die material culture studies der Provenienzforschung, sich neben ihrem Ursprungskontext der NS-Raubkunst um das Feld der post colonial studies zu erweitern. Zweitens würden die materiellen Transformationen, beispielsweise durch Restaurationen, auf eine Bedeutungsvielfalt der Objekte verweisen, die sich in Zeit und Raum veränderten. Die Beobachtung der Zirkulation von Objekten mache die Provenienzforschung drittens anschlussfähig an benachbarte Disziplinen wie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte oder die african studies. Eine Reihe von anschaulichen Beispielen für eine neu ausgerichtete Sammlungsgeschichte verdeutlichte Etiennes abschliessenden Appell für eine Ausweitung der Provenienzforschung auf andere Epochen (über die NS-Zeit hinaus), andere Objekte (über Gemälde hinaus) und andere Disziplinen.
Auch NIKOLA DOLL (Bern) betonte den Wandel der Provenienzforschung von einer Überprüfung von Sammlungen auf NS-Raubkunst hin zu einer Ausweitung der Forschung auf Translokationen von Kulturgütern in asymmetrischen, in diesem Fall kolonialen Machtverhältnissen. Die Provenienzforscherin des Berner Kunstmuseums präsentierte theoretische Zugänge, die zu einer Neuordnung von Wissensbeständen in Museen führen können. Da Museen durch Sammlungen, die aus heutiger Sicht in illegitimen Kontexten beschafft worden sind, ins Wanken gebracht werden, bräuchten sie ein neues Selbstverständnis. Dieses könne sich durch eine neue Beziehungsethik zu den Herkunftsländern der Objekte, wie sie Sarr und Savoy in ihrem Restitutionsreport fordern, ausdrücken. Am Beispiel des Legats Cornelius Gurlitt präsentierte die Referentin Museumsdatenbanken als gegenwärtiges Konzept der musealen Provenienzforschung. Dabei betonte sie jedoch auch die Schwierigkeit des wünschenswerten Austausches von Dokumentationen und Daten zwischen Museen und anderen Forschungseinrichtungen, die sich u.a. durch unterschiedliche wissenschaftliche Standards und der Unzugänglichkeit von Daten ergeben.
ESTHER TISA FRANCINI (Zürich) griff in ihrem Vortrag die Verantwortung der Museen für Kooperationen mit den Herkunftsländern bei der Objektforschung auf und sprach sich für eine postkoloniale Provenienzforschung aus. Sie nannte die Chancen, die sich den Museen dabei böten: verdrängte Themen zu setzen, experimentelle Präsentationsweisen auszuloten, kritische Geschichte zu schreiben und den Objekten ein ganzheitliches Narrativ zu geben. Als Grundlage einer „kooperativen Provenienzforschung” schlug Tisa Francini die gemeinsame Forschung an Objektbiographien vor. Verbindend könnten dabei die Fragen nach ursprünglicher Funktion und Bedeutungswandel der Objekte sowie die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure sein. Die Erfahrung des Museums Rietberg zeige aber auch, so die Provenienzforscherin, dass trotz grosser Parallelen in Forschungsfragen ebenso grosse Unterschiede in den Prioritäten der europäischen und afrikanischen Museen auftreten. So könne beispielsweise bei der gemeinsamen Arbeit der Erhalt der Kulturgüter vor ihrer Erforschung stehen.
Die jüngst auf die an der TU Berlin neugeschaffene Professur für digitale Provenienzforschung berufene MEIKE HOPP (Berlin) eröffnete die zweite Session zur Frage, wie die Digitalisierung die Provenienzforschung verändert. Laut Hopp ist die aktuelle Situation in Bezug auf einen institutions- und länderübergreifenden Austausch von objektbezogenen Provenienzdaten untragbar: Individuelle Softwarelösungen verhinderten den Transfer ebenso wie mangelnde personelle Kontinuität der drittmittelfinanzierten Forschungsprojekte, die einen Datenrückfluss erschwerten. Zusätzlich bestünden immer noch hinderliche Berührungsängste der Geisteswissenschaften gegenüber digitalen Lösungen. Zur Beantwortung der grundlegenden Fragen, für wen die Daten erfasst werden und wie sie für diese Gruppe zugänglich sind, schlug sie ein sechsstufiges Verfahren vor, in dem erstens die Plan- und Realisierbarkeit der „digitalen Infrastrukturen“ die Basis darstellt. Digitale Provenienzforschung sei zweitens nicht gleich digitalisierte Provenienzen – die quellenkritische Skepsis der Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler müsse im Prozess integriert sein. Drittens müsse eine strukturierte Herangehensweise die Frage nach dem Ziel beantworten, damit viertens Prototypen von übergreifenden Datenbanken entworfen werden können, die in einem fünften Schritt zu modularen Lösungen führen. Diese könnten, so Hopp sechstens, die begleitende Forschung jedoch niemals ersetzen.
MARCO EICHENBERGER (Bern) von der Anlaufstelle Raubkunst und der Sektion Museen und Sammlungen des Bundesamtes für Kultur (BAK) berichtete von den Aktivitäten des Bundes zur Förderung der Provenienzforschung. Seit 2018 unterstützt die Anlaufstelle beim BAK, die 1999 in der Folge der Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art eingerichtet wurde, neu auch Provenienzforschungsprojekte zum Kulturerbe, das in kolonialem Kontext transloziert wurde. Diese Unterstützung sah in der Periode 2016-2020 „bescheidene Finanzhilfen“ an Museen in Form von Projektbeiträgen im Rahmen von insgesamt zwei Millionen Franken vor. Die Mittel wurden abgerufen und die Ergebnisse der Forschungsprojekte publiziert.2 Eichenberger kündigte an, dass diese Anschubfinanzierungen auch in der kommenden Periode gesprochen werden und verwies abschliessend auf das Glossar und den Leitfaden zur Provenienzforschung, den die Anlaufstelle zur Verfügung stellt.
Die erste Podiumsdiskussion Daten zur Provenienz: Zugang und Vernetzung, die von ANDREAS KELLERHALS (Bern) moderiert wurde, stand ganz im Zeichen der digitalen Provenienzforschung in Museen und Bibliotheken. Die Podiumsteilnehmerinnen beantworteten die Frage nach dem Nutzen von Provenienzdatenbanken in ihren Institutionen einstimmig vielstimmig: Ja, Datenbanken seien essentiell für ihre Arbeit; nein, ein Austausch von Daten sei schwer möglich, da jedes Haus eine eigene, an spezifische Bedürfnisse angepasste „Datenbank-Baustelle“ habe. Neben der Frage der Einheitlichkeit von Datenbanken standen der Zugang, der Datenschutz und die Kommerzialisierung dieser Datenbanken zur Diskussion. Die Diskutierenden waren sich einig, dass Datensätze vergleichbar sein müssen, und dass in begründeten Fällen eine abgestufte Zugänglichkeit der Daten gewährleistet sein müsse, um die Persönlichkeitsrechte zu schützen. Sie sprachen sich zudem gegen eine kommerzielle Nutzung der mit öffentlichen Geldern finanzierten Forschung aus. Etwas zu kurz kam die Frage nach der Zugänglichkeit der Informationen, insbesondere für die Vertreterinnen und Vertreter der Herkunftsländer. Sie sind angewiesen auf transparente Museumsinventare, ohne die sie keine Restitutionsforderungen stellen können.
Der Vortrag von ERICH KELLER und MATTHIEU LEIMGRUBER (Zürich) eröffnete die dritte Session der Tagung Provenienzforschung als Verflechtungsgeschichte. Ihr Vortrag über die Geschichte des Zürcher Kunsthauses, die eng verbandelt ist mit der Geschichte der Sammlung E. G. Bührle, verdeutlichte den hier untrennbaren Zusammenhang von „Kapital, Kunst und Krieg“. Die Sammlungsgeschichte des umstrittenen Rüstungsproduzenten Emil G. Bührle (1890-1956) zeigt die Gleichzeitigkeit von Waffenverkauf und Kunstkauf während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Während die Stiftung Sammlung Emil Bührle die Provenienz der Werke zwar transparent macht, bleiben jedoch Leerstellen zum Kontext des Krieges bestehen, aus dem der Kauf der Werke finanziert wurde. Das von der Stadt und dem Kanton Zürich in Auftrag gegebene Forschungsprojekt Kontextualisierung der Sammlung Bührle soll diese Desiderata befriedigen. Die beiden Historiker machten die Verflechtung des Kunsthauses (und des für 2021 geplanten Erweiterungsbaus) mit der Entwicklung und dem Verkauf von Waffen im Zeitalter der Extreme deutlich. Die Konsequenzen aus ihrer Forschung blieben jedoch unterbelichtet. Zwar wiesen sie auf den Einfluss der Provenienzforschung auf die Wertsteigerung der Objekte hin, jedoch entzogen sie sich als Historiker den Fragen nach der Vermittlung und der Inszenierung dieser Verflechtungsgeschichte.
Die letzten drei Vorträge behandelten konkrete Objekte und ihre spezifischen Herausforderungen für die Provenienzforschung. Anhand einer Fotografie aus dem Algerienkrieg, die die Gewalt französischer Soldaten an einer Frau zeigt, demonstrierte NICOLAS BANCEL (Lausanne) deutlich die Schwierigkeiten einer Provenienzforschung, die den kolonialen Blick spiegelt. Emotionale Debatten um das (Un)Recht der Publikation solcher sensiblen Objekte polarisieren nicht zuletzt aufgrund einer personellen Kontinuität, wobei die „lebendigen Erinnerungen“ die Provenienzforschung erschweren. Hinzu kommen epistemologische Herausforderungen bei der Forschung nach den Identitäten von Fotograf und Fotografierten.
PIERRE-LOUIS BLANCHARD (Luzern) schloss mit seinem Vortrag über die Herausforderung und die Verantwortung beim Sammeln von menschlichen Überresten nahtlos an seinen Vorredner an. Seine theoretischen Überlegungen machten die Differenz zwischen dem geschützten Status menschlicher Überreste als Bestandteil von Brauchtum und Glaube in den Herkunftsländern und ihrer Funktion als wissenschaftliches Ausstellungsobjekt deutlich. In seinen Schlussfolgerungen plädierte Blanchard vor diesem Hintergrund für eine ethisch-bewusste Provenienzforschung. Sie müsse sich für eine Wiederherstellung der individuellen Identitäten einsetzen, die die kulturellen Kontexte beachtet - ohne in Anachronismen zu verfallen -, und die dabei die Vertreterinnen und Vertreter der Herkunftsgesellschaften miteinbezieht.
MELANIE BOEHIs (Johannesburg) Vortrag über südafrikanische botanische Sammlungen erinnerte erneut an die Breite des Felds der Provenienzforschung und der Restitutionsdebatten. Die Bestände der Naturkundemuseen seien bislang merkwürdig abwesend in den Diskussionen um afrikanisches Kulturerbe in europäischen Museen geblieben. Dabei seien afrikanische Pflanzen nicht nur Grundlage für koloniale Wirtschaftssysteme gewesen, sondern hätten auch in Form von Präparaten Taxonomien und damit die europäische Imagination von Naturräumen gestaltet. Digitalisierte Herbarien, wie das JSTOR’s Global Plant, machen Spezies weltweit zugänglich, ohne die Geschichte der Pflanzen als multiple soziale Wissensträger weit über ihre botanische Dimension hinaus zu zeigen. Der Vortrag machte deutlich, dass naturhistorische Objekte, wie botanische Sammlungen, ebenso wie ethnologische Objekte Bestandteile der afrikanischen Identitäten sind und deshalb sowohl in die postkoloniale Provenienzforschung als auch in die Restitutionslisten aufgenommen werden müssen.
Die Moderatorin der abschliessenden Podiumsdiskussion, ANNA SCHMID (Basel), sprach mit Bancel, Blanchard, Boehi und Keller über den Beitrag der Geschichtswissenschaften für eine postkoloniale Provenienzforschung, die Objektgeschichten aus asymmetrischen Machtverhältnissen betrachtet. Die Diskutierenden plädierten für eine interdisziplinäre Verflechtungsgeschichte, die eine eurozentristische Perspektive ablehnt. Eine Orientierung an den material studies ermögliche es, multiperspektivisch Waren oder Geldströmen zu folgen. Dabei solle aus postkolonialer Perspektive das Archiv als Ordnungssystem in die Quellenkritik mit einbezogen werden.
So gelang es der gutbesuchten Tagung den grossen Bogen der Provenienzforschung von ihren Anfängen im NS-Kontext über ihre Wende zur postkolonialen Forschung bis zu ihren Herausforderungen im digitalen Zeitalter zu spannen. Während alle genannten Aspekte informativ präsentiert wurden und die Referierenden die Relevanz der Disziplin betonten, vermisste manch eine Zuhörerin eine kontroverse Diskussion über Museen als (unfreiwillige) öffentliche Archive der Kolonialgeschichte. Müssten die Restitutionsbemühungen nicht konsequenter verfolgt werden? Doch an wen sollen die Objekte zurückgegeben werden und ist ihre ideale konservatorische Lagerung vor Ort gewährleistet? Wo liegen die Prioritäten? Laut Savoy und Sarr in der Rückgabe der materiellen Erinnerung an einen Kontinent, auf dem 60% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt ist und die durch eine Rückgabe Zugang zu ihrer eigenen historischen Kultur, Kreativität und Religiosität erhält.3
Session 1: Aufkommen und Aktualität der Provenienzforschung
Noémie Etienne (Universität Bern) – Provenance et histoire de l’art: vers une nouvelle histoire des collections ?
Nikola Doll (Kunstmuseum Bern) – Die Neuordnung von Wissensbeständen durch Provenienzforschung
Esther Tisa Francini (Museum Rietberg, Zürich) – Provenienzfragen am Museum Rietberg: Sammlungsgeschichte und Kooperationsprojekte mit den Herkunftsländern der Kunstwerke
Session 2: Provenienzforschung im digitalen Zeitalter
Meike Hopp (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München) – Digitale Infrastrukturen für Provenienzforschung: Entwicklungen, Desiderate, Bedürfnisse
Marco Eichenberger (Bundesamt für Kultur, Anlaufstelle Raubkunst) – Die Aktivitäten des Bundes zur Förderung der Provenienzforschung von Museen und Sammlungen
Podiumsdiskussion: Daten zur Provenienz: Zugang und Vernetzung
Auf dem Podium: Nikola Doll, Esther Tisa Francini, Meike Hopp, Simone Netthoevel (Nationalbibliothek Bern)
Moderation: Andreas Kellerhals (Opendata.ch)
Session 3: Provenienzforschung als Verflechtungsgeschichte?
Erich Keller & Matthieu Leimgruber (Universität Zürich) – Krieg, Kapital und Kunst(haus): die Sammlung E.G. Bührle
Nicolas Bancel (Université de Lausanne) – Défis et enjeux de l’utilisation des sources d’origine coloniale
Pierre-Louis Blanchard (Universität Luzern) – Menschliche Überreste als Sammelobjekte: An der Grenze zwischen Objekt und Subjekt
Melanie Boehi (University of the Witwatersrand, Johannesburg) – Refiguring Botanical Collections: History, Knowledge And Social Justice
Podiumsdiskussion: Provenienz – der Beitrag der Geschichtswissenschaften?
Auf dem Podium: Nicolas Bancel, Pierre-Louis Blanchard, Melanie Boehi, Erich Keller
Moderation: Anna Schmid (Museum der Kulturen Basel)